Bildnachweis: Chinnapong – stock.adobe.com, Immunic Therapeutics.
Die an der Nasdaq gelistete und in Gräfelfing bei München ansässige Biotechfima Immunic steht vor zwei spannenden Jahren: bis 2026 kommen die zulassungsrelevanten Daten für ein Multiple-Sklerose-Medikament. Vorstandschef Daniel Vitt erläutert Umsatzpotenzial und Marktstrategie.
Plattform Life Sciences: Herr Vitt, Vidofludimus Calcium, das Lead Product von Immunic, begleitet Ihre Karriere in der Life-Science-Industrie seit einem Vierteljahrhundert. Was fasziniert Sie an diesem Molekül?
Das pharmakologische Verständnis, wie dieses Präparat von seinem Wirkprofil funktioniert, und möglicherweise mehr Patienten mit Multipler Sklerose (MS) adressiert als alle zugelassenen Arzneien. Der zweite wichtige Aspekt ist die hohe Sicherheit und außergewöhnliche Verträglichkeit dieses Produkts. Vidofludimus Calcium hat in den klinischen Studien bislang ein Nebenwirkungsprofil gleich zum Placebo gezeigt und kann von den Patienten als Tablette eingenommen werden. Mit diesen Faktoren im Rücken sind wir ungemein motiviert, Vidofludimus Calcium nach bislang mehr als 1800 getesteten Probanden und Gesamtkosten von bislang rund 250 Mio. USD jetzt über die Ziellinie auf den Markt zu bringen.
MS-Patienten haben mittlerweile etliche Arzneien zur Auswahl. Wie soll sich das Immunic-Produkt nach einer Zulassung auf dem Markt etablieren?
Wir haben in den klinischen Phase-2-Studien die Effekte auf die Neuroprotektion entdeckt, also den Schutz der Nervenzellen vor dem Absterben. Damit verlängert sich die Autonomiezeit der Patienten, ehe das Fortschreiten der Krankheit die Mobilität erheblich einschränkt und die Patienten irgendwann auf den Rollstuhl angewiesen sind. Bestätigt die laufende klinische Studie diese Eigenschaft, differenziert sich unser Produkt deutlich von den zugelassenen Arzneien, die diesen neuroprotektiven Mechanismus eben nicht haben. Zudem kommt das bereits erwähnte vorteilhafte Sicherheits- und Verträglichkeitsprofil zum Tragen.
Mit welcher Kommerzialisierungsstrategie will Immunic an die Märkte gehen?
Die Erfolgswahrscheinlichkeit für Vidofludimus Calcium bei schubweise verlaufender MS ist sehr hoch, das Wirkprofil ist bekannt und unsere Phase-2-Daten waren äußerst positiv. Unser aktuelles Basis-Szenarium geht davon aus, dass wir mit den bis Ende 2026 vorliegenden klinischen Phase-3-Daten Anfang 2027 den Zulassungsantrag einreichen und ein Jahr später dann hoffentlich grünes Licht bekommen. In unseren Modellen kommen wir in dieser Indikation auf bis zu zwei Mrd. USD Peak Sales als jährliche Spitzenumsätze.
Richtig interessant für die Märkte ist aber das mögliche Alleinstellungsmerkmal.
Für die 467 Patienten umfassende Wirksamkeitsstudie, was eine große Phase-2-Studie ist, werden wir im April 2025 die Daten in progressiver MS präsentieren. Die größte Untergruppe dieser Studie sind die nicht-relapsierenden sekundär-progressiven MS-Patienten. Das sind die Personen, die vorher schubförmig verlaufende MS hatten und jetzt unter dem progressiven Krankheitsverlauf leiden und bei ihren physischen Fähigkeiten kontinuierlich abbauen. Im Best-Case-Szenario werden wir mit den Behörden über eine vorzeitige Zulassung reden. In einem solchen Fall könnten wir hier ein Jahr früher mit Vidofludimus Calcium auf den Markt kommen als bei relapsierender MS.
Das bedeutet eine Zulassung ohne Phase-3-Ergebnisse.
Gerade in den USA existiert die Möglichkeit des expedited approval, also die Zulassung unter Auflagen, bei der flankierend zur Markteinführung noch eine klinische Phase-3-Studie durchgeführt wird. Über deren Finanzierung brauchen wir uns dann keine Gedanken zu machen, weil alle Pharmakonzerne und Investoren ein solches Produkt mit einem jährlichen Umsatzpotenzial von mehreren Milliarden USD auf dem Radar haben werden.
Wie sieht das Alternativszenario aus?
Für den Fall, dass die Phase-2-Ergebnisse in progressiver MS unter den Erwartungen bleiben, haben wir in die Phase-3-Studien bei relapsierender MS als sekundären Endpunkt auch eine allgemeine Verschlechterung der körperlichen Behinderungen eingeschlossen. Damit versuchen wir, das Merkmal Neuroprotektion auf alle Fälle in das Label für Vidofludimus Calcium zu bekommen. Eine Phase-3-Studie in progressiver MS würden wir dann im Anschluss an die Zulassung bei schubförmig verlaufender MS starten, also nach 2026.
Welche Rolle versprechen Sie sich von MS-Patientenorganisationen bei einem Produktstart?
