Bildnachweis: Afyren, AFYREN, stock3.com.
Die Bioökonomie gilt als einer der vielversprechendsten Zukunftsmärkte. Doch der Weg von der Laboridee zum industriellen Maßstab ist voller Hürden – von Technologieentscheidungen über Finanzierungsfragen bis hin zu verlässlichen Partnerschaften. Das französische Unternehmen AFYREN hat diese Gratwanderung geschafft. Wir sprachen mit CEO Nicolas Sordet darüber, welche Entscheidungen und Erfahrungen am Ende den Unterschied machen. Von Urs Moesenfechtel
Robustheit vor Raffinesse
Am Anfang stand die Frage: Mit welcher Technologie lässt sich die Idee einer biobasierten Chemie überhaupt auf industrielle Füße stellen? AFYREN entschied sich früh gegen den Weg bloßer wissenschaftlicher Raffinesse. „Aus strategischer Sicht war Robustheit für uns wichtiger als elegantere oder komplexere, aber fragile Technologien“, so Sordet. Konkret hieß das: kein Einsatz gentechnisch veränderter Mikroorganismen. „Das machte den Prozess einfacher zu skalieren und zugleich kosteneffizienter.“
Wir haben nie etwas verkauft, das wir nicht schon bewiesen hatten.
Meilensteine – Schritt für Schritt statt großer Versprechen
Die aktuellen Finanzdaten zeigen, dass dieser Kurs aufgeht: Im ersten Halbjahr 2025 lag der Cashburn bei rund 6 Mio. EUR – für ein Unternehmen im Hochlauf eine überschaubare Größe. Gleichzeitig verfügte AFYREN zum 30. Juni über 27,5 Mio. EUR an liquiden Mitteln, während die Nettoverschuldung mit 2,7 Mio. EUR sehr niedrig blieb. Zwar stand unter dem Strich noch ein Verlust von –6,9 Mio. EUR, doch die Perspektive ist klar: Mit dem stabilen Betrieb der ersten kommerziellen Bioraffinerie AFYREN NEOXY, die 2022 im lothringischen Carling-Saint-Avold gebaut und 2025 in den industriellen Dauerbetrieb überführt wurde, wird das Geschäftsmodell erstmals im großen Maßstab wirksam.
Schon im laufenden Jahr erwartet das Unternehmen die ersten signifikanten Produktionsumsätze aus dieser Anlage – und innerhalb weniger Quartale soll AFYREN NEOXY so weit hochgefahren sein, dass sie einen positiven EBITDA-Beitrag liefert. Sordet betont dabei ausdrücklich, dass dieser vorsichtige Kurs bewusst gewählt war: „Wir haben nie etwas verkauft, das wir nicht schon bewiesen hatten. Investoren durch übertriebene Versprechungen zu locken, wäre unklug gewesen.“ Deshalb setzte AFYREN auf eine Finanzierung in Etappen: Neues Kapital gab es erst nach klar nachgewiesenen Meilensteinen. Weil das Team zugleich bewusst konservativ plante, keine übertriebenen Versprechungen machte und den Dialog auch in schwierigen Zeiten aufrechterhielt, blieben die Erwartungen realistisch – und genau das sicherte Vertrauen und Geduld bei Investoren. Ebenso wichtig war ein disziplinierter Umgang mit Kapital: „Wir wollten nie in eine Situation geraten, in der uns hohe Struktur- oder Unternehmensfixkosten erdrücken. Ein schlanker Ansatz war entscheidend, um handlungsfähig zu bleiben.“
Wenn man Investoren überzeugen will, braucht man einen
‘proof of love‘.
