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Mit dem Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften vom 20.07.2022 hat der Gesetzgeber die Möglichkeit geschaffen, ein rein virtuelles HV-Format in der Gesellschaftssatzung zu verankern. Das Ziel des Koalitionsvertrags, die Aktionärsrechte der virtuellen HV gleichwertig mit denen einer Präsenz-HV auszugestalten, wurde nicht erreicht. Eine Detailanalyse anhand des Fragerechts.

Seit die virtuelle Hauptversammlung nach dem „COVID-19-Gesetz“ als Kriseninstrument eingesetzt wurde, gab es Versuche, dieses oder zumindest ein virtuelles HV-Format als Regelformat zu etablieren. Anhand der im Gesetz vorgesehenen Eingriffsmöglichkeiten der Unternehmen ins Fragerecht wird im Folgenden erläutert, warum die virtuelle HV (vHV) auf der jetzigen Basis keine gleichberechtigte Teilhabe der Aktionäre im Vergleich zur Präsenz-HV bietet.

Erste Beschränkungen per Einladung möglich

Sofern Fragen vorab einzureichen sind, kann das Fragerecht bereits mit der Einladung beschränkt werden und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem noch gar nicht abgeschätzt werden kann, ob es einer Beschränkung dieses Rechts überhaupt bedarf. Dabei ist die Ausgestaltung des Fragerechts bei vorab einzureichenden Fragen von zentraler Bedeutung, da diese zugleich auch das ebenfalls vorgesehene Nachfragerecht determinieren. Nicht über die Fragen adressierte Themen können dann auch nicht über das Nachfragerecht eingeführt werden, es sei denn, die Antwort bezöge sich darauf oder es handelte sich um einen Sachverhalt, der sich erst nach Ablauf der Frist ergeben hat und daher nicht von der Einreichungsfrist umfasst sind. Letzteres dürfte namentlich auf die Bekanntgabe von Quartalszahlen zutreffen.

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„Verspätete“ Fragen im Ermessen des Vorstands

Die noch im Regierungsentwurf enthaltene Öffnungsklausel, wonach unter gewissen Bedingungen auch Fragen zugelassen werden mussten, die nach Ablauf der Frist eingereicht wurden, wurde im Rechtsausschuss gestrichen. Das Ermessen des Vorstands, solche „verspätet“ eingereichte Fragen dennoch zuzulassen, stellt keinen adäquaten Ersatz auf einen unbedingten Rechtsanspruch dar. Dieses rigide System führt auch zu einer deutlichen Schlechterstellung gegenüber der Präsenz-HV. Bei einer Präsenz-HV müssen Beschränkungen aufgehoben werden, sobald der Grund für die Beschränkung entfallen ist, also beispielsweise einige Redner von ihrem Rederecht keinen Gebrauch gemacht haben oder die Beantwortung der Fragen doch schneller als geplant vorgenommen werden konnte. Dieser obligatorische Mechanismus fehlt. Es stellt sich überhaupt die Frage, ob es derartiger Instrumente bei vorab eingereichten Fragen wirklich bedarf. Nach der gesetzlichen Regelung kann der Vorstand anordnen, dass Fragen bis spätesten drei Tage vor der Hauptversammlung einzureichen sind. Es ist kaum vorstellbar, dass bei einer derartigen zeitlichen Distanz zur Hauptversammlung überhaupt eine zeitliche Überforderung der Verwaltung eintreten kann, zumal das Fragerecht wie das Auskunftsrecht allgemein unter der Bedingung steht, einen Bezug zur Tagesordnung aufzuweisen und zur sachgemäßen Beurteilung erforderlich zu sein.

Beschränkungen als Einflussnahme auf den Inhalt der Fragen!?

Auch die Instrumente zur Beschränkung des Fragerechts müssen auf Kritik stoßen. Neben der Festlegung einer Höchstanzahl von Fragen insgesamt und/oder pro Aktionär ist es auch möglich, eine Zeichenbeschränkung vorzugeben. Gerade die Möglichkeit der Zeichenbeschränkung pro Frage erlaubt eine Fragesteuerung durch den Vorstand. Insbesondere bei Fragen zu komplexeren Sachverhalten, die eine umfangreichere Einbettung in den Kontext zur besseren Verständlichkeit – auch für die anderen Aktionäre – benötigen, besteht die Missbrauchsgefahr darin, dass die Zeichenbeschränkung die Einreichung derartiger Fragen nicht erlaubt und somit auch kritische Fragen ungestellt bleiben.

Entzerrung der Hauptversammlung durch Vorverlagerung gelungen?

Dabei ist die Idee, die eigentliche Hauptversammlung vom Frageteil zu entlasten und mehr Raum für eine Diskussion zwischen Aktionären und Verwaltung zu schaffen, durchaus zu begrüßen. Allerdings ist dieses Ziel in der aktuellen Fassung des Gesetzes defizitär umgesetzt. Da ein Rechtsverlust des Fragerechts eintritt, wenn die Fragen nicht innerhalb der festgelegten Frist gestellt werden, wird es dazu kommen, dass insbesondere Aktionäre Fragen im Vorfeld einreichen, die ansonsten erst einmal die Entwicklung auf der Hauptversammlung abgewartet haben und vielleicht keine Fragen gestellt hätten. Dies wird tendenziell zu einer erhöhen Anzahl an vorab eingereichten Fragen führen.