MS-Patienten kommunizieren auf Social Media sehr viel über neue Produkte, die sich in der Entwicklung befinden und mit denen sie in klinischen Studien positive Erfahrungen machen. Und natürlich sind Organisationen wie die National MS Society, die MS Foundation oder das Consortium of MS Centers für uns ein wichtiger Katalysator, um dem Wirkprofil schnell Publicity zu geben. Beide Faktoren zusammen sind für uns sehr wichtig, um schon während der laufenden klinischen Studien wahrgenommen zu werden, in denen wir keine Eigenwerbung betreiben dürfen.
Und wie gestaltet sich die Preisbildung?
Im US-amerikanischen Markt, den aus kommerzieller Sicht für uns größeren Markt, gelten MS-Medikamente als Spezialpharmaprodukte. Das bedeutet, sie müssen gewisse Richtlinien erfüllen, vor allem wie viele Behandlungszyklen stattgefunden haben, ehe ein neues Produkt verschrieben wird. Wir sind bei MS hier im hochpreisigen Bereich mit einer guten Coverage durch die Versicherungen.
Hängt die Weiterentwicklung des zweiten Hoffnungsträgers, IMU-856 gegen Zöliakie, am Erfolg der drei laufenden klinischen Studien mit Vidofludimus Calcium?
Wir arbeiten an einer Lösung, um bereits vor den für 2026 erwarteten Phase-3-Ergebnissen für Vidofludimus Calcium mit IMU-856 in eine Wirksamkeitsstudie zu gehen. Aktuell haben wir Gespräche am Laufen, um die klinische Weiterentwicklung auch unabhängig vom Fortgang von Vidofludimus Calcium voranzutreiben. 15 bis 20 Mio USD sind der finanzielle Rahmen, um eine erste Wirksamkeitsstudie durchzuführen, und diese Gelder wollen und wir schnellstmöglich einwerben. IMU-856 ist ein tolles Produkt, dessen Wert wir bestimmt nicht herschenken werden. Auch hier ist die Resonanz bei den Patientenorganisationen in Europa und den USA überwältigend, weil es für Zöliakie bislang überhaupt keine medikamentösen Behandlungsoptionen gibt.
Betrachtet man die Kursentwicklung und den Börsenwert der Immunic-Aktie, ignorieren die Finanzmärkte bislang das kommerzielle Potenzial von Vidofludimus Calcium.
Nach unserer Einschätzung sind es weitgehend makroökonomische Faktoren, die bislang verhindert haben, dass der Aktienkurs anspringt. Biotechfirmen, und hier vor allem kleinere Unternehmen, die noch ganz auf Fremdfinanzierung angewiesen sind, sind immer noch von der weiterhin hohen Zinslage betroffen.
Das spricht nicht gerade dafür, jetzt schon einzusteigen.
Ich bin zuversichtlich, dass sich dieses Marktumfeld aufgrund sinkender Leitzinsen in den USA bis zum Jahresende bessern wird. Für uns wäre das in jedem Fall ein sehr gutes Szenario im Vorfeld der Nachrichten, die wir im Frühjahr 2025 aus unserer Pipeline berichten werden.
Entscheidend für unsere Wahrnehmung an den Kapitalmärkten ist, dass renommierte Life-Science-Fonds in unserer Aktie erste Positionen aufgebaut haben und langfristig investiert sind.
Die Investorenbasis von Immunic ist größtenteils in den US beheimatet. Welche Schwerpunkte hat Ihre künftige IR-Arbeit?
Wir sind sehr aktiv auf Investorenkonferenzen und Roadshows. Dort positionieren wir Immunic mit unserer Equity Story als Firma, die sich im Übergang zu einem Produktunternehmen befindet, das in Zukunft nachhaltiges Wachstum generiert. In diese Strategie passt auch, dass wir Mitte Juli Jason Tardio als Chief Operating Officer eingestellt haben. Jason ist ein erfahrener Marketing-Experte für MS-Arzneien. Er hat bei Novartis das US-Geschäft für MS-Arzneien für zwei Jahre geleitet und das MS-Medikament Mayzent® auf den Markt gebracht. Zuvor war er bei Biogen an der Markteinführung von zwei MS-Medikamenten, Avonex® Pen und Plegridy®, beteiligt.
Worauf kommt es an, um bei US-Investoren zu punkten?
Ich denke, um zu punkten, zählen vor allem Faktoren wie Transparenz, Erreichbarkeit, und auch etwas Hartnäckigkeit. Wir hatten direkt nach unserem IPO per Reverse Merger kaum Ankerinvestoren an Bord, die in unruhigen Börsenzeiten den Aktienkurs stabil halten. Nach der Börsenpremiere mussten wir deshalb von der ersten Minute an im offenen Gewässer schwimmen. Das war anfangs überaus herausfordernd, aber letztendlich gut, weil wir alle Investorenkontakte in den USA aus eigener Kraft aufgebaut haben.
War das Listing an der Euronext jemals ein Thema?
Euronext haben wir uns angesehen und auch mit Banken geredet, aber dann herausgefunden, dass es für europäische Life-Science-Firmen mit eigener Produktentwicklung das Beste ist, das dafür notwendige Kapital an der Nasdaq einzuwerben. Die USA bieten das entsprechend weite Universum an Investoren und Kapital. Zugleich wollen wir unsere Investorenbasis sowohl geografisch als auch in Richtung Privatanleger erweitern. Vor den anstehenden Nachrichten aus unserer Pipeline ist das jetzt ein sehr guter Zeitpunkt.
Herr Vitt, ich bedanke mich herzlich für das Gespräch!
Das Interview führte Stefan Riedel.