Obwohl die Coronakrise auch österreichischen Unternehmen zusetzt, hat sich die Wiener Börse in diesem Jahr behauptet. Bisher haben zwei Kapitalerhöhungen stattgefunden: Immofinanz und S Immo nutzten den Kapitalmarkt, um sich frisches Geld zu besorgen. Beim Aktienumsatz ging es kräftig nach oben. Zudem könnte 2020 zum Rekordjahr für Bond-Listings werden, und der Börsenplatz Wien versucht, mit neuen Ideen weitere Privatanleger zu gewinnen. Von Thomas Müncher

Die Pandemie hat die Börsen und Unternehmen weltweit belastet. Der Leitindex ATX (Performanceindex – inkl. Dividenden), der die 20 wertvollsten und am meisten gehandelten Unternehmen des Landes bündelt, büßte in den ersten neun Monaten des Jahres rund ein Drittel ein. Das Jahreshoch am 2. Januar lag bei 6.208, das Jahrestief am 18. März sogar nur bei 3.135,05 Punkten – also rund der Hälfte. Seit diesem Tiefststand und dem gemeinsamen Aufruf börsennotierter Unternehmen und wichtiger Stakeholder an Investoren, sich nicht von österreichischen Aktien abzuwenden, gelang dem Wiener Barometer immerhin eine gewisse Erholung.

Anleger brauchen langen Atem

Nach dem Börsenabsturz im März wandten sich börsennotierte Unternehmen in einem offenen Brief an heimische und internationale Investoren. Sie erinnerten nochmals an die Stärken rot-weiß-roter Firmen: stabile Planung und Dividendenpolitik, vorbildliches Krisenmanagement sowie internationale Marktchancen und Forschungsaktivitäten. Christoph Boschan, Chef der Wiener Börse, rät ebenfalls zu einer langfristigen Perspektive: „Es wäre ein Fehler, sich jetzt von österreichischen Aktien abzuwenden.“ Laut Analysten werde der ATX weit unter seinem Buchwert gehandelt. Heimo Scheuch, CEO von Wienerberger, sieht auch keinen Widerspruch zwischen Produktionstätigkeit und Coronavorschriften: „Jeder achte Euro der heimischen Wertschöpfung wird durch börsennotierte Unternehmen erwirtschaftet. Die heimischen Leitbetriebe sind exzellent aufgestellt.“

ATX unter Wert gehandelt

Die Aktienkurse spiegeln indes eingetrübte Aussichten für die Volkswirtschaft der Alpenrepublik wider. So prognostiziert die Österreichische Nationalbank (OeNB), dass das Bruttoinlandsprodukt im Gesamtjahr 2020 real um 7,2% schrumpfen wird – bereits 2021 soll es aber wieder ein Wachstum von 4,9% geben. Für 2022 gehen die Nationalbanker von einem Plus von knapp 3% aus. Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute des Landes erwarten für dieses Jahr einen ähnlichen Rückgang, rechnen aber für 2021 mit einem etwas stärkeren Aufschwung.

Vor diesem Hintergrund könnten die günstigen Bewertungen des ATX ein wichtiges Kaufargument sein. Laut US-Finanzdienst Bloomberg bringen es dessen Mitglieder auf Basis der 2020er-Gewinne im Schnitt auf ein Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 15,9. Erholen sich Wirtschaft und Erträge wie geplant, sinkt das KGV 2021 auf günstige 10,6. Die Aufholjagd der Austro-AGs könnte nicht zuletzt von Privatanlegern unterstützt werden. Laut Österreichischem Verband Financial Planners gaben 92% der Berater an, dass sich ihre Kunden seit der Coronakrise verstärkt für Aktienanlagen interessieren.

Rückstand des ATX zu anderen Indizes

Auch auf Fünf- oder Zehnjahressicht hinkt das Wiener Börsenbarometer z.B. dem DAX deutlich hinterher – und während Aktienindizes aus den USA oder Deutschland die Krise schon weitgehend abgehakt haben, liegt der ATX noch fast 40% unter seinem Höchstkurs. Gründe für diese „Underperformance“: Da die Konzerne aus dem ATX größtenteils aus traditionellen Branchen mit bewährten Geschäftsmodellen kommen, gilt er als „konservativer Index“, der eher rohstofflastig und zyklisch sowie von der Konjunktur stark abhängig ist. Außerdem sind mehr Value-Aktien enthalten, die Anleger mit günstigen Aktienpreisen und konstanten, relativ hohen Dividendenzahlungen beeindrucken.

