Bildnachweis: LIGHTFIELD STUDIOS – stock.adobe.com, Vivoryon.

Vivoryon Therapeutics entwickelt ein Alzheimer-Medikament, das krankheitsauslösende molekulare Prozesse früh unterbindet. Im Interview erläutert der neue Vorstandsvorsitzende Frank Weber, warum 2024 ein Schlüsseljahr wird und welche Vorteile der Wirkstoff gegenüber den zugelassenen Arzneien bietet.

 

Herr Weber, nehmen Sie wahr, dass mit der Zulassung des Alzheimermedikaments Leqembi von Biogen und Eisai Pharma und dem wahrscheinlichen Markteintritt von Donanemab von Eli Lilly das Interesse der Investoren auch für Biotechs gestiegen ist, die, wie Vivoryon, in der Alzheimerforschung unterwegs sind?

Das ist eindeutig der Fall. Investoren suchen verstärkt nach Substanzen, welche auf die schädliche Wirkung der krankheitsauslösenden Amyloid-Eiweiße im Gehirn abzielen, insbesondere die besonders toxische pE Abeta (pyroglu-Abeta) Variante, ohne dass sie die Nebenwirkungen aufweisen, wie sie häufig bei antikörperbasierten Wirkstoffen wie Leqembi auftreten. Mit unserem Wirkstoff Varoglutamstat adressieren wir die am stärksten toxischen Abeta Varianten, nämlich diejenigen, die in pyroglu-Abeta Versionen umgewandelt werden.

Die Dosierung für die zwei laufenden Wirksamkeitsstudien steht jetzt.

Für die zwei laufenden Phase-2-Wirksamkeitsstudien, VIVIAD in Europa und VIVA-MIND in den USA, haben wir mit zweimal täglich 600 Milligramm identische Dosierungen bei etwas abweichenden Titrationsschemata festgelegt. Im Oktober wurde diese Dosierung für unsere US-Studie durch ein unabhängiges Gremium (Independent Data Safety Monitoring Board, DSMB) als die fortzuführende Dosierung für die restliche Studienlaufzeit bestätigt. Es ist sehr ermutigend für uns, dass wir mit dieser Dosierung weiter behandeln können, weil wir hier auf Basis unserer Daten davon ausgehen können, eine realistische Chance auf einen Behandlungserfolg zu haben.

Frank Weber, CEO, Vivoryon Therapeutics.

Was kennzeichnet das Wirkprofil von Varoglutamstat?

Antikörper wie Leqembi entfernen zwar neurotoxische, also nervenschädigende Eiweißablagerungen, allerdings erst nachdem diese die Nervenzellen bereits geschädigt haben. Darüber hinaus entstehen durch diese Clearance auch entzündliche Prozesse und Nebenwirkungen im Gehirn. Varoglutamstat scheint solche Schäden nicht entstehen zu lassen. Es setzt eine Stufe früher in der Amyloid-Beta-Kaskade an, indem es die Bildung spezieller Eiweißmoleküle, und zwar die sogenannten Pyroglutamate-modifizierten Abeta (N3pE-Abeta) Moleküle, unterbindet. Varoglutamstat verringert die Aktivität des Enzyms Glutaminyl-peptid-cyclo-transferase, welches für die Herstellung der toxischen pyroglu-Abeta Moleküle verantwortlich ist. Damit werden Zellkörper und Synapsen der Nervenzellen nicht weiter geschädigt. Nach allem, was wir in den Studien bisher beobachten konnten, ist auch die Verträglichkeit deutlich besser.

Inwiefern?

Nebenwirkungen wie mögliche Hirnschwellungen und Mikroblutungen, wie sie bei antikörperbasierten Arzneien auftreten, wurden bei Varoglutamstat bis dato nicht beobachtet. Weil es sich um eine niedermolekulare Substanz handelt, können die Patienten das Mittel zweimal täglich in der gewohnten Umgebung zu Hause als Tablette einnehmen. Bei den Antikörpern, die als Infusion verabreicht werden, müssen sie alle zwei bis vier Wochen in eine Klinik oder spezialisierte Praxis. Zudem müssen sie sich regelmäßigen Kernspintomographien unterziehen, die nötig sind, um mögliche Blutungen oder Schwellungen zu erkennen.

Wie wollen Sie Varoglutamstat für die Kommerzialisierung positionieren?

