Radioisotopbasierte Therapien und Diagnostika zur Krebsbehandlung unterscheiden sich stark von anderen ­Pharmaprodukten. Durch die Halbwertszeit der Radioisotope müssen alle Abläufe von der Beschaffung bis hin zur ­Verabreichung sehr schnell erfolgen. Der Wettlauf gegen die Zeit ist hier nur durch ein innovatives Lieferketten­management zu gewinnen. Von Steffen Schuster


T
rotz großer Fortschritte in der Forschung bleibt Krebs eine der Haupttodesursachen weltweit.1 Präzisions­onkologische Ansätze wie die zielgerichtete Radionuklidtherapie bieten durch ein ­potenziell verbessertes Wirksamkeits- und Sicherheitsprofil neue Optionen für die Krebstherapie.

Radiopharmazeutika sind wie Eiswürfel in der Sonne

Die Besonderheit, die Radiopharmazeutika im Vergleich zu den meisten anderen ­Pharmaprodukten aufweisen, ist ihre kurze Haltbarkeit, die durch die geringe Halbwertszeit der Radioisotope bedingt ist – also die Zeit, in der sich die Menge und ­damit auch die Aktivität der Isotope um die Hälfte verringert.

Bei der zielgerichteten Radionuklidtherapie, auch TRT (Targeted Radionuclide Therapy) genannt, wird ein tumorspezifisches Molekül mit einem medizinischen Radioisotop gekoppelt. Intravenös verabreicht, gelangt das Radioisotop direkt zu den Krebszellen und gibt dort zielgenau eine vorab berechnete Menge ionisierender Strahlung ab. Je nach eingesetztem Radioisotop werden die Tumorzellen entweder sichtbar gemacht oder zerstört. TRT ermöglicht eine hohe Präzision bei der Lokalisierung und Bekämpfung von Tumoren, wodurch Schäden des umliegenden gesunden Gewebes minimiert werden können.

Da die Radioisotope ein gewisses Level an Aktivität besitzen müssen, um wirksam zu sein, haben die fertig produzierten Isotope nur ein enges Zeitfenster (24 bis 48 Stunden innerhalb Europas, maximal 72 Stunden für den Rest der Welt), um zu den Patienten geliefert zu werden. Entscheidend ist hierbei: Sie ­können nicht vorproduziert und gelagert werden. Jede Patientendosis wird mit der bestellten Menge an Aktivität für einen ­Behandlungszeitpunkt abgefüllt.

Man kann sich das wie einen Eiswürfel vorstellen, der zu schmelzen beginnt, sobald man ihn aus dem Gefrierschrank nimmt.

Funktionsweise TRT. Grafik Copyright: ITM Isotope Technologies Munich SE
Schlüssel-Schloss-Prinzip der zielgerichteten Radionuklidtherapie. Grafik Copyright: ITM Isotope Technologies Munich SE

Um Patienten weltweit dauerhaft mit diesen Diagnostika und Therapeutika ­versorgen zu können, ist daher eine einwandfreie und ausgeklügelte Lieferkette entlang der gesamten Produktwertschöpfung nötig. Die ITM Isotope Technologies ­Munich SE (ITM) hat daher vor knapp 20 Jahren als Produzent und Lieferant von hochwertigen medizinischen Radioisotopen mit dem Aufbau eines weitreichenden Netzwerks begonnen. Wie dieses Netzwerk zum Tragen kommt und dabei hilft, die zahlreichen Schritte zu koordinieren, um ein medizinisches Produkt zu erhalten, lässt sich anhand des Radioisotops Lutetium (177Lu) anschaulich zeigen:

Mit dem Unplanbaren planen

In der ITM-Produktionsstätte in Garching bei München wird das Rohmaterial, das Schwermetall Ytterbium-176 (176Yb), als Oxid in Quarzampullen gefüllt und mit ­Helium begast. Von dort werden die ­Ampullen zu einem Kernreaktor transportiert, wo durch Neutronenbestrahlung aus dem 176Yb eine kleine Menge an 177Lu ­gebildet wird.

Ab hier beginnt die Uhr bereits zu ­ticken bzw. der Eiswürfel zu schmelzen: Die Ampulle mit dem entstandenen 177Lu, das eine Halbwertszeit von knapp einer Woche aufweist, muss wieder zu einer ­unserer Produktionsstätten transportiert werden, wo das 177Lu isoliert, aufgereinigt und zum Endprodukt formuliert wird: dem hochreinen n.c.a. 177Lu. Dieses wird ­anschließend so schnell wie möglich in ein Krankenhaus oder ein Behandlungszentrum geliefert, um zum vorbestimmten Zeitpunkt mit einem tumorspezifischen Molekül gekoppelt an den Patienten verabreicht zu werden.

