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Zahlreiche Unternehmen in Deutschland haben sich bereits entschieden, ihr operatives Geschäft unter einer ausländischen Rechtsform zu betreiben. Teilweise erfolgte dieser Wechsel der Jurisdiktion im Rahmen eines Börsengangs im Ausland, um den Anforderungen der dortigen Kapitalmärkte zu genügen – teilweise aber auch, um dem als sperrig empfundenen deutschen Aktienrecht zu entfliehen. Dieser Trend könnte sich durch die anstehende Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie (Richtlinie (EU) 2019/2121 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2019) noch verstärken. Es ist somit an der Zeit, über eine Flexibilisierung des deutschen Aktienrechts nachzudenken, damit die Aktiengesellschaft im europäischen Vergleich nicht ins Hintertreffen gerät.

Die Plattform Life Sciences hat in Zusammenarbeit mit AfU Research einen „Basket“ aus 30 deutschen Biotechnologieunternehmen zusammengestellt, deren Aktien an einer in- oder ausländischen Börse notieren (GoingPublic Magazin 2/2022). Bei deren Betrachtung fällt die große Anzahl ausländischer Rechtsformen ins Auge: 14 der 30 Unternehmen haben eine ausländische Rechtsform, davon neun jene der niederländische N.V.

Motive für eine ausländische Rechtsform

Oft hängt die Wahl der Rechtsform mit einer Notierung an einer ausländischen Börse zusammen. So erlaubt die N.V. eine direkte Börsennotierung der Anteile in den USA – so geschehen z.B. bei der InflaRx N.V. oder der CENTOGENE N.V. Allerdings wäre auch ein mittelbares Listing einer deutschen AG oder SE über sogenannte American Depositary Receipts (ADR) möglich – wie bei der BioNTech SE. Dies kann also nicht der alleinige Grund sein.

Die N.V. bietet aus Sicht des Unternehmens und vieler Investoren weitere Vorteile gegenüber einer deutschen Rechtsform. Sie erlaubt eine monistische Struktur mit einem einheitlichen Verwaltungsrat, der ausländischen Investoren vertrauter ist und eine direktere Kontrolle des Managements erlaubt. Wichtiger noch: Die Regelungen zur Aufnahme von Eigenkapital durch Ausgabe neuer Aktien sind z.B. im niederländischen oder luxemburgischen Recht flexibler ausgestaltet als im deutschen Recht. So ist das genehmigte Kapital einer deutschen AG auf 50% des Grundkapitals beschränkt, wohingegen nach niederländischem Recht die Ermächtigung der Verwaltung zur Ausgabe neuer Aktien grundsätzlich keinen umfangsmäßigen Beschränkungen unterliegt. Auch sind die Regelungen zum Bezugsrecht in den Niederlanden nicht so streng wie in Deutschland. Schließlich stellt sich die Abwicklung von Kapitalerhöhungen deutlich einfacher dar, da die Eintragung einer Kapitalerhöhung in das Handelsregister nicht konstitutiv ist, sondern die Aktien mit Beschluss der Verwaltung ausgegeben und damit unmittelbar lieferbar sind. Gerade in volatilen Märkten ist eine schnelle Abwicklung von Kapitalmaßnahmen essenziell.

Verstärkter Wettbewerb der Rechtsordnungen

Diese Vorteile waren beispielsweise der Grund für den grenzüberschreitenden Formwechsel der zu diesem Zeitpunkt bereits börsennotierten Vivoryon Therapeutics AG in eine N.V. durch Sitzverlegung nach Amsterdam – rechtlich möglich aufgrund der Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit. Die Umwandlungsrichtlinie sieht diese Möglichkeit nun ebenfalls vor, sodass nach Umsetzung in das nationale Recht diese Möglichkeit auch gesetzlich geregelt ist, was für weitere Rechtssicherheit sorgt, und daher für interessierte Unternehmen attraktiver wird.

Die Umsetzung der Umwandlungsrichtlinie ins nationale Recht wird daher für einen verstärkten Wettbewerb der europäischen Gesellschaftsformen sorgen. Deutsche Wachstumsunternehmen mit einem hohen Eigenkapitalbedarf sehen sich bereits jetzt einem deutlichen Wettbewerbsnachteil bei der Kapitalaufnahme ausgesetzt.

