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Seit 160 Jahren steht die Zelle im Fokus der Medizin – doch erst mit der Erfindung induzierter pluripotenter Stammzellen („iPSC“) vor etwa 15 Jahren wurde die Tür für die Entwicklung patientenspezifischer Zelltherapien geöffnet, einer Therapieform, bei der die lebende Zelle selbst der Wirkstoff ist. Mit iPSC-basierten Ansätzen eröffnen sich neue Entwicklungspfade für ursächliche Therapieoptionen „vom Patienten für den Patienten“. Von Dr. Cord Dohrmann

 

Die Zellen sind die funktionellen Einheiten eines jeden Organismus und stehen damit auch im Fokus der modernen Medizin. Der menschliche Organismus besteht aus mehr als 300 Zelltypen; Mit dem Einzug von Single Cell Sequencing werden zunehmend neue postuliert, die sich signifikant von den klassisch definierten abgrenzen. Generationen von Wissenschaftlern haben versucht, die Funktion von verschiedenen Zellen zu verstehen und mit Wirkstoffen aller Art zu beeinflussen. In den letzten Jahren wird das Potenzial, Zellen selbst als Therapeutikum für kurative Behandlungen einzusetzen, immer konkreter.

Kein gesunder Organismus ohne gesunde Zellen

Auch wenn eine medikamentöse Behandlung heute in zahlreichen Fällen die Symptome einer Erkrankung auf ein erträgliches Maß lindern kann, existieren vielzählige Erkrankungen, bei denen ein bestimmter Zelltyp komplett fehlt oder eine Organfunktion unwiederbringlich verlorengeht – dann lässt sich die Funktion auch mit einer Kombination aus verschiedenen Wirkstoffen nicht auf ein gesundes Maß stabilisieren. Eine Fehlfunktion der Zelle kann deshalb den dauerhaften Verlust eines Organs bedeuten – und damit letztendlich eine Transplantation notwendig machen. Allerdings können Organtransplantationen nur der letzte, lebensrettende Ausweg aus einem Organversagen sein, da die Verfügbarkeit von Spenderorganen und die Erfolgsraten von Organtransplantationen viel zu gering sind. Auch wenn bisweilen künstliche Strukturen in der Medizin eingesetzt werden, wie z.B. zum Ersatz von Gelenken, so können sie die Funktion lebender Zellen bisher nicht übernehmen.

Induzierte Pluripotenz: der Schlüssel zu translationaler Zelltherapie

Eine überaus vielversprechende Möglichkeit, fehlende oder nicht ausreichend funktionierende Zellen zu ersetzen, ist die Herstellung bestimmter Zelltypen mithilfe von sogenannten pluripotenten Stammzellen, die sich in nahezu alle Zelltypen des menschlichen Körpers differenzieren lassen. Pluripotente Stammzellen wurden bereits in den frühen 1980er-Jahren erstmals isoliert; jedoch gelang es erst 2006 im Labor des japanischen Wissenschaftlers Shinya Yamanaka, adulte Zellen mittels bestimmter Transkriptionsfaktoren in das Stammzellstadium zu reprogrammieren. Die Erfindung solcher induzierter pluripotenter Stammzellen („iPSC“) wurde bereits wenige Jahre später, nämlich 2012, mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin gewürdigt und gilt als wahrhaftiger Meilenstein für anwendungsorientierte regenerative Medizin: Da iPS-Zellen aus gewöhnlichen Haut oder Blutzellen produziert werden können, bestehen gegen ihre Verwendung keine ethischen Bedenken wie etwa bei embryonalen Stammzellen.

Eine Technologie – fast unendliche Möglichkeiten

Das Anwendungsspektrum der iPSC-Technologie in der medizinischen Forschung und Entwicklung ist enorm. Beispielsweise können Zellen und Zellsysteme für den realistischen Nachbau einer Erkrankung, die sogenannte Disease in a Dish, verwendet werden und damit die Identifizierung von potenziellen neuen Medikamenten erheblich erleichtern. Auch die Diagnose bestimmter neuronaler Erkrankungen ohne Notwendigkeit einer Hirnbiopsie rückt durch iPS-Zellen in greifbare Nähe. Allerdings kann die Technologie auch zur Produktion von Zellen verwendet werden, die einen bestimmten Zelltyp ersetzen, der bei einem Patienten krankheitsbedingt nicht mehr vorhanden ist. Als eine solche Zelltherapie setzt die Behandlung an der Ursache einer Erkrankung an und hat dort das Potenzial, Zelldefekte und Störungen zu kompensieren oder sogar zu beheben und dem Patienten damit eine längerfristige Erleichterung zu ermöglichen, die mit konventioneller medikamentöser Behandlung nicht denkbar wäre.

