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Wer im Duden unter dem Stichwort „virtuell“ nachblättert, der wird dort folgende Beschreibung finden: „nicht echt, nicht in Wirklichkeit vorhanden, aber echt erscheinend“. Wieso ist eigentlich landauf und landab immer die Rede von der „virtuellen Hauptversammlung“, die im Zuge der Coronapandemie ihren Siegeszug angetreten hat? Eine Bestandsaufnahme.

Begriffsbestimmung

Eine Hauptversammlung (HV), die nicht in Wirklichkeit vorhanden ist, aber täuschend echt erscheint, kann in niemandes Interesse sein. Eine virtuelle Hauptversammlung gehört – genauso wie eine rein physische – der Vergangenheit an. Das erklärt sich aus dem Unterschied der Begrifflichkeiten. Obwohl häufig synonym verwendet, unterscheidet sich eine „virtuelle HV“ ganz entscheidend von einer „digitalen“, der Online-Hauptversammlung.

Bei der virtuellen Hauptversammlung hat der Aktionär beispielsweise in Deutschland nur eingeschränkte Rechte und juristisch betrachtet nimmt er auch nicht selbst an der Veranstaltung teil, auch wenn er ihr online folgt. Einziger „echter“ Teilnehmer in einer virtuellen HV ist der Stimmrechtsvertreter.

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Bei der Online-HV nimmt der Aktionär selbst an der HV teil, steht also auch im Teilnehmerverzeichnis. Damit kann er auch alle Aktionärsrechte – wie Frage-, Antrags-, Widerspruchsrecht – ausüben. Es bestehen keine Einschränkungen im Vergleich zur physischen Anwesenheit – außer man pocht auf sein Recht, sich am Buffet zu bedienen.

Präsenz – physisch = virtuell

Die virtuelle HV ist im Grundsatz eine aus infektiologisch-gesundheitlichen Gründen um die physische Präsenz der Aktionäre reduzierte physische Veranstaltung. Die Rechtsausübung erfolgt im Wege der elektronischen Kommunikation: Abstimmung per (elektronischer) Briefwahl oder Weisungserteilung an den Stimmrechtsvertreter, Fragen müssen im Vorfeld eingereicht werden. Stellungnahmen per Stream oder in schriftlicher Form sind ebenfalls nur vorab zulässig. Beim Entwurf dieses Formats ging man implizit davon aus, dass eine Hauptversammlung nach der Pandemie wieder als physische Veranstaltung stattfinden wird – anders hätten sich wohl auch die teils massiven Einschränkungen der Aktionärsrechte nicht rechtfertigen lassen. Dies haben kürzlich auch erste Entscheidungen deutscher Gerichte bestätigt. Auch die geschaffene Möglichkeit einzelner Gesellschaften, Nachfragen in limitierter Anzahl während der HV zuzulassen, ist kein adäquater Ersatz für die Rechte der Aktionäre auf einer physischen HV.

Präsenz + digital = online

Eine echte Online-HV ist jedoch eine Erweiterung der physischen HV. Auch nach der Pandemie sollte und wird jede seriöse HV einen digitalen Channel haben, der es den Aktionären erlaubt, tatsächlich ihre Rechte auszuüben, ohne zur Veranstaltung anzureisen. § 118 (2) AktG erlaubt seit Langem eine echte Onlineteilnahme, mit allen Rechten, die auch physische Teilnehmer haben: Fragestellung, Antragstellung, Widerspruch. Bislang wurde davon jedoch nur in Ausnahmefällen Gebrauch gemacht – und selbst in diesen Fällen hatten einige Gesellschaften (zulässigerweise) einzelne der soeben genannte Rechte eingeschränkt.

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Der Vorteil der digitalen HV – im Unterschied zur virtuellen Variante – liegt auf der Hand: Die Aktionäre sind nicht nur Beobachter, sondern Herr des Geschehens. Ad hoc sind Fragen und Beschlüsse möglich. Es kann direkt auf Präsentationen und Wortmeldungen des Vorstands Bezug genommen werden und Rückfragen sind ebenso möglich. Alle Aktivitäten werden revisionssicher und dokumentierbar gespeichert. Die im Rahmen der virtuellen HV eingesetzten Systeme bieten ausgereifte technische Möglichkeiten, die auch zukünftig genutzt werden können und sollten.

Fazit

Virtuell war gestern – ebenso die rein physische Variante. Virtuell ist bloß der Raum, die Teilnahme ist allerdings digital und damit „echt“.

Zur technischen Unterstützung bedient man sich dabei Portallösungen, wie sie auch jetzt eingesetzt werden. Dieses wird in den Webauftritt des Emittenten eingebaut und ermöglicht den Aktionären über Buttons die Stimmabgabe, das Stellen von Fragen, das Einbringen von Anträgen et cetera.

Seit Jahren ist es möglich, digital an Terminen teilzunehmen, online Wertpapiere zu handeln oder im World Wide Web einen Kredit abzuschließen. Genauso ist es möglich, vom eigenen Küchentisch aus den Vorstand zu entlasten oder der vorgeschlagenen Dividende zu widersprechen. Und zwar digital und echt – nicht virtuell, aber in Wirklichkeit gar nicht.

Autor/Autorin

Bernhard Orlik

Bernhard Orlik ist Head of Client Services bei der Computershare Deutschland GmbH & Co. KG.