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Der Strukturwandel in den deutschen Braunkohlerevieren stellt eine immense Herausforderung für die Akteure in den betroffenen Regionen in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Sachsen-Anhalt dar. Laut Angaben des Bundesverbands Braunkohle hängen rund 70.000 Arbeitsplätze in Deutschland am Abbau und der Verstromung von Braunkohle.[1] Führt man sich den mit dem Kohleausstieg einhergehenden nötigen Umbau der Energieinfrastruktur vor Augen, wird die Tragweite dieses Wandels offenbar – auch weit über die genannten Regionen hinaus. Dieser Herausforderung stellt sich auch das Kompetenzzentrum „Bio4MatPro“. Von Dennis Herzberg

 

Vor diesem Hintergrund erschließt sich auch, warum die Bundesregierung bis zum Jahr 2038 bis zu 40 Mrd. EUR an Finanzmitteln zur aktiven Gestaltung dieses Prozesses bereitstellt. Zugleich bietet dieser Wandlungsprozess eine enorme Chance, die lokalen Wirtschaftssysteme zu stärken und für die Zukunft zu rüsten. In diesem Sinne kann der Kohleausstieg den nötigen Impuls ­geben, gewachsene, etablierte Strukturen aufzubrechen und Raum zu schaffen für ­innovative und zukunftsgerichtete Konzepte. Der Verweis auf die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie im „Strukturstärkungsgesetz Kohleregionen“ kann als Hinweis verstanden werden, dass auch die Bundesregierung die Chance sieht, über dieses ­Gesetz nachhaltigere und ressourceneffi­zientere Wirtschaftsweisen zu implementieren.[2]

Gesetz sorgt für Klarheit

Doch das Strukturstärkungsgesetz wird noch spezifischer, was die Investitionen in Zukunftsfelder angeht: Neben Forschungsinfrastrukturen, Digitalisierung und Klima­schutz als zulässige Förderbereiche im Sinne dieses Gesetzes wird auch eine ­Reihe konkreter Maßnahmen benannt. ­Deren Themenfelder umfassen künstliche Intelligenz und Elektromobilität, aber auch synthetische Kraftstoffe, erneuer­bare Wertschöpfungsketten und Bio­ökonomie. Hier werden also die übergreifenden Konzepte Bioökonomie und zirkuläre Wertschöpfung (Kreislaufwirtschaft) mit ihren unterschiedlichen Facetten ­adressiert. Beide werden auch im ­„Wirtschafts- und Strukturprogramm“ (WSP) 1.0 im Rheinischen Braunkohle­revier benannt, das den thematischen Rahmen für den Strukturwandel in dieser Region setzt. So heißt es im Leitbild: „Als Europäische Modellregion für Energie­versorgungs- und Ressourcensicherheit setzt das Rheinische Zukunftsrevier auf die nachhaltige Weiterentwicklung der ­industriellen Wertschöpfungsketten im Rheinischen Revier. […] Die Region ent­wickelt sich zu einer Modellregion für ­geschlossene Stoffkreisläufe und Kreislaufwirtschaft, die neue Wertschöpfungen im Bereich der Bioökonomie etabliert.“[3] Hier werden Bioökonomie und zirkuläre Wertschöpfung also sogar miteinander verzahnt betrachtet.

Dahinter steht die Rationale, dass Wohlstand für die Gesellschaft hauptsächlich durch Innovationen geschaffen wird, die die Arbeitsproduktivität erhöhen oder neue Produkte ermöglichen. Die Herstellung von Gütern, die ökologisch nach­haltig sind und regenerative Ressourcen effizient nutzen, bietet für den Standort Deutschland eine besondere Chance. Als Hochlohnland mit einem geringen Vorkommen an nicht-erneuerbaren minera­lischen und fossilen Rohstoffen wird es mit zunehmender globaler Verknappung derselben – bzw. der gewollten Abkehr von ihnen – von essenzieller Bedeutung sein, die verfügbaren regenerativen Rohstoffe unter hoher Wertschöpfung zu innovativen Produkten zu verarbeiten. Dafür müssen bestehende lineare Wertschöpfungsketten ganzheitlich auf kreislauforientierte Wertschöpfungsketten umgestellt werden. Hierfür bedarf es eines Neudenkens etablierter Verfahren und der Zusammenarbeit von Akteuren über den gesamten Produktionsprozess hinweg. Dies wiederum erfordert auch ein Zusammenwachsen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, wie Biotechnologie, Chemie sowie Maschinen- und Anlagenbau.

Diese biologisch orientierte Konzeption technischer Entwicklungen mit dem Ziel einer innovativen und nachhaltigen Wertschöpfung wird unter dem Begriff „biologische Transformation“ zusammengefasst.[4] Diese biologische Transformation der Materialwissenschaften und der Produktion bedeutet eine Umstellung von einer erdölbasierten zu einer in weiten ­Teilen biobasierten Industrie. Die Übernahme biologischer Baumuster, Prinzipien und Verfahren führt dabei zu hochfunktionellen Herstellungstechniken und Produkten mit neuartigen Eigenschaften, die zugleich ressourcenschonend her­gestellt und in einer Kreislaufwirtschaft genutzt werden können. Um dies zu ­ermöglichen, ist die Entwicklung der zugehörigen Prozesse, Verfahren, Anlagen und Maschinen notwendig, was wiederum ein integratives Zusammenspiel von Biotechnologie und Chemie gemeinsam mit Maschinen- und Anlagenbau erfordert.