Risiken aus deutscher Sicht

Verstärkte Abwanderungstendenzen hätten zur Folge, dass auch erhaltenswerte Ziele des deutschen Aktienrechts nicht mehr erreicht werden könnten. Beispielsweise würden Hauptversammlungen im Ausland stattfinden, sodass von einer Aktionärsdemokratie in unserem Sinne nicht mehr die Rede sein kann.

Schlimmstenfalls könnten sich Unternehmen gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit für einen Sitz im Ausland entscheiden, sofern die übrigen Standortbedingungen als attraktiv eingeschätzt werden, insbesondere der Zugang zu (Wagnis-)Kapital einfacher erscheint. Dies würde den Wegzug von Know-how und Talent aus Deutschland fördern. Auch das Bundeswirtschaftsministerium hält diese Entwicklung in seinem Entwurf für eine Start-up-Strategie der Bundesregierung von Anfang Juni mit Blick auf „die technologische Souveränität, die Innovationskraft und die Sicherung von Arbeitsplätzen“ für bedenklich.

Handlungsbedarf für den Gesetzgeber

Soll die AG auch für kapitalmarktorientierte Wachstumsunternehmen attraktiv bleiben, sollte der Gesetzgeber neben der Mobilisierung von (Wagnis-)Kapital auch unser Gesellschaftsrecht in den Blick nehmen:

Es wäre z.B. zu prüfen, ob die Vorschriften zum Verwässerungsschutz, insbesondere die Regelungen zum Bezugsrechtsausschluss, aber auch zu Kapitalaufbringung und -erhaltung noch zeitgemäß sind. Gerade beim Bezugsrechtsauschluss ließe sich mit geringen Eingriffen schnell Boden gutmachen. Der bezweckte Schutz der Aktionäre vor Verwässerung ihres Stimmrechts geht gerade bei Wachstumsunternehmen ins Leere – denn den Investoren ist bewusst, dass weitere Eigenkapitalmaßnahmen für die Entwicklung des Unternehmens zwingend sind. Sie nehmen also eine Stimmrechtsverwässerung in Kauf, da sie ihr ursprüngliches Investment nur in Notfällen aufstocken wollen. Der Schutz vor der vermögensmäßigen Verwässerung, d.h. die Ausgabe neuer Aktien unter ihrem „Wert“, wird im deutschen Recht gewährleistet, indem bei einem Bezugsrechtsausschluss die Aktien gemäß § 255 Abs. 2 AktG immer zum intrinsischen Wert ausgegeben werden müssen – wobei der Börsenkurs die Untergrenze bildet. Dies stellt Wachstumsunternehmen vor enorme Herausforderungen, da ein verlässlicher wahrer Unternehmenswert mangels historischer Umsätze oder gar Gewinne nur schwer zu ermitteln ist und neue Investoren meist einen Abschlag auf den Börsenkurs fordern. Eine Erleichterung bietet § 186 Abs. 3 Satz 4 AktG, der zwar einen geringen Abschlag auf den Börsenkurs erlaubt, im Gegenzug die Kapitalmaßnahme aber auf 10% des Grundkapitals beschränkt. Als Alternative verbleibt den Unternehmen daher lediglich die Durchführung eines Bezugsangebots, das aber bei einem Umfang von über 8 Mio. EUR eine Prospektpflicht auslöst und damit eine schnelle, flexible Kapitalaufnahme verhindert.

Fazit

Bei der Eigenkapitalaufnahme ist dringend mehr Flexibilität erforderlich. Kapitalerhöhungen müssen schneller, kostengünstiger und mit geringerem administrativem und rechtlichem Aufwand möglich sein. Als einen ersten Schritt könnte der Gesetzgeber den zulässigen Umfang eines erleichterten Bezugsrechtsausschlusses auf 20% innerhalb von zwölf Monaten erhöhen. Damit bestünde auch Gleichlauf zur Prospektfreiheit in Bezug auf die Zulassung neuer Aktien gemäß Art. 1 (5) a) der EU-Prospektverordnung.

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Autor/Autorin

Dr. Lars-Gerrit Lüßmann

Dr. Lars-Gerrit Lüßmann ist Head des Bereichs Corporate / Capital Markets bei Taylor Wessing.

Ulrich Reers

Ulrich Reers ist Partner bei Taylor Wessing.