Krisenkommunikation ist in Coronazeiten das „New Normal“ – wie haben sich die reportenden Unternehmen in dieser Beziehung geschlagen? Zudem hat der Wirecard-Skandal die Branche aufgerüttelt, nunmehr wird die BaFin mehr in die Verantwortung gezogen. Das GoingPublic Magazin im Interview mit Prof. Dr. Henning Zülch, Ökonomieprofessor der HHL Leipzig Graduate School of Management.
GoingPublic: Herr Prof. Dr. Zülch, der Wirecard-Skandal hat gezeigt, wie leicht Betrüger Bilanzen und Finanzberichte manipulieren konnten, ohne dass es selbst Experten bemerkt haben. War die Finanzaufsicht in Deutschland zu lasch?
Prof. Dr. Zülch: Eigentlich nicht. Wir hatten in Deutschland ein sehr stabiles, auch
empirisch belegtes institutionelles Rahmenwerk mit den Wirtschaftsprüfern auf der einen und dem 2005 etablierten zweistufigen Bilanzkontrollsystem auf der anderen
Seite. Dieses System war effektiv.
Unternehmen und Marktteilnehmer schätzten den Wert dieser Institution. Der Fall Wirecard mit seiner erheblichen kriminellen Energie ist ein Einzelfall. Richtig ist allerdings, dieses System weiter zu schärfen, um es noch robuster zu machen.
Das am 1. Juli in Kraft getretene Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG) soll Bilanzskandale wie bei Wirecard fortan verhindern. Welche Rolle wird die BaFin künftig spielen?
Die hybride Bilanzkontrolle mit der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) als Einstieg ist damit obsolet. Der Vorteil dieses Systems bestand darin, dass zunächst die DPR als private Instanz auf Augenhöhe mit den Unternehmen agierte und erst in Ausnahme- oder Sonderfällen die BaFin als staatliche „Abschreckungsinstanz“ eingreifen konnte. Jetzt ist die BaFin direkt für die DPR zuständig.
Sie kann künftig eigenständig forensische Prüfungen durchführen, wenn der Verdacht auf betrügerische Handlungen besteht. Überdies erhält die BaFin ein Prüfungsrecht gegenüber allen kapitalmarktorientierten Unternehmen und darf auch die Öffentlichkeit früher über ihr
Vorgehen informieren. Dies ist eine komplette Neuausrichtung der deutschen Bilanzkontrolle aus einer staatlichen Hand, ähnlich wie in den USA. Ob das den Finanzplatz Deutschland stärken wird, hängt von den Handlungen der BaFin ab.
COVID-19 hat die Geschäftsbeziehungen weltweit eingeschränkt. Was hat sich bei den Investor Relations und Finanzinfos dadurch verändert?
Krisenkommunikation ist zum „New Normal“ geworden. Der Lagebericht und eine kohärente IR-Berichterstattung sind die Erfolgsfaktoren in der Pandemie. Konkret bedeutet das: Die Informationsbereiche Management und Prospectives sind für Anleger besonders wichtig. Im Management geht es darum, das Geschäftsmodell umfassend darzustellen und Auswirkungen der Umweltbedingungen darauf verständlich zu machen. Bei den Prospectives stehen Strategieberichterstattung sowie Auflistung der Risiken und Chancen
im Fokus. Vor allem strategische Erläuterungen machen in Zukunft den Unterschied aus, denn Unternehmen, die eine klare und integrierte Strategie nachweisen können, die auch Umsetzung und Kontrolle berücksichtigt, sind zukunftssicher. Das sind die Erfahrungen unseres jährlichen Wettbewerbs.
Online-Hauptversammlungen stehen in der Kritik, da sie die Rechte der Aktionäre stark einschränken. Sind diese Vorwürfe berechtigt?
Fangen wir mit dem Positiven an: Eine virtuelle HV erspart Aktionären Zeit und ermöglicht eine effiziente Ausübung der Aktionärsrechte. Zeit und Kosten können auch aufseiten der Unternehmen eingespart werden. Die Erfahrungen von 2020 und 2021 zeigen allerdings, dass massive Defizite bei den Beteiligungs- und Kontrollrechten der Aktionäre existieren.
Betroffen sind vor allem Klein- und Minderheitsaktionäre. Konkret geht es darum, dass wesentliche Aktionärsrechte eingeengt werden, z.B. das Frage- und Anfechtungsrecht
oder die Klarheit und Rechtssicherheit wegen des Risikos von Übertragungsstörungen. Sollten die HVs in dieser Form fortgesetzt werden, verkommen sie zu reinen Informationsveranstaltungen.
Wie lassen sich Online-Hauptversammlungen transparenter gestalten?
Die Zukunftslösung ist eine hybride Form, also ein Mix aus Online- und Offlineveranstaltung, die den Dialog zwischen Aktionären und Unternehmen fördert. So
werden die positiven Elemente einer virtuellen HV erhalten und die Defizite durch erweiterte Nachfrageoptionen der teilnehmenden Gruppen weitgehend eliminiert.
Bei Ihrem letztjährigen Wettbewerb haben Sie erstmals seit dem Start im Jahr 2014 die Note „sehr gut“ vergeben: Warum ist die Deutsche Telekom beim Reporting „exzellent und absolut vorbildlich“?