Übersicht der Lieferkette von ITMs medizinischen Radioistotop n.c.a. 177Lu. Grafik Copyright: ITM Isotope Technologies Munich SE
Übersicht der Lieferkette von ITMs medizinischem Radioistotop n.c.a. Lu-177. Grafik Copyright: ITM Isotope Technologies Munich SE

Entlang dieser komplexen globalen Lieferkette kann es an zahlreichen Punkten kurzfristig zu Störungen, Ausfällen oder Verzögerungen kommen. Zudem muss ­neben einer komplexen Produktions­planung mit dem Unplanbaren geplant werden: Die Erzeugung des 177Lu im Kernreaktor nimmt schon mehr als eine Woche in Anspruch, allerdings erfolgen die meisten Aufträge erst eine Woche bis wenige Tage vor Therapiebeginn.

Externe Faktoren machen Liefer­kettenmanagement hochkomplex

Eine der Hauptaufgaben des globalen ITM-Lieferkettenteams (Global Supply Chain Management; GSCM) ist es, im Bedarfsfall schnell zu reagieren und Lösungen zu ­finden, um die Versorgung von über 450 Kliniken in mehr als 60 Ländern weltweit sicherzustellen. So kann beispielsweise spontan ein Reaktor ausfallen und die ­Produktion von 177Lu verzögern, was ­Auswirkungen auf die gesamte folgende Lieferkette hat. Um bei solchen Ausfällen reaktionsfähig zu bleiben, ­wurde ein weltweites Reaktorennetzwerk etabliert, das es erlaubt, auf andere ­Reaktoren auszuweichen. Auch die gesamte Logistik ist stark von externen Faktoren abhängig, da der Transport über Dienstleister erfolgt, ­welche koordiniert werden müssen.

ITM-Logo. Copyright: ITM Isotope Technologies Munich SE
ITM-Logo. Copyright: ITM Isotope Technologies Munich SE

Als im Zuge der Pandemie der Flug­verkehr stark eingeschränkt wurde, ­mussten wir schnell reagieren und haben beispielsweise innerhalb Europas kurzfristig auf Autotransporte mit mehreren Fahrern umgestellt, um die Produkte rechtzeitig an ihren Zielort zu bringen. Die Autobahn ist ebenfalls eine gute Metapher für unsere täglichen Herausforderungen: Bildet sich spontan ein Stau, muss möglichst schnell eine Umleitung gefunden werden – nur, dass es dabei keine Verzögerung geben darf.

Flexibilität und Mitarbeiter­kompetenz sind das A und O

Die fortschreitende Digitalisierung ist für viele Firmen der Schlüssel zu mehr Leistungsfähigkeit und Produktivität, da sie komplexe und zeitaufwendige Prozesse vereinfacht. Auch beim GSCM von ITM werden vielerlei Aufgaben durch digitale Lösungen unterstützt, einschließlich eines unternehmensintern programmierten Planungssystems, das anders als Standardprogramme die Halbwertszeit berücksichtigen kann. Der Erfolg beruht aber vor ­allem auf der Kompetenz und Flexibilität von Mitarbeitern, die kreativ Lösungen für plötzlich auftretende ­Probleme finden, ­zuverlässig die Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen und Dienstleistern koordinieren und schwierige Situationen lösen. Die Digitalisierung erleichtert zwar die Wege der Kommunikation, am wichtigsten ist aber immer noch der Mensch, der entscheidet, was wann an wen kommuniziert wird, und ­einen konstanten Informationsfluss aufrechterhält. In einem so fluiden und vielschichtigen System wie unserer Liefer­kette ist dies essenziell.

Einblick in die Produktion von ITM. Copyright: ITM Isotope Technologies Munich SE

Fortlaufender Ausbau von Produktions- und Lieferkapazitäten zur Versorgung der Patienten

Das TRT-Feld nimmt kontinuierlich an Fahrt auf und hat das Potenzial, das ­Leben vieler Patienten zu verbessern. Entsprechend wird auch der Bedarf an medizi­nischen Radioisotopen weiter steigen. ITM treibt deshalb nicht nur seine TRT-Pipeline und klinischen Studien voran, sondern baut fortlaufend Produktions- und Lieferkapazitäten weiter aus, um die Versorgung seiner Studienzentren wie auch des allgemeinen Markts mit unternehmenseigenen Radioisotopen zu gewährleisten. Im ­Zentrum dieser Aktivitäten und insbesondere des Lieferkettenmanagements steht dabei das Wohl der