Marktrisiko absichern: Nachfrage vor Produktion
Die Finanzierung wäre nicht gelungen, wenn der Markt nicht überzeugt gewesen wäre. Deshalb begann AFYREN bereits 2018 mit den ersten Kundenverträgen – Jahre vor der Inbetriebnahme der Fabrik. Insgesamt sicherte das Unternehmen bis heute Abnahmevereinbarungen im Umfang von 165 Mio. EUR ab – viele davon mit ‚take-or-pay‘-Struktur, die mehrjährige Absatzsichtbarkeit schaffen. Für Sordet war das ein entscheidender Beweis dafür, dass das Geschäftsmodell mehr war als nur eine technische Vision: „Wenn man Investoren überzeugen will, braucht man einen ,proof of love‘ vom Markt – Kunden, die Verträge unterschreiben, noch bevor die Anlage steht.“ Damit konnte das Unternehmen zeigen, dass echte Nachfrage vorhanden war – und gewann die notwendige Glaubwürdigkeit für die nächsten Finanzierungsrunden. Die Produkte sind zu 100% biobasiert und COSMOS-zertifiziert und finden Einsatz in zahlreichen strategischen Sektoren wie zum Beispiel der Lebensmittel- und Tierfutterindustrie, Aromen und Geruchsstoffe sowie Life Sciences – zu wettbewerbsfähigen Kosten.
Die erste große Entscheidung: eine eigene Anlage
Dass AFYREN diese Nachfrage überhaupt bedienen konnte, liegt an einer strategischen Grundsatzentscheidung. Viele Start-ups begnügen sich mit einer Laborlizenzierung – AFYREN baute die eigene Fabrik. „Das magische Rezept klingt verlockend: Technologie entwickeln, Lizenzen verkaufen, Royalties kassieren. Die Realität ist: Ohne den Beweis, dass es industriell funktioniert, wird das niemand ernsthaft bezahlen“, unterstreicht Sordet. Mit Unterstützung des EU-Flaggschiffprojekts AFTER-BIOCHEM entstand in Carling-Saint-Avold die erste industrielle Bioraffinerie dieser Art. 2022 ging sie in Betrieb, 2025 folgte der Schritt in den Dauerbetrieb. Bisher wurden bereits mehrere hundert Tonnen biobasierter Säuren produziert und über 100 Tonnen ausgeliefert und fakturiert. Die Anlage schuf 80 direkte und 250 indirekte Arbeitsplätze – und ist heute das Herzstück von AFYRENs Geschäftsmodell.
Substanz statt Schlagzeilen
Der Aufbau der Anlage gelang nicht im Alleingang. Kooperationen spielten eine zentrale Rolle – aber nur, wenn sie echten Mehrwert boten. „Man darf eine Partnerschaft nicht nur eingehen, weil Investoren sie erwarten. Wenn sie keinen echten Mehrwert bringt, kann sie mehr Probleme verursachen als sie löst“, so Sordet. Mit Südzucker schloss AFYREN einen fünfjährigen Liefervertrag – inklusive Preisgleitmechanismen, ohne Strafzahlungen bei Verzögerungen, ohne langfristige Exklusivität. Für AFYREN war – und ist – die Partnerschaft mit Südzucker mehr als ein reiner Liefervertrag. Sie sichert nicht nur die Rohstoffversorgung über fünf Jahre, sondern bringt auch einen Partner ins Boot, der ein echtes Interesse am Gelingen des Projekts hat. „Mit Südzucker hatten wir einen Partner, der wirklich ein Interesse an unserem Erfolg hatte – das ist der einzige Weg, um durch schwierige Phasen zu kommen“, betont Sordet.
Der Börsengang war ursprünglich nicht geplant.