Wir sind überzeugt, dass N3pE-Abeta bei einer großen Zahl von Patienten mit Alzheimer der treibende biochemische Faktor für das Fortschreiten der Krankheit ist. Varoglutamstat könnte deshalb als Erstlinientherapie von Alzheimerpatienten zum Einsatz kommen, sofern es sich in unseren klinischen Studien als wirksam erweist. Den durchwegs älteren Alzheimer-Patienten in einem frühen Stadium wollen wir damit eine möglichst gut verträgliche und wirksame Behandlung ermöglichen.

Welche grundlegend neuen Erkenntnisse hat die Alzheimerforschung in den letzten fünf Jahren geliefert?

Alzheimer ist pathologisch diagnostiziert durch die Ablagerung der Amyloid-Beta-Plaques im Gehirn und die Bildung der Tau-Fibrillen in den Nervenzellen. Die Funktion der toxischen Neuropeptide im Amyloid-Bereich ist verstanden. Alle klinischen Kandidaten, die auf die Tau-Fibrillen abzielen, sind bislang gescheitert. Mit der Erkrankung, und das ist eine neuere Erkenntnis, gehen auch Entzündungsprozesse einher. Innerhalb dieser Konstellation haben wir wissenschaftlich bewiesen, dass sich mit dem Zielmolekül N3pE-Abeta die Amyloid-Beta- und die Tau-Pathologie wie auch die Entzündungen reduzieren lassen. Wir setzten also an mehreren krankheitsrelevanten Punkten an, um das Fortschreiten von Alzheimer zu verlangsamen.

2024 wird ein Schlüsseljahr in der Firmenhistorie. Vivoryon liefert die klinischen Daten für die Wirksamkeitsstudie VIVIAD in Europa mit 259 Alzheimerpatienten.

Die VIVIAD-Studie liest im ersten Quartal 2024 die Ergebnisse aus. Die Resultate werden im Wesentlichen den weiteren Verlauf der VIVA-MIND-Studie bestimmen, die wir in den USA durchführen. Sollte VIVIAD die erhofften Ergebnisse liefern, werden wir VIVA-MIND internationalisieren. Zudem würden wir mit der FDA darüber sprechen, ob diese Studie mit der geplanten Anzahl an Patienten weitergeführt werden soll oder ob weitere Patienten eingeschlossen werden können, was laut Studiendesign möglich wäre. Zugleich hätten die Patienten nach Studienabschluss die Chance, an einer Open-Label-Studie (VIVALONG) teilzunehmen. Somit könnten sie weiterhin – oder erstmalig, wenn sie im Placebo-Arm der Studie waren – mit Varoglutamstat behandelt werden.

Wollen Sie Varoglutamstat für eine Phase-3-Studie auslizenzieren?

Ob für eine mögliche Zulassung eine neue Studie benötigt wird, hängt davon ab, ob nicht eventuell VIVA-MIND selbst mit einer erweiterten Patientenzahl als konfirmatorische Phase-3-Studie die Basis für einen Zulassungsantrag bilden könnte. Des Weiteren gibt es die Möglichkeit eines beschleunigten Zulassungsverfahrens (Accelerated Approval) in den USA oder einer möglichen bedingten Zulassung (Conditional Marketing Authorization) in Europa basierend auf den Ergebnissen der VIVIAD-Studie, falls diese die Voraussetzung dafür erfüllen.

Was muss Varoglutamstat dafür erfüllen?

Erforderlich ist, dass unser Produkt besser wirkt und besser verträglich ist als die bisher zugelassenen Antikörpertherapien. Die Zulassungsstrategie für Varoglutamstat als Ganzes hängt sehr von den Ergebnissen der VIVIAD Studie ab. Die schnelle Verfügbarkeit eines wirksamen und gut verträglichen Arzneimittels für Patienten mit früher Alzheimererkrankung ist unser Fokus. Für eine Firma unserer Größe mit Fokus auf die Forschung und klinische Entwicklung kann es sinnvoll sein, zu gegebener Zeit einen Kooperationspartner mit grösserer Entwicklungskapazität und guter Vermarktungskompetenz zu suchen.

Klar ist aber auch, dass für die Finanzierung einer zulassungsrelevanten Phase-3-Studie weitere Kapitalmaßnahmen unumgänglich sind.

Die Erfahrung anderer Firmen in einer ähnlichen Situation mit vielversprechenden Phase-2-Ergebnissen hat gezeigt, dass bei entsprechend guten Studienergebnissen Interesse der Investoren vorhanden ist. Angesichts der dramatisch wachsenden Zahl von Alzheimer-Patienten wächst der gesellschaftliche und ökonomische Druck, die damit einhergehenden Behandlungskosten in den Griff zu bekommen.

