Bildnachweis: Evotec SE.

Zelltherapien sollten allen Patienten zur Verfügung stehen, die von dieser Modalität profitieren können. Dafür müssen wir das Feld nicht nur in der Tiefe, sondern auch in der Breite systematisch erschließen – mit neuen Zelltypen, innovativen ­Devices, Modifikationen für bessere Verträglichkeit und standardisierten Herstellungsverfahren. Deshalb führt kein Weg an induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSC)[1] vorbei – und an neuen Partnerschaften.

Die Fortschritte im Bereich der Zelltherapie sind groß. Vor etwa sechs Jahren wurde die erste autologe Zelltherapie von der FDA zugelassen, seit 2018 gibt es sie auch in Deutschland. Bei der autologen Zelltherapie wird Material, häufig Blut, vom Patienten entnommen, ­außerhalb des Körpers aufbereitet und dem Patienten wieder verabreicht. Vor nicht ganz einem Jahr kam mit der Zulassung der ersten allogenen Zelltherapie der nächste Durchbruch. Therapeutische ­Zellen von einem Spender anstatt vom ­Patienten abzuleiten ist ein großer Schritt hin zu besserer Verfügbarkeit. Tausende weitere Zelltherapien sind in der Entwicklung, fast im Monatstakt kommt eine ­Zulassung hinzu.[2]

Laborneubau auf Evotecs Manfred Eigen Campus in Hamburg: Im "iPSC Lighthouse" entstehen ab 2024 zusätzliche Kapazitäten für die Forschung und Entwicklung mit induzierten pluripotenten Stammzellen. Illustration: © Heine Architekten
Laborneubau auf Evotecs Manfred Eigen Campus in Hamburg: Im „iPSC Lighthouse“ entstehen ab 2024 zusätzliche Kapazitäten für die Forschung und Entwicklung mit induzierten pluripotenten Stammzellen. Illustration: © Heine Architekten

Trotzdem stehen wir noch ganz am ­Anfang auf dem Weg, das wirkliche Potenzial dieser Modalität zu entfalten. Autologe Zelltherapien werden vor der Verabreichung in einem mehrere Wochen dauernden Prozess für jeden einzelnen Patienten personalisiert – und kosten deshalb ab etwa 0,5 Mio. EUR aufwärts. Dabei bedeutet die allogene Ableitung aus Spender­zellen noch lange nicht, dass ­dieser Wirkstoff in großer Menge bereit­gestellt werden kann. Tatsächlich ist jede Produktionscharge spenderspezifisch und häufig müssen – ähnlich wie bei einer Organ­transplantation – für den Erfolg der ­Behandlung auch die Gewebemerkmale zwischen Spender und Empfänger passen.

Dr. Werner Lanthaler ist seit März 2009 Vorstandsvorsitzender von Evotec. Copyright: Evotec SE
Dr. Werner Lanthaler ist seit März 2009 Vorstandsvorsitzender von Evotec. Copyright: Evotec SE

Dennoch markieren die ersten Zulassungen wichtige Meilensteine, die Zelltherapie als therapeutische Modalität aus dem individuellen Heilversuch heraus ­etabliert haben. Aber sie zeigen auch: Die personalisierte Form der Zelltherapie ist nicht skalierbar und wird deshalb kleinen Patientenpopulationen vorbehalten bleiben. Daran werden auch neue Vergütungssysteme nichts ändern, bei denen der sechs-, ­häufig auch siebenstellige Betrag für die Behandlung nur fällig wird, wenn die ­Therapie anschlägt.

Autolog, allogen, iPSC

Dabei kann Zelltherapie viel mehr – für viele mehr. Die Transplantation funktionierender Zellen bietet als regenerativer Ansatz Potenzial weit über den onkologischen Bereich hinaus. Auch mit Beta­zellen (Diabetes), Photorezeptor- oder ­Retina-Pigment-Epithelzellen (Ophthalmologie) und Kardiomyozyten (Herzinsuffizienz) ergeben sich durch Zelltherapie spannende Möglichkeiten, mit denen für viele dieser Krankheitsbilder erstmals eine funktionelle Heilung greifbar wird.

Von der Gesellschaft finanziell geschulterte Medizin muss auch der Gesellschaft in der Breite zur Verfügung stehen. Daher muss Zelltherapie „entpersonalisiert“, also der individuelle Patient aus dem ­Herstellungsprozess entfernt werden. Erst wenn sie eine größere Menge, Tausende oder Zehntausende Dosen in konsistenter Qualität herstellen und „off the shelf“ ­verschiedenen Patienten verabreichen können, wird Zelltherapie skalierbar – und für ein Gesundheitssystem leistbar.

Mit induzierten pluripotenten Stammzellen verfügen wir heute bereits über die dafür benötigte Schlüsseltechnologie: ethisch abgeleitete, weil in das Stammzellstadium zurückprogrammierte Zellen, die sich theoretisch in jeden menschlichen Zelltyp differenzieren und dann als Therapeutikum einsetzen lassen.

Kompetenzen ergänzen

Zelltherapien sind einer Organtransplantation nicht unähnlich: Genau wie fremdes Gewebe werden auch transplantierte Zellen vom Immunsystem als körperfremd erkannt und haben eine Abstoßungsreaktion zur Folge, der mit Immunsuppressiva entgegengewirkt werden muss. Doch auch für diese Hürde existieren bereits technische Lösungen, damit iPSC-Zelltherapie für ­Patienten langfristig wirksam und verträglich ist. Die Therapie kann beispielsweise mit einem Device verabreicht werden, das die therapeutischen Zellen vom Immunsystem abschirmt. Alternativ können die therapeutischen Zellen selbst dahin gehend verändert werden, dass das Immunsystem des Patienten sie nicht mehr als fremd ­erkennt.

