Eine Hauptversammlung ist ein gesetzliches Organ einer AG, KGaA oder SE. Sie fasst Beschlüsse in allen von Gesetz oder Satzung bestimmten Fällen. Punkt! Oder? Abseits der rein juristisch-funktionalen Betrachtung bietet die Hauptversammlung Aktionären auch eine einzigartige Gelegenheit für Kommunikation, Austausch und Feedback an die anderen Organe. Wer die Zusammenkunft der Aktionäre modernisieren will, muss zahlreiche Aspekte und Interessen berücksichtigen.

Aus Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung hat der deutsche Gesetzgeber in enormer Geschwindigkeit das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht (COVGesMG) erarbeitet und am 27. März erlassen – u.a. in Art. 2 mit dem Ziel, Unternehmen, Vereine und Genossenschaften verschiedener Rechtsformen in die Lage zu versetzen, angesichts der coronabedingten Beschränkung von Zusammenkünften erforderliche Beschlüsse zu fassen und handlungsfähig zu bleiben. Dabei wurde Aktiengesellschaften die Möglichkeit geschaffen, ihre Hauptversammlung ohne vorherige Satzungsänderung virtuell abzuhalten, d.h. ohne die physische Anwesenheit der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten.

Modernisierung tut not

Die Bundesjustizministerin hatte jüngst angekündigt, das Gesetz bis Ende 2021 zu verlängern (Stand 6.10.2020), was heftige Diskussionen über die zukünftige Wahrung der Aktionärsrechte auslöste. In der Gesamtschau stellt sich darüber hinaus die Frage, ob die aktuellen Erfahrungen langfristig zu einer generellen Überarbeitung des

Kay Bommer, Geschäftsführer,
DIRK – Deutscher Investor Relations Verband

Hauptversammlungsformats führen werden. „Es ist zu wünschen, dass sich im Zuge der jetzigen Diskussion nicht nur die Frage materialisiert, ob digital oder physisch – sondern wie kann man die Hauptversammlung grundlegend ändern, um sie an moderne Zeiten anzupassen, was dringend notwendig ist“, bemerkt dazu Kay Bommer, Geschäftsführer des DIRK – Deutscher Investor Relations Verband.

Dr. Christina E. Bannier, Professorin für Banking & Finance an der Justus-LiebigUniversität Gießen, glaubt nicht, dass die Digitalisierung die Funktion der Hauptversammlung grundsätzlich ändern wird. Diese ist und bleibt das Organ zur Information und Willensbildung der Aktionäre über wesentliche Entscheidungen, die das Unternehmen betreffen. „Es ist aber gut vorstellbar, dass das neue Format der Hauptversammlung einen Effekt dahin gehend haben wird, wie diese Funktion zukünftig ‚gelebt‘ wird. Das heißt insbesondere, wie stark sich zukünftig die Aktionäre engagieren und dazu (auch vorab) mit dem Unternehmen befassen, aber auch, wie stark sich die Verwaltung des Unternehmens mit den Informations wünschen der Aktionäre auseinandersetzt. Da es durch das digitale Format beispielsweise einfacher wird, der Verwaltung Fragen zu stellen – man muss ja

Dr. Christina E. Bannier, Professorin für Banking &
Finance an der Justus-Liebig-Universität Gießen

schließlich nicht mehr anreisen –, werden vermutlich mehr Aktionäre diese Möglichkeit nutzen.“

 

Wandel vom Auskunftsrecht zum Austauschrecht

Bisher beschränkt sich die Auseinandersetzung der Aktionäre mit der Gesellschaft zumeist auf ihr gesetzlich verbrieftes Auskunftsrecht. „Wenn die Verantwortlichen in der Legislative, aber auch die Vertreter der Unternehmen oder die Aktionärsvereinigungen, sich auf ein zukünftiges Format einigen, das den echten Austausch ermöglicht, und dabei die Rechte der Aktionäre gewahrt bleiben, hat die Hauptversammlung als drittes Organ der Gesellschaft auch virtuell eine Zukunft“, schätzt Thessa Roderig. Die langjährige Investor-Relations-Leiterin ist heute Geschäftsführerin von HILFREICH IR und betreut mehrere Emittenten.

Für Dr. Joachim Fleing, Head of Investor Relations bei der 3U HOLDING AG, zeichnet sich bereits ein tiefer gehender Wandel ab. Er und sein Team experimentieren schon jetzt mit neuen Formen der Aktionärseinbindung und weiteren Kommunikationskanälen: „Wir bei 3U haben das Format ‚virtuelle HV‘ genutzt und haben z.B. die Aufzeichnungen der Vorstandsrede und der Beantwortung der Aktionärsfragen bei YouTube hochgeladen und bieten so Information und Transparenz über den Tag hinaus. Damit verbunden war und ist die Aufforderung an Aktionäre und Öffentlichkeit, dem IR-Team Nachfragen und Beiträge zu unterbreiten. Die HV als solche wird durch diese neue Option unserer Meinung nach

Dr. Joachim Fleing, Head of Investor Relations,
3U HOLDING AG

tendenziell aufgewertet.“ Dabei will die 3U HOLDING nicht stehen bleiben: „Sofern sich abzeichnet, dass die Regelungen des COVID-19-Gesetzes verlängert werden, bleibt uns noch Zeit, um die neuen Möglichkeiten weiter auszuloten.“