Gleichzeitig lernte AFYREN im EU-Flaggschiffprojekt AFTER-BIOCHEM, wie wichtig es ist, entlang der gesamten Wertschöpfungskette zusammenzuarbeiten – von Landwirtschaft über Industrie bis hin zu den Endkunden. Diese Erfahrungen haben das Unternehmen geprägt und gezeigt, dass Bioökonomie nur im Zusammenspiel funktioniert. AFYREN versteht „Kooperation“ deshalb breiter: nicht nur als Lieferbeziehung, sondern auch als Verpflichtung zu Transparenz und Nachhaltigkeit. So erhielt AFYREN NEOXY die Responsible-Care®-„Confirmed“-Diagnose des französischen Chemieverbands France Chimie, veröffentlichte einen Sustainability-Report nach ESRS-Standards und wurde mit einem EthiFinance-Rating von 85/100 (Platinum) ausgezeichnet. Hinzu kommt eine Silber-Medaille von EcoVadis – einem der bekanntesten Nachhaltigkeits-Ratings in der Branche –, die AFYREN zuletzt mit verbessertem Score erreichte. Für Sordet ist das ein weiterer Beleg dafür, dass Substanz und Verlässlichkeit auch im Bereich Nachhaltigkeit die Grundlage für Vertrauen schaffen.
Wenn sich ein Fenster öffnet: der Börsengang
Während AFYREN noch an der Umsetzung der Anlage arbeitete, tat sich ein weiteres Fenster auf: der IPO an der Euronext Growth® Paris (2021). „Der Börsengang war ursprünglich nicht geplant. Aber es öffnete sich ein Fenster, und wir haben es genutzt. Heute macht uns die Notierung transparenter und verlässlicher in den Augen unserer Partner – gerade international.“ Für Sordet ist dies ein Beispiel für notwendige Flexibilität: „Man kann nicht alles durchplanen. Als sich das Marktfenster öffnete, mussten wir schnell entscheiden – und der Schritt hat uns neue Finanzierungsmöglichkeiten und internationale Sichtbarkeit eröffnet.“ Damit liegt der Börsengang zwar zeitlich vor der Inbetriebnahme 2022 und dem Dauerbetrieb 2025, doch seine Wirkung zeigt sich vor allem im weiteren Wachstum: Sichtbarkeit, Zugang zu Investoren und zusätzliche Glaubwürdigkeit.
Wir verfolgen einen ‚Schritt-für-Schritt‘-Ansatz.
Blick nach vorn
Mit dem Dauerbetrieb beginnt die nächste Etappe: Der Hochlauf zu vollen Produktionsmengen; erste signifikante Produktionsumsätze werden 2025 erwartet und der Break-even der Anlage soll innerhalb weniger Quartale folgen. Darauf aufbauend startete AFYREN ein Optimierungsprogramm: zusätzliche 20 Mio. EUR Investitionen sollen die Kapazität von 16.000 auf 20.000 Tonnen pro Jahr steigern (+20 %) und den EBITDA-Beitrag der Anlage von 9 Mio. EUR auf 14 Mio. EUR anheben (+40 %). Mittel- bis langfristig bleibt das Ziel bestehen: drei Werke, 150 Mio. EUR Umsatz bei ~30 % EBITDA-Marge. Doch Sordet bleibt vorsichtig: „In der Bioökonomie braucht man Zeit, um Fortschritte zu erzielen. Manche Investoren steigen erst drei Jahre nach dem ersten Kontakt ein.“ Bei AFYREN ist diese Geduld eine Stärke: „Wir verfolgen einen ‚Schritt-für-Schritt‘-Ansatz und gehen erst weiter, wenn die aktuelle Stufe stabil läuft, um so eine stabile Grundlage für langfristiges Wachstum zu schaffen.“
Fazit
AFYREN zeigt, wie Bioökonomie Realität wird: robuste Technologie, disziplinierte Finanzierung, gesicherte Nachfrage, Partnerschaften mit Substanz – und die Bereitschaft, Chancen wie einen Börsengang zu ergreifen. Daraus ist eine Anlage geworden, die heute läuft und liefert. „Es geht darum, viele kleine Entscheidungen zu treffen – manche schwer, manche überraschend. Zusammengenommen machen sie den Unterschied.“
Autor/Autorin
Urs Moesenfechtel, M.A., ist seit 2021 Redaktionsleiter der GoingPublic Media AG - Plattform Life Sciences und für die Themenfelder Biotechnologie und Bioökonomie zuständig. Zuvor war er u.a. als Wissenschaftsredakteur für mehrere Forschungseinrichtungen tätig.