Erleichtern die jüngsten Fortschritte in der Alzheimerforschung, Geld von Investoren einzuwerben?

Definitiv. Vor fast 14 Jahren, als ich bei Vivoryon als Chief Medical Officer anfing, war N3pE-Abeta selbst vielen Spezialisten kaum ein Begriff. Durch unsere Fortschritte in der klinischen Entwicklung von Varoglutamstat und auch die von Donanemab, das spezifisch auf die Eliminierung von N3pE-Abeta abzielt, konnte die Bedeutung unseres Behandlungsziels, die Verhinderung der Produktion von N3pE-Abeta, validiert werden.

Vivoryon ging 2014 an der Euronext in Amsterdam an die Börse. Was ist die größte Herausforderung für europäische Biotechfirmen, um ihre Equity Story zu verkaufen?

Verglichen mit ihren US-Pendants sind europäische Biotechs eher unterkapitalisiert. Die Liquidität reicht in der Regel nur aus, um die unmittelbaren nächsten Schritte zu finanzieren. In den USA sieht das ganz anders aus. Dort erhalten Life-Science-Firmen erheblich mehr Kapital. Mit der Folge, dass ihre Entwicklungsprojekte langfristig besser durchfinanziert sind.

Über die VIVA-MIND-Studie hat Vivoryon eine Verbindung in die USA. Die Kosten dieser Studie werden bisher größtenteils über einen Zuschuss des National Institute of Health (NIH) finanziert, und wir sind stolz darauf, dass unsere Studie in den USA eine Förderung erhält. Die Alzheimer Disease Corporate Study Group führt die Studie in über 20 Kliniken verteilt über zahlreiche US-Bundesstaaten durch. Diese Kooperationen könnten einer späteren Akzeptanz von Varoglutamstat auf dem US-Markt förderlich sein.

Liegt dann nicht ein Doppel-Listing an der Nasdaq nahe?

Der Gang an die Euronext war ein richtiger und wichtiger erster Schritt. Wir haben eine gesunde Basis von langfristig orientierten Investoren. Wollen wir im Falle von vielversprechenden Ergebnissen der VIVIAD-Studie allein fortschreiten, ist ein Börsenlisting in den USA natürlich ein denkbarer Weg, um langfristig Zugang zu Kapital von spezialisierten US-Biotechfonds zu erlangen. Auf diesem Weg könnten wir für maßgebliche Investitionen durch US-Investoren attraktiver werden. Darüber hinaus gibt es aber natürlich weitere Optionen die Finanzierung des Unternehmens langfristig sicherzustellen.

Und wie sieht der Plan B aus?

Mit Blick auf die bisher sehr vielversprechenden Daten aus der klinischen Entwicklung von Varoglutamstat sind wir äußerst zuversichtlich, was die Ergebnisse aus der VIVIAD Studie angeht. N3pE-Abeta ist als Zielmolekül von Varoglutamstat validiert. VIVIAD wurde unter sorgfältiger Analyse früherer Studien, sowohl eigener als auch von anderen in Alzheimer tätigen Unternehmen, aufgesetzt und durchgeführt. Sollten die klinischen Resultate entgegen den Erwartungen die klinischen Ziele verfehlen, so müssten wir eingehend untersuchen, ob es dafür produkt-, mechanismus- oder studienbezogene Ursachen gäbe und daraus dann die richtigen Schlüsse für Lösungsansätze ziehen. Bislang haben wir erfreulicherweise keinerlei Gründe in diese Richtung zu denken und blicken positiv auf die kommenden Monate.

Herr Weber, ich danke Ihnen für das sehr interessante und aufschlussreiche Gespräch!

Das Interview führte Stefan Riedel.

 

ZUM INTERVIEWPARTNER

Frank Weber ist seit August 2023 Vorstandsvorsitzender von Vivoryon. Der promovierte Mediziner begann 2010 im Unternehmen als Chief Medical Officer. Seine berufliche Karriere startete er in der klinischen Forschung in verschiedenen akademischen Einrichtungen, ehe er in die Pharmabranche wechselte und dort unter anderem als Chief Medical Officer der Merck KGaA in Deutschland und der Schweiz arbeitete.

Autor/Autorin

Stefan Riedel
Freier Redakteur at Büro für Kommunikation

Stefan Riedel ist freier Autor bei GoingPublic Media und selbständiger Redakteur mit Schwerpunkt Finanzen und Wirtschaft.