Value-Aktien im ATX stärker vertreten

„Der ATX dient vor allem mittel- bis langfristigen Anlegern, die auf eine stabile, langfristige Dividendenstrategie setzen“, erläutert Peter Brezinschek, Chefanalyst der Raiffeisen Bank International. Warum der ATX in manchen Jahren schlechter performt als DAX, Dow Jones oder Nikkei, zeigt einmal mehr die Coronakrise: „Die zyklische Zusammensetzung lässt ihn aktuell stärker sinken, sorgt jedoch in anderen Marktphasen für überproportionalen Aufschwung“, meint auch Boschan. Während hier nur der Leiterplattenhersteller AT&S eine Growth-Aktie ist, sind in Deutschland und den USA weitaus mehr solcher Titel vertreten. Growth-Aktien versprechen ein höheres Wachstum, zahlen aber oft keine Dividenden. Auch in der Krise sind sie beliebter, da viele Value-Aktien wegen finanzieller Probleme ihre Dividendenzahlungen verringern oder gar einstellen.

Förderung neuer Aktienkultur


Durch die Coronakrise steigt zudem der Informationsbedarf. Bereits seit 1991 engagiert sich die Wiener Börse in der Finanzbildung und Förderung einer neuen Aktienkultur. Das Seminarangebot der Wiener Börse Akademie – einer Kooperation mit dem WIFI Management Forum des WIFI Wien – wurde Anfang April auf Webinare umgestellt: Über 1.100 Teilnehmer nutzten das onlinetaugliche und kostenfreie Bildungsangebot. Von September bis zum Jahresende finden 39 Termine wieder als Präsenzseminare statt. Auch das Informationsangebot auf wienerboerse.at verzeichnete im März und April Rekordzugriffe sowie eine hohe Verweildauer von sechs Minuten. Neben den Kursinformationen waren aktuelle Termininfos und Unternehmensupdates gefragt. „In Krisenzeiten gilt unser Leitspruch ‚Bildung ist der beste Anlegerschutz‘ umso mehr“, freut sich Boschan über die positive Resonanz. „Trotz des volatilen Umfelds führt an Aktien kein Weg vorbei: Einfache Anlagegrundsätze minimieren die Schwankungen.“

Politische Initiativen notwendig

Damit der österreichische Kapitalmarkt intensiver genutzt wird, empfehlen heimische Börsenexperten auch weitere politische Fördermaßnahmen: „Wir haben eine historische Resistenz gegenüber dem Finanzmarkt“, kritisiert Brezinschek. So könnten z.B. Erleichterungen beim Kapitalmarktzugang für Hidden Champions eine sinnvolle Ergänzung für die heimische Börse sein. Boschan verspricht sich von diesen Maßnahmen positive Impulse: Wiedereinführung einer Behaltefrist, ab der Kursgewinne von Aktien steuerfrei sind, die Stärkung von Finanz- und Wirtschaftsbildung in der Bevölkerung sowie Erleichterungen für Firmen bei der Kapitalbeschaffung.

Steigendes Interesse am Wertpapierkauf (Umfrage Aktienforum in %)

Steuerfreiheit für langfristige Anleger

Die KESt-Befreiung bei einer Haltefrist von über einem Jahr würde die Aktienbeteiligung der Bevölkerung wieder beflügeln. „Investieren muss erleichtert werden, um privates Kapital für Gesellschaft und Wirtschaft nutzbar zu machen“, argumentiert Boschan. „Langfristige Anleger sollten deshalb bereits versteuertes Arbeitseinkommen steuerfrei einsetzen können.“ Für die Zukunft des Landes kann das aus Sicht des Börsenchefs entscheidend sein – denn für eine Überwindung der Krise werden staatliche Milliardenpakete allein nicht ausreichen. Eine starke private Wirtschaft, Innovationen und ein funktionierender Kapitalmarkt könnten jedoch den Unterschied machen.

Mehr Eigenkapital für rot-weiß-rote Unternehmen

Auch während der Coronakrise sieht Börsenvorstand Boschan den österreichischen Kapitalmarkt gut aufgestellt: „Dass mehr Unternehmen die heimische Börse nutzen, wird für künftiges Wachstum entscheidend sein.“ Während aktuell noch Kredite im Vordergrund stehen, werde bald die Stunde des Eigenkapitals schlagen. „Der Weg aus der Krise führt langfristig nur über Rekapitalisierung“, ist sich Boschan sicher. Damit es für Österreichs Wirtschaft schneller vorangeht, müsse jedoch die Regierung ihre Wirtschaftspolitik fortsetzen, die sie schon vor Corona begonnen hatte.

Handel an der Wiener Börse 1.–3. Quartal 2020

Kräftiges Plus bei Aktienumsätzen

In dem global von Unsicherheiten geprägten ersten neun Monaten 2020 zeigte sich die Wiener Börse trotzdem sehr dynamisch: Der Aktienumsatz kletterte auf 52 Mrd. EUR – ein sattes Plus von 10,46% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Der durchschnittliche Monatsumsatz liegt bei 5,8 Mrd. EUR. Die drei stärksten Handelstage waren die zwei Quartalsverfallstage 19. Juni (Umsatz: 915 Mio. EUR) und 20. März (777 Mio. EUR), gefolgt vom 9. März (745 Mio. EUR). Die Rangliste der fünf umsatzstärksten heimischen Aktien: Erste Group Bank (9,1 Mrd. EUR) vor OMV (7,1 Mrd. EUR) und Raiffeisen Bank International (4,3 Mrd. EUR); auf Platz vier und fünf voestalpine (4,1 Mrd. EUR) und VERBUND (3,3 Mrd. EUR).

Anleihelistings auf der Überholspur

Von einer überaus positiven Seite zeigt sich 2020 erneut der Bond-Markt. Zahlreiche Unternehmen nutzen das niedrige Zinsniveau, um sich günstig am Kapitalmarkt zu refinanzieren. Das stärkste Wachstum findet sich im internationalen Bereich. Hinsichtlich Anzahl und Volumen neuer Unternehmensanleihen rechnet die Wiener Börse mit einem Rekordjahr. Ende September hatte sie bereits mehr als 1.900 Anleihen mit einem Gesamtvolumen von rund 112 Mrd. EUR an der Börse eingeführt. 78% dieser Bonds wurden von ausländischen Emittenten begeben. Damit avanciert Wien zu einem der am schnellsten wachsenden Börsenplätze für Anleiheemittenten in Europa.

Neue Initiativen beleben zusätzlich

Weitere Aktivitäten wie der Handel an Feiertagen und die Erweiterung internationaler Handelssegmente bescheren der Wiener Börse zusätzliches Volumen. Die Handelsmöglichkeit an österreichischen Feiertagen wird gut genutzt: 2020 wurde bisher an drei österreichischen Feiertagen gehandelt und damit ein zusätzlicher Umsatz von 649 Mio. EUR verzeichnet. Auch am 8. Dezember (Mariä Empfängnis) soll die Infrastruktur des heimischen Marktplatzes – vom Handel bis zur Abwicklung – für Anleger verfügbar sein. 2021 will die Wiener Börse an fünf heimischen Feiertagen geöffnet haben.

 global market der Wiener Börse

 „global market“ weiter ausgebaut

Das zweitgrößte Segment, der 2017 gegründete „global market“, erzielte bis Ende September einen Umsatz von 2,63 Mrd. EUR – ein Plus von 74% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Zudem wurde dieses internationale Segment um 43 europäische Aktien erweitert. Anleger internationaler Wertpapiere finden hier Unternehmen verschiedenster Branchen wie die Mehrländerbörse Euronext, den großen Hoffnungsträger für die Entwicklung eines COVID-19-Impfstoffs CureVac, den französischen Luxusgüterhersteller Christian Dior oder den globalen Experten im Wasser- und Abfallsektor SUEZ. Insgesamt bietet dieses Segment mittlerweile eine Auswahl von 718 Wertpapieren aus 26 Ländern an. „Private Anleger sollten bei der Aktienanlage eine langfristige Strategie verfolgen und breit streuen“, rät Boschan. Welche Vorteile bietet der „global market“?: „International gefragte Wertpapiere können über die Heimatbörse zu Inlandskonditionen und gewohnten Börsenzeiten gehandelt werden“, so Boschan.

Fazit

Seit Jahren setzt der Infrastrukturanbieter und Börsenplatz Wien wesentliche Neuerungen und ein breiteres Produktangebot um und stärkt somit seine nationale und internationale Wahrnehmung. Die Wiener Börse ist mit allen relevanten Finanzzentren vernetzt: Mit über 80% stammt ein Großteil der Börsenumsätze von internationalen Marktteilnehmern. Ein breites Informationsangebot und regelmäßige Roadshows lenken zusätzliche Aufmerksamkeit der heimischen und ausländischen Investoren auf österreichische Unternehmen.

Wie im restlichen Europa war auch der IPO-Markt in Österreich vom Coronavirus lahmgelegt. Trotz schwieriger Bedingungen zeigte sich die Wiener Börse jedoch dynamisch: Neben der coronabedingten Volatilität sorgen Initiativen wie der Handel an Feiertagen und die Erweiterung des internationalen Segments für ein kräftiges Umsatzplus im Handelsvolumen. Somit sind die Voraussetzungen erneut verbessert worden, damit auch wieder mehr Privatanleger ihr Geld langfristig in Aktien verorten. Den Herausforderungen der nächsten Jahre – Coronakrise, Abbau von Arbeitsplätzen, Klimawandel, Digitalisierung oder Industrie 4.0 – begegnet der Finanzplatz Österreich jedenfalls zuversichtlich. Nicht zuletzt wegen der stabilen Wirtschaft mit soliden Mittelständlern und internationalen Nischenplayern.

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Autor/Autorin

Thomas Müncher

Thomas Müncher ist Wirtschafts- und Finanzjournalist und freier Autor beim GoingPublic Magazin.