Ursächliche Therapie für insulinabhängigen Diabetes

Betrachten wir beispielsweise Betazellen. Sie sitzen in Zellinseln in der Bauchspeicheldrüse, produzieren Insulin und regulieren damit den Blutzuckerspiegel. Bei Diabetes Typ 1 zerstört das Immunsystem des Patienten diese körpereigenen Betazellen mit der Folge, dass der Blutzuckerspiegel genau überwacht und künstliches Insulin gespritzt werden muss. Einen potenziellen Ausweg aus diesem Behandlungsregime bieten mögliche Betazellersatztherapien, mit denen die bei Diabetespatienten nicht mehr vorhandenen Betazellen durch neue ersetzt werden. Mithilfe von iPS-Zelllinien lassen sich Betazellen prinzipiell in ausreichend großen Mengen für eine Transplantation in den Patienten produzieren, welche dann in Form einer Injektion oder einer Chipeinsetzung erfolgen kann.

Zelltherapie: Transplantieren unter dem Radar

Natürlich sieht sich auch die Entwicklung einer effektiven und verträglichen Zelltherapie Herausforderungen gegenüber – z.B. würde eine Zelltherapie, die aus anderen als den körpereigenen Zellen des Patienten gewonnen wird, vom Körper als fremd erkannt; daher wäre genau wie bei der Transplantation eines Spenderorgans eine Immunreaktion zu erwarten. Während diese jedoch bei Organtransplantationen häufig dauerhaft mit starken Immunsuppressiva unterdrückt werden muss, besteht bei Zelltherapien die Möglichkeit des „Cloaking“. Dabei werden Zellen vor der Transplantation so manipuliert, dass sie von dem Immunsystem des Patienten nicht mehr als fremd erkannt werden können und somit auch nicht angegriffen werden. Erste Betazellersatz-Therapieansätze haben bereits vielversprechende Ergebnisse in diabetischen Tiermodellen geliefert und könnten somit bereits in wenigen Jahren als erste an der Ursache ansetzende Therapie für insulinabhängigen Diabetes zugelassen werden.

Der nächste Schritt: personalisierte Zelltherapie

Über diesen Ansatz hinaus wird Zelltherapie jedoch weitere Türen zu einer Medizin „vom Patienten zum Patienten“ öffnen. Eine solche personalisierte Zelltherapie kann jedoch nur so wirksam sein wie die Datenbasis, die dem Ansatz zugrunde liegt, valide und reproduzierbar ist. Daher muss sie auf einer Plattform entwickelt werden, mit der die Omik-Daten eines Patienten, also Genom, Proteom, Transkriptom und Metabolom, möglichst genau analysiert werden können. Die Omik-Daten müssen im Anschluss in einem holistischen Gesamtkontext mit den Daten anderer Patienten zusammengebracht werden, um einen möglichst effektiven personalisierten Ansatz zu erreichen. Dabei wird perspektivisch auch künstliche Intelligenz eine wichtige Rolle spielen – nicht nur bei der Bewältigung der gigantischen Datenflut, die bei dieser Therapie anfällt, sondern auch bei der systematischen Analyse der verschiedenen Daten. Künstliche Intelligenz kann dabei helfen, Gemeinsamkeiten und Strukturen in vermeintlich unstrukturierten Daten zu erkennen, und damit dazu beitragen, die Ursachen von Krankheiten und weitere Randbedingungen, die ihre Entstehung und ihren Fortschritt begünstigen, zu identifizieren. Forschungs- und Entwicklungspartner wie Evotec, die alle Schritte für die Entwicklung solcher innovativen Therapien aus der eigenen Plattform abdecken können, haben daher gute Chancen, bei der Entwicklung von Zelltherapien der Zukunft einen wichtigen Beitrag zu leisten. Das Ziel ist es, den erheblichen ungedeckten medizinischen Bedarf von Patienten in einem breiten Indikationsspektrum zu decken – mit einem Ansatz, der das Gesundheitssystem auf lange Sicht entlastet, indem ­Erkrankungen ursächlich behandelbar werden.

Autor/Autorin

Dr. Cord Dohrmann
CSO at Evotec

Dr. Cord Dohrmann ist seit September 2010 Forschungsvorstand von Evotec. Während seiner Amtszeit entwickelte das Unternehmen eine proprietäre multimodale Plattform für die Forschung und Entwicklung hochinnovativer niedermolekularer Wirkstoffe, Biologika, Zell- und Gentherapien.