Nächste Evolutionsstufe der Biotechnologie

Hierin besteht die nächste und nötige ­Evolutionsstufe der Biotechnologie. Die Prozessentwicklung darf nicht nur den Weg vom Gen und Enzym bis zum Inter­mediat oder Inhaltsstoff umfassen, sondern muss auch das fertige Produkt und dessen Lebenszyklus berücksichtigen. Bei einer solchen ganzheitlichen Betrachtung ergibt sich eine Reihe von Fragen: Wie kann z.B. ein biobasiertes Monomer verarbeitet werden? Wie verhält sich ein mit Peptiden beschichtetes Garn beim Spinnen? Welche Anpassungen an Anlagen sind erforderlich oder möglich? Welche Zuschlagsstoffe werden eingesetzt und sind diese ebenfalls biobasiert und/oder bioabbaubar? Ist das Gesamtprodukt am Ende des Lebenszyklus recyclebar – und wenn ja: unter welchen Rahmenbedingungen? Hierauf Antworten zu finden, erfordert Detailwissen über den gesamten Prozess hinweg sowie unter Einbeziehung verschiedener Fachdisziplinen und Akteure entlang der Wertschöpfungskette bzw. des Wertschöpfungsnetzwerks.

Projekt „Bio4MatPro“ vereint Expertisen

Dieser Herausforderung will sich nun das Projekt „Bio4MatPro“ widmen, das durch Prof. Dr. Ulrich Schwaneberg (RWTH ­Aachen & DWI Leibniz-Institut) und ­Dennis Herzberg (Cluster Industrielle Biotechnologie (CLIB)) koordiniert wird. Das Kompetenzzentrum „Bio4MatPro“ vereint die Expertise einer schlagkräftigen Mischung aus führenden Großunternehmen und KMU, einem erfolgreichen Gründerzentrum mit einem geplanten Bio4MatPro-Translationsforschungslabor sowie exzellenten Wissenschaftlern in einem wachsenden Innovationsnetzwerk und verbindet dieses über einen Venture-Capital-Accelerator mit Investorengeldern. So wird die gesamte Entwicklung von der wissenschaftlichen Idee über die Produktentwicklung in ­einem Translationsforschungslabor im ­Accelerator bis hin zum wagniskapital­geförderten Geschäftsmodell bzw. der ­Firmengründung in einem ineinander­greifenden Konzept umgesetzt. Übergeordnetes Ziel ist es, die Möglichkeiten der Biotechnologie und Produktionstechnik als nächste wissenschaftliche und indus­trielle Entwicklungsstufe zu nutzen, um etablierte Produktkonzepte neu zu denken und diese zukunftsweisenden Möglich­keiten basierend auf regionalen nachwachsenden Rohstoffen zur industriellen Wertschöpfung zu nutzen. Dem Querschnittscharakter der Biotechnologie entsprechend strebt das Kompetenzzentrum Bio4MatPro dabei eine breite Diversifi­zierung mit einer Vielzahl von Abnehmerindustrien an (z.B. Automotive, Kunststoffverarbeitung, Textil, Medizintechnik oder Konsumgüter). Daher ist neben der Biotechnologie und der Chemie auch die Produktions-, Verarbeitungs- und Maschinenbauindustrie zentral in das Kompetenzzentrum eingebunden. Als Alleinstellungsmerkmal von Bio4MatPro werden ­somit parallel Produkte mit maßgeschneiderten Biofunktionsbaukästen sowie die für die Verarbeitung und Produktion ­benötigten Anlagen, Maschinen und Technologien entwickelt. Hierdurch entsteht ein in dieser Form einmaliges Innovationsnetzwerk, das einen wichtigen Wachstumskern mit hoher lokaler Wertschöpfung in der Strukturwandelregion des Rheinischen Reviers schaffen soll.

 

ZUM AUTOR

Dennis Herzberg ist Cluster Manager des CLIB – Cluster Industrielle Biotechnologie e.V. in Düsseldorf. Er verfügt über eine Ausbildung in Biotechnologie und Innovationsmanagement.

[1] https://braunkohle.de/wp-content/uploads/2019/04/Braunkohle-in-Deutschland-Daten-und-Fakten-Statistikfaltblatt-deutsch.pdf, Abruf 24.08.2020.

[2] Investitionsgesetz Kohleregionen – InvKG vom 08.08.2020.

[3] Wirtschafts- und Strukturprogramm für das Rheinische Zukunftsrevier 1.0, S. 21.

[4] Neugebauer R. (2019): Biologische Transformation. Springer Verlag, ISBN 978-3-662-58243-5.

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