Eine Parallelität beider Systeme wäre hier sinnvoll gewesen, natürlich mit der Möglichkeit, bereits im Vorfeld gestellte Fragen nicht nochmals beantworten zu müssen, sondern auf die bereits gegebenen Antworten hierzu zu verweisen. Auch ansonsten dürfte es zu dem Effekt kommen, dass Aktionäre die Fragen umfassender und damit zahlreicher stellen, um sich nicht der Unsicherheit ausgesetzt zu sehen, ob weitere Fragen wirklich noch vom Nachfragerecht gedeckt sehen. Das vielfach bemühte Argument, dass sich durch die Vorabeinreichung der Fragen die Antwortqualität erhöht, kann der Autor aus seinen Erfahrungen in den Jahren 2020 bis 2022 jedenfalls nicht bestätigen.

Verletzung der Aktionärsrechte ohne Sanktion!

Des Weiteren stellt gerade die tiefgreifende Einschränkung des Anfechtungsrechts bei Verletzung der Aktionärsrechte aufgrund technischer Störungen eine deutliche und gravierende Schlechterstellung gegenüber der Präsenz-HV dar. Von einigen Ausnahme abgesehen ist die Verletzung der Aktionärs-rechte bei technischen Störungen sanktionslos. Damit aber Aktionärsrechte effektiv ausgeübt werden können, bedarf es der empfindlichen Sanktionierung bei deren Verletzung. Damit ist eine Regelung, die das Anfechtungsrecht ausschließt, ohne danach zu differenzieren, ob die Störung der Gesellschaft oder dem Aktionär zuzurechnen ist, schlicht nicht vereinbar. Den Aktionärsrechten wird damit die Spitze gebrochen. Es kann keinen interessengerechten Ausgleich darstellen, dass ausschließlich die Aktionäre die Risiken eines vermeintlich fortschrittlichen HV-Formats zu tragen haben. Soweit ein Anfechtungsrecht dennoch besteht, greift dieses nur ein, sofern der Gesellschaft Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt. Immerhin kann dieser Verschuldensmaßstab in der Satzung anderweitig geregelt, sprich verschärft werden.

Enthaftung von den Anfechtungsrisiken durch Outsourcing

Darüber hinaus soll nach Auffassung des Gesetzgebers Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit ausgeschlossen sein, wenn ein professioneller HV-Dienstleister eingesetzt wird. Diese Form der „Enthaftung“ ist inakzeptabel. Der HV-Dienstleiter wird als Erfüllungsgehilfe der Gesellschaft tätig. Für das Verschulden dessen hat die Gesellschaft nach § 278 BGB wie für eigenes Verschulden einzustehen. Der Grund für eine derartige Privilegierung ist nicht erkennbar.

Fazit

Die virtuelle Hauptversammlung ist keineswegs eine gleichwertige Alternative zur Präsenz-HV. Dies liegt neben den Kritikpunkten an den Einzelregelungen im Generellen darin begründet, dass der Gesetzgeber mit dem Gesetz gar keine virtuelle, sondern eine rein digitale Hauptversammlung geschaffen hat. Unter einer virtuellen HV verstehe ich eine HV, die eine vollständige Interaktion zwischen den Aktionären und der Verwaltung während der gesamten Dauer der HV vorsieht. Im besten Fall sollte sogar auch eine Kommunikation der Aktionäre untereinander möglich sein.

Der Gesetzgeber sieht aber überhaupt nur an zwei Stellen (Rede- und Antragsrecht) zwingend eine eingeschränkte Interaktion mit den Aktionären vor. Damit entkleidet der Gesetzgeber die Hauptversammlung ihrer Funktion als Seismograf für die Stimmung der Aktionäre, in dem eine unmittelbare und direkte Rückkoppelung auf die Ausführungen der Verwaltung und der anderen Aktionäre fehlt. Zu einer lebendigen Debattenkultur gehört – in gewissen Grenzen – auch das Element der Zwischenrufe als Instrument der zeitlich unmittelbaren Auseinandersetzung, wenn man dem Gegenargument nicht die Spitze nehmen will.

Die Rechtsnachteile für die Aktionäre überwiegen den Vorteil der Möglichkeit oder gar nur die Hoffnung auf die Teilnahme eines breiteren Aktionärskreises. Ohnehin ergeben höhere Präsenzquoten auf Kosten der Aktionärsrechte keinen Sinn. Den unterschiedlichen Interessen und Erwartungen der Aktionäre an eine Hauptversammlung kann am besten durch eine Hybrid-HV Rechnung getragen werden. Dann können die Rechte nach der Art der Teilnahme (virtuell oder in Präsenz) unterschiedlich ausgestaltet werden, und der einzelne Aktionär kann entscheiden, welche Ausgestaltung seinen Präferenzen jeweils entspricht.

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Autor/Autorin

Markus Kienle
Rechtsanwalt, Mitglied des Vorstands, SdK Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger e.V. at SdK Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger e.V. | Website

Markus Kienle ist Rechtsanwalt und seit 1999 Sprecher der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger e.V. (SdK), seit dem Jahr 2011 auch Vorstandsmitglied. Er hat in dieser Zeit mehrere hundert Hauptversammlungen besucht.