GoingPublic: Herr Boschan, der ATX Total Return erreichte im Frühjahr einen neuen Höchststand, die Handelszahlen steigen ebenfalls, liegen aber noch unter Corona-Niveau. Welche Entwicklung erwarten Sie bei den Umsätzen?

Boschan: Der Nationalindex inkl. Dividenden bewegt sich weiterhin auf Rekordniveau und stellte heuer bereits vielfach neue Höchstwerte auf, zuletzt am 2. September mit 8.706,77 Punkten. Die Umsätze befinden sich durchaus wieder auf dem Niveau vor der Pandemie. Das letzte Quartal war aufgrund großer Bewegungen im Immobiliensektor sogar außerordentlich stark. Abgesehen von diesem Sondereffekt muss man aber sagen: Es besteht noch Potenzial. Wir haben leider weiterhin Krieg auf europäischem Boden und fordernde wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Die Investoren insbesondere aus den USA agieren weiterhin zurückhaltend.

Abb. 1:Entwicklung des ATX Total Return

Quelle: stock3.com

Für das laufende Jahr wartet man in Österreich noch auf ein IPO eines hiesigen Unternehmens. Erwarten Sie in diesem Jahr noch ein Listing, gibt es eine Art Pipeline?

Es gibt sehr wohl interessierte Unternehmen. Die letzten Jahre haben aber eben gezeigt, wie unvorhersehbare Ereignisse etwa die Pandemie oder geopolitische Konflikte den Markt stark beeinflussen und sich somit auf die IPO-Aktivität auswirken. Ein Mix aus Konjunkturaufschwung und sinkenden Zinsen sollte die Börsengänge aber anziehen lassen. Um die offenen IPO-Zeitfenster optimal nutzen zu können, müssen potenzielle Kandidaten jedenfalls schon gut vorbereitet sein. Die Wiener Börse betreut Unternehmen bereits vor dem Listing umfassend und vermittelt in Workshops wichtiges Know-how rund um den Börsengang.

In Österreich hat sich in den vergangenen Jahren eine aktive Start-up-Szene mit erfolgreichen Unternehmen etabliert. Lassen sich in diesem Segment Börsenkandidaten in spe ausmachen?

Wer Start-up sagt, muss auch Börse sagen. Die Eigenkapitalfinanzierung über die Börse ist seit jeher ein Turbo für Innovation, steht entlang des Funding Escalators also der verschiedenen Finanzierungsstufen aber wohlgemerkt am oberen Ende. Wir setzen hier vielerlei Aktivitäten um und positionieren uns als frühzeitiger Ansprechpartner, um Unternehmen aufzuzeigen, wie der Weg an die Börse sein kann. Mit dem direct market plus bieten wir zudem ein Einstiegssegment an, das KMU mit geringeren Zugangsvoraussetzungen und Folgepflichten bei gleichzeitig hoher Visibilität einen einfachen Zugang zum Kapitalmarkt ermöglicht.

Unvermeidliche Frage in der aktuellen Zeit: Wie beeinflusst KI den Börsenhan-del? Welche Einsatzmöglichkeiten sehen Sie derzeit?

Als IT- und Infrastrukturunternehmen beobachten wir neue Technologien sehr genau. KI wird in der Finanzindustrie, im Kundenkontakt und zunehmend in der Analyse eingesetzt. Welche Rolle KI im tatsächlichen Handel langfristig spielen wird, wird sich zeigen. Für den Handel aus technischer Sicht gibt es derzeit keine schnellere Technologie, die mehr Nutzen stiftet als unser gegenwärtiges System.

Abb. 2: Internationale Investoren sind normalerweise stark an der Wiener Börse engagiert derzeit trübt unter anderem der andauernde russische Überfall auf die Ukraine die Investitionsbereitschaft

 

 

Quelle: Wiener Börse AG

Ihre Organisation engagiert sich in der Finanzbildung junger Menschen. Welches Zwischenfazit ziehen Sie? An welcher Stelle müsste viel mehr für Aktienkultur getan werden?

Die von der nunmehr letzten Bundesregierung initiierte Nationale Finanzbildungsstrategie war ein erster wichtiger Schritt. Finanz- und Wirtschaftsbildung muss einen größeren Platz in den Lehrplänen der Schulen einnehmen und der Bevölkerung so breitflächig zugänglich sein. Fehlendes Finanzwissen ist weiterhin der Hauptgrund dafür, dass grundsätzlich interessierte Menschen von einer Wertpapierinvestition absehen. Es gibt also noch viel zu tun. Dazu muss ich auch sagen: Die Frage der Finanzbildung nimmt nur in jenen Ländern einen gewichtigen Platz ein, in denen das Potenzial des Kapitalmarkts grundsätzlich zu wenig genutzt wird. In Ländern wie Schweden, Norwegen oder den Niederlanden, wo die Pensionssysteme und damit die Altersvorsorge weit besser auf die Kapitalmärkte abgestimmt sind, setzt sich die Bevölkerung deutlich mehr mit der eigenen finanziellen Zukunft auseinander.

Sehr geehrter Herr Boschan, vielen Dank für diese interessanten Einblicke.
Das Interview führte Stefan Preuß.

ZUM INTERVIEWPARTNER

Christoph Boschan

Christoph Boschan ist seit 2016 Vorstandsvorsitzender der Börsengruppe Wien und Prag. Er startete seine Berufslaufbahn 1999 als Wertpapierhändler bei Tradegate. Vor seinem Wechsel an die Wiener Börse war er unter anderem Joint-CEO bei der Börse Stuttgart sowie Vorstand der EUWAX.

Autor/Autorin

Stefan Preuß
Redaktionsleiter at  | Website

Stefan Preuß arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Redakteur im Kapitalmarktumfeld. Der gelernte Tageszeitungsredakteur sammelte zudem Erfahrung als Investor Relations Manager. Der Redaktion der GoingPublic Media AG gehört er als ständiger Mitarbeiter mit den Schwerpunktthemen IPOs, Vermögensanlage und Nachfolgelösungen an. Er betreut als Redaktionsleiter die jährlichen Spezialausgaben "Mitarbeiterbeteiligung" sowie "M&A Insurance".