Unser Wettbewerb bezieht neben Reporting auch die kohärente IR-Kommunikation
und die Kapitalmarktbewertung in die Notenvergabe ein. In allen drei Kategorien erhielt die Deutsche Telekom Spitzenwerte. Im Reportingbereich profitierte die Telekom von ihrer ausführlichen Darstellung der Ertrags- und Vermögenslage sowie der Prognose im Geschäftsbericht.
Auch die Nachhaltigkeitsberichterstattung schaffte es in die Spitzengruppe. Zudem
überzeugt der Konzern im Interim Reporting durch seine ausführliche Halbjahres- und Quartalsberichterstattung. Alles in allem war die Telekom 2020 ein Best-Practice-Unternehmen, wie man es sich für Anleger wünscht.
Unser Wettbewerb bezieht neben Reporting auch die kohärente IR-Kommunikation und die
Kapitalmarktbewertung in die Notenvergabe ein.
Was waren beim „Investors’ Darling 2020“ typische Schwachstellen der IR-Arbeit deutscher Unternehmen?
2020 war die Geschäftsberichterstattung natürlich geprägt von der aufflammenden Coronapandemie mit den verschiedenen Lockdowns und wirtschaftlichen Einschränkungen.
Unternehmen und IR-Abteilungen fiel es schwer, über die Auswirkungen auf das Geschäftsmodell und die künftige finanzielle Lage zu berichten.
Das war eindeutig die größte Schwachstelle im vergangenen Jahr. Hier gab es keine wesentlichen Unterschiede zwischen Unternehmen in DAX, MDAX oder SDAX. Auffallend ist, dass die Analysten trotzdem die Kommunikationsarbeit der Unternehmen für gut befunden haben, den Unternehmen also einen Vertrauensvorschuss gewährten. Eine weitere
Schwachstelle ist die mangelnde Bereitschaft, die Digitalisierung umzusetzen. So legen immer noch viele Unternehmen Wert auf ein PDF als Basismedium und nicht auf einen Online-Geschäftsbericht.
Welche Tendenzen sehen Sie aktuell bei Geschäftsberichten?
Die Kommunikation rund um die Coronakrise hat sich 2021 zum Topthema in den Geschäftsberichten etabliert. Unternehmen berichten fast in jedem Abschnitt darüber
– vor allem über die Folgen auf Financials und Prospectives. Das ist gut für die Investoren und eine Weiterentwicklung zum Vorjahr. Zudem verbinden immer mehr Unternehmen die Themen Umwelt und Soziales mit den Auswirkungen der Pandemie.
Nicht zuletzt sehen wir seit zwei Jahren, dass sich auch die Qualität der Nachhaltigkeitsberichterstattung deutlich verbessert hat.
Und wo sind bei den Druckwerken die größten Baustellen?
Druckexemplare sind eindeutig ein Auslaufmodell. Sie werden aufgrund der Nachhaltigkeitsdebatte in vielen Unternehmen infrage gestellt. Hinzu kommt der Kostenfaktor beim Druck tausender Geschäftsberichte. Und nicht zu vergessen ist die
fehlende Interaktivität gegenüber den digitalen Formaten. Deshalb sind viele Unternehmen
bereits auf eine Online-first-Strategie umgestiegen.
Ihr „Investors’ Darling 2021“ wird zwar erst im September gekürt – können Sie trotzdem schon einige Trends von diesem Jahr verraten?
Wir sehen drei wesentliche Trends: Krise, Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Sie dürften auch in der nächsten Berichtssaison relevant sein. Die Coronakrise wird Unternehmen und ihre Kapitalmarktkommunikation noch einige Zeit beschäftigen, aber nicht das Topthema bleiben. Nachhaltige und digitale Kapitalmarktkommunikation werden immer mehr an
Bedeutung gewinnen und sich miteinander verzahnen – gerade vor dem Hintergrund
der künftigen regulatorischen Anforderungen durch die CSRD.
Stichwort Wettbewerbe – die Anzahl solcher Veranstaltungen nimmt weiter ab. Ist die alleinige Fokussierung auf Druckwerke noch zeitgemäß?
Die Druckexemplare mit ihren Schwächen sind ein Auslaufmodell. Wo das noch nicht
geschehen ist, müssen Unternehmen eine Online-first-Strategie entwickeln. Dabei kann der Schwerpunkt auf einem interaktiven PDF nur der Übergang zu einer vollständigen digitalen Berichterstattung sein. Darunter verstehe ich einen komplett designten und integrierten Online-Geschäftsbericht mit digitalen Inhalten wie Videos und interaktiven Grafiken sowie
der Verknüpfung zu sozialen Medien.
Wegen Nullzinsen setzen Anleger wieder stärker auf Aktien. Woran können Sie eine transparente IR-Arbeit erkennen?
Transparente Kommunikation heißt kohärente Kommunikation. Es darf keinen Unterschied
machen, in welches Medium ich von einem Unternehmen schaue – überall sollte ich die gleichen Informationen finden. Zudem müssen diese einfach und verständlich und nicht durch verklausulierte Formulierungen schwer zugänglich sein. Transparenz durch Kohärenz
und Verständlichkeit ist die Zauberformel.
Herr Prof. Dr. Zülch, vielen Dank, dass Sie uns wieder Rede und Antwort gestanden
haben!
Das Interview führte Thomas Müncher.
ZUM INTERVIEWPARTNER
Prof. Dr. Henning Zülch ist Inhaber des Lehrstuhls Accounting & Auditing an der HHL Leipzig Graduate School of Management.