Der Evotec Cell Accelerator in Modena, Italien: seit 2022 Evotecs Produktionsanlage für die cGMP-Herstellung von Zelltherapien im klinischen Maßstab. Copyright: Evotec SE
Der Evotec Cell Accelerator in Modena, Italien: seit 2022 Evotecs Produktionsanlage für die cGMP-Herstellung von Zelltherapien im klinischen Maßstab. Copyright: Evotec SE

Die Entwicklung einer „Off-the-shelf-Zelltherapie“ bis zur Marktreife erfordert Expertise aus unterschiedlichen Bereichen – daher sind Partnerschaften kritisch für den Erfolg. Neben einer eigenen Plattform für die Zelllinienentwicklung und GMP-Herstellung ist Evotec deshalb auch in verschiedene Partnerschaften eingebunden. So werden Evotecs Betazellen in Verbindung mit dem sogenannten Cell Pouch System von Sernova entwickelt, einem ­kanadischen Biotechnologieunternehmen. Diese Kombination könnte bereits im Jahr 2024 in die klinische Erprobung starten.

Unabhängig von der Partnerschaft mit Sernova hat Evotec eine Technologie vom ebenfalls kanadischen Unternehmen panCELLa einlizenziert, mit der sich ­Zellen vor dem Immunsystem des Patienten verstecken, aber trotzdem als sichere Therapie verabreichen lassen. Zudem ­bestehen weitere Partnerschaften mit Pharmaunternehmen über Zelltypen und Indikationen hinweg.

Erfolgsgeschichte (neu) schreiben

1982 war mit Humaninsulin schon einmal ein Diabeteswirkstoff der Wegbereiter für eine neue Modalität: Biologika. Auch heute sollte es wieder unser Anspruch sein, ­Erfolge in der Spitzentechnologie bestmöglich in die Breite zu übersetzen. Vielleicht ist es diesmal eine iPSC-Betazelltherapie, die einer medizinischen Innovation zum Durchbruch verhilft.

Personalisierte Zelltherapieanwendungen erhalten aufgrund einzelner Erfolge zu Recht viel Beachtung – diese Erfolge dürfen uns jedoch nicht den Blick auf eine breitere Nutzbarkeit der Modalität verstellen. Auch in dieser Hinsicht darf man auf die Nationale Strategie für Gen- und ­Zelltherapien gespannt sein, die vom Bundesforschungsministerium initiiert sowie vom Berlin Institute of Health (BIH) ent­wickelt wird und im Frühjahr 2024 ­vorgestellt werden soll.

Mit den richtigen Schwerpunkten kann das Jahr 2024 dann für Zelltherapie das sein, was das Jahr 1990 für das Internet war. Wenn eine Technologie einmal ­etabliert ist, geht es nur noch um den ­Zugang. Übertragen auf den Patienten­zugang bedeutet das, dass wir das Feld systematisch in seiner ganzen Breite bestellen müssen, die diese therapeutische Modalität bereithält: Zelltypen, Medical Devices, Modifikationen, standardisierte Herstellungsverfahren.

Komplementäre Partnerschaften sind ein Muss, um Netzwerkeffekte zu nutzen – und einen frühen Vorsprung auch ins Ziel zu fahren.

[1] Induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen oder auch iPSC) sind pluripotente Stammzellen, die direkt aus adulten Zellen generiert werden können. Die iPSC-Technologie wurde im Labor von Shinya Yamanaka in Kyoto, Japan, entdeckt, dem es im Jahr 2006 gelang, mit einer Kombination aus vier spezifischen Genen kodiert mit Transkriptionsfaktoren adulte Zellen in pluripotente Stammzellen umzuwandeln. Im Jahr 2012 erhielt er zusammen mit Sir John Gurdon den Nobelpreis für diese Entdeckung. Der Einsatz von pluripotenten Stammzellen ist sehr vielversprechend im Bereich der regenerativen Medizin. Da sie sich unendlich vermehren lassen und in jegliche anderen Zelltypen des Körpers umgewandelt werden können (z.B. Neuronen, Herz-, Pankreas- und Leberzellen), stellen sie eine Ressource als Ersatz für durch Krankheit beschädigte Zellen dar. Evotecs iPSC-Infrastruktur zählt zu den umfangreichsten und ausgereiftesten iPSC-Plattformen der Branche. Evotec hat ihre iPSC-Plattform in den vergangenen Jahren mit der Zielsetzung entwickelt, iPSC-basiertes Wirkstoffscreening so in den industriellen Maßstab zu übertragen, dass es den höchsten industriellen Standards an Durchsatz, Reproduzierbarkeit und Robustheit entspricht, und iPSC-basierte Zellen auch für Zelltherapieansätze nutzbar zu machen.

[2] American Society of Cell & Gene Therapies (2023): Gene, Cell, + RNA Therapy Landscape Report Q2 2023; asgct-citeline-q2-2023-report.aspx

Der Artikel ist in der Plattform Life Sciences-Ausgabe „25 Jahre Biotechnologie – What’s next?“ erschienen:

https://www.goingpublic.de/wp-content/uploads/epaper/epaper-Life-Sciences-3-2023/#46

 

Autor/Autorin

Dr. Werner Lanthaler

Dr. Werner Lanthaler ist seit März 2009 Vorstandsvorsitzender von Evotec. Während seiner Amtszeit entwickelte sich das Unternehmen von einem spezialisierten Wirkstoffentwickler zu einem hochinnovativen Forschungs- und Entwicklungs­dienst­leister mit mehr als 5.000 Mitarbeitern an 17 Standorten weltweit.