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Dr. Martin Steinbach, Partner & Head of IPO and Listing Services bei Ernst & Young (EY) Wirtschaftsprüfungsgesellschaft erklärt im Interview mit Going Public, warum er trotz widriger Umstände an den Börsen im ersten Quartal optimistisch bleibt, welche Alternativen Newcomer haben, die ihr Listing verschieben müssen und warum ihm mögliche Zinserhöhungen derzeit keine Sorgen bereiten.

GoingPublic: Zunächst die Pandemie, nun der Ukrainekrieg und die damit verbundene höhere Volatilität an den Märkten haben das Börsenstreben von Unternehmen in Europa erheblich eingebremst, wie auch Ihre neueste EY-Studie zum IPO-Geschehen im ersten Quartal 2022 es erläutert. Wie sehen Sie die Märkte perspektivisch?

Dr. Martin Steinbach: Ja, der Aufwärtstrend und das positive Momentum aus dem Rekord-IPO-Jahr 2021 fand in der Tat im Februar ein jähes Ende. Am stärksten hat es den US-Markt getroffen, aber auch in Europa gab es deutlich weniger Börsengänge; in Deutschland waren es nur vier. Aber die Pipeline an Börsenkandidaten ist nach wie vor gut gefüllt – daher könnte es in der zweiten Jahreshälfte 2022 auch wieder deutlich aktiver werden. Entscheidend für das Timing und die Anzahl an Börsengängen wird sein, ob es zu einer Beruhigung der geopolitischen Spannungen kommt und einem damit verbundenen Rückgang der Volatilität, idealerweise auf einen Indexlevel unter 20 im VDAX.

Noch sieht es aber nicht nach Beruhigung aus, der Krieg in der Ukraine eskaliert eher. Was raten Sie Unternehmenslenkern, die in der Warteschleife verharren und womöglich zweifeln, ob sie ihren IPO-Plan überhaupt noch umsetzen sollen?

Steinbach: Es gibt im Prinzip drei Dinge, die man in Erwägung zieht, wenn sich ein Börsengang wegen externer Ereignisse länger als ein paar Wochen verschiebt: zunächst eine Brückenfinanzierung, entweder als klassisches Darlehen oder man begibt eine Anleihe oder bittet die bisher im Unternehmen engagierten Venture-Capital-Fonds um eine weitere Anschlussfinanzierung. Alternativ kann man auch externe, neue Investoren hineinnehmen vor dem Börsengang. Die dritte Überlegung ist, anstelle eines klassischen IPOs über eine sogenannte SPAC an die Börse zu gehen. Es gibt etliche solcher Börsenmäntel, weltweit etwa 700 mit einer Finanzierungspower von 166 Mrd. USD, die derzeit notiert sind. Sie haben viel Geld über die Börse eingesammelt und warten nur darauf, dieses in zukunftsträchtige, noch nicht notierte Unternehmen zu investieren. Aus Sicht der Zielunternehmen muss man sich ein solches Listing über eine SPAC natürlich gut überlegen: Es ist zwar der schnellere Weg an die Börse, dauert etwa sechs Monate statt eineinhalb bis zwei Jahre in der Vorbereitung – kostet aber im Zweifel auch etwas Rendite, weil man sich mit der SPAC ja einigen muss.

Dr. Martin Steinbach, Head of IPO and Listing Services bei Ernst & Young, Copyright: Ernst & Young

Spätestens wann sollte man über die genannten Möglichkeiten nachdenken?

Steinbach: Etwa zwei Wochen vor dem geplanten Bookbuilding und vor der sogenannten Intention to Float sollte man den Plan B intensiv besprechen, wenn sich abzeichnet, dass es in dem geplanten Zeitrahmen nicht klappen wird. Bei einer Verschiebung muss man immer die Effekte auf notwendige Finanzberichte im Wertpapierprospekt im Blick haben. Der Punkt ist die Comfort-Letter-Regel: Finanzzahlen im Börsenprospekt dürfen nicht älter als 135 Tage sein, sonst müssen z.B. unterjährige Finanzberichte des aktuellen und des Vorjahres eingearbeitet werden. Somit bleiben Unternehmen technisch fünf Zeitfenster im Jahr, die durch die Sommerpause und Weihnachten unterbrochen sind, an denen sie an die Börse gehen können.

Hat die Dauer des Pre-IPO-Status, also der Vorbereitungsphase, erfahrungsgemäß eine Auswirkung auf die Preisfindung?

Steinbach: Nicht unbedingt eine negative. Wenn die grundsätzliche Entscheidung für ein IPO gefallen ist, weil ein Unternehmen börsenreif ist und gute Wachstumschancen hat, die es über das Listing finanzieren will, dann sorgt eine Verzögerung aufgrund externer Schocks wie derzeit teilweise sogar für eine Höherbewertung, denn das Unternehmen wächst schließlich in der Pre-IPO-Phase im Zweifel weiter – und die letzte Pre-IPO-Bewertung ist ja meist die unterste Bewertungsgrenze. Das heißt: Bei schnell wachsenden Unternehmen verschiebt sich mit dem Börsengang auch der Diskontierungszeitraum. Es erhöhen sich derweil Umsatz, erwartete Ergebniszahlen und damit auch der Unternehmenswert, gemessen an den entsprechenden Bewertungskennziffern anderer Unternehmen derselben Branche. Wenn sich die Multiples nach unten entwickeln, z.B., weil die jeweilige Branche sehr stark vom steigenden Ölpreis betroffen ist, dann sieht es natürlich schlechter aus.

Aus welchen Branchen kommen denn die Unternehmen hauptsächlich, die in den Startlöchern zum Börsengang stehen?

Steinbach: Wir haben auch mittelfristig eine sehr robuste Pipeline, bedingt durch die großen Transformationsprozesse weltweit, eben verbunden mit den entsprechenden Wachstumserwartungen. Da ist zunächst die digitale Transformation, die sich im Zuge der Pandemie beschleunigt hat und alle Bereiche des Lebens betrifft. Dann haben wir den Trend zur E-Mobilität, verbunden mit der Transformation der Autoindustrie. Dahinter, in der zweiten großen Transformation, gibt es Geschäftsmodelle, die sektorübergreifend auf Environmental, Social and Governance (ESG) abzielen, also auf ein Wirtschaften nach umwelt- und klimafreundlichen sowie sozial ausgewogenen Kriterien, die zunehmend zum verpflichtenden Maßstab der Unternehmensführung werden. Auch diese Vorgaben sorgen für immer mehr innovative Geschäftsmodelle, die irgendwann an die Börse drängen.

Das ist eine sehr optimistische Sichtweise.

Steinbach: Mit gutem Grund: Insgesamt werden in all diesen Bereichen gerade viele sogenannte Unicorns geboren, also Unternehmen mit einer Bewertung von mehr als 1 Mrd. USD. 2021 stieg die Zahl der Start-ups mit Milliardenbewertung auch in Deutschland signifikant, von sechs auf 24. Diese Unternehmen bilden ein vitales Ökosystem – für viele von ihnen ist als nächster Schritt der Gang an die Börse eine valide Option, und schon diese Aussicht allein wird zusätzlich für einen Zustrom weiterer Börsenkandidaten sorgen.

Wie verhielt sich die Investorenschaft in der Pandemie und wie reagiert sie seit Ausbruch des Kriegs? Bestehen da Unterschiede in den Prioritäten zwischen institutionellen Anlegern aus Asien, US-Amerika oder Europa?

Steinbach: Die Investorenschaft für deutsche IPOs ist bisher immer ähnlich strukturiert, eine Änderung haben wir auf die kurze Sicht noch nicht verzeichnet: Derzeit stammen meist bis zu 20% aus dem deutschsprachigen Raum, 30% bis 40% aus dem angelsächsischen Raum, allein 20% sind US-Investoren. Die anderen kommen gesammelt aus den vielen anderen Ländern Europas. Vor allem im Hinblick auf unsere dringend erforderliche Reform des Altersvorsorgesystems in Deutschland wäre es natürlich wünschenswert, wenn der Anteil heimischer Pensionskassen und -fonds wie in den nordischen Ländern generell und auch in diesem Segment steigt. Was asiatische Anleger betrifft, so sind diese häufig über Fonds aus London investiert.

Einige Zentralbanken haben ja bereits Zinsschritte unternommen und andere wie die EZB kündigen zumindest mittelfristig Leitzinserhöhungen an. Ist das eine Gefahr für den IPO-Markt?

Steinbach: Bei den Banken haben wir momentan doch noch Negativzinsen! Die amerikanische Federal Reserve hat zwar Zinserhöhungen angekündigt und es gab die ersten Reaktionen darauf, vor allem die Kurse an der Techbörse Nasdaq haben eine Verschnaufpause eingelegt. Aber wir leben immer noch in einem extremen Niedrigzinsumfeld, und das wird sich auf mittlere Sicht voraussichtlich nicht ändern, weil man nach der Pandemie die Erholung der Wirtschaft nicht mit höheren positiven Zinsen lähmen möchte. In den vergangenen Jahren hat die Anzahl börsennotierter Unternehmen in Deutschland in der Breite abgenommen. Einige Marktbeobachter machen hierfür eine zunehmende Bürokratisierung und die zusätzlichen Berichtspflichten verantwortlich.

Die Zahlen haben Sie auch in der ersten Ausgabe des GoingPublic-Magazins (Download) hervorragend dargestellt. In den vergangenen Jahren haben wir vor allem eine Bereinigung gesehen. Bei Unternehmen mit einem Free Float von 8%, 9% lohnt sich eine Börsenpräsenz in der Regel schlicht nicht mehr. Die neuen Delisting-Regeln haben solchen Unternehmen den Rückzug von der Börse erleichtert, das haben einige Unternehmen genutzt. Zudem gab es einen Rückgang bei den Dual Listings, vor allem einige asiatische Unternehmen haben sich bei uns zurückgezogen. In Zeiten, in denen Aktien in Nanosekunden gehandelt werden können und die Preisunterschiede schwinden, ist der Aufwand eines Zweitlistings nicht mehr so lohnend. Darüber hinaus sehen wir, dass immer weniger kleinere Unternehmen den Gang an die Börse wagen. Hier liegt der Grund tatsächlich häufig in der zunehmenden Regulierung.

Die EU-Kommission hat jüngst eine internationale Konsultation durchgeführt, möchte die Kapitalmarktregularien vereinheitlichen, auch ein einheitlicher EU-Listing-Act wird in Aussicht gestellt. Könnte das die Attraktivität der Kapitalmärkte wieder erhöhen?

Steinbach: Mit dem Antritt der neuen Bundesregierung in Berlin haben viele Branchenverbände Ideen eingereicht, wie man den Kapitalmarkt in Deutschland und Europa weiterentwickeln kann. Es bleibt abzuwarten, was hier in welcher Reihenfolge aufgegriffen wird.

Herr Steinbach, besten Dank für diese interessanten Einblicke ins IPO-Geschehen in diesen turbulenten Zeiten.

Das Interview führte Simone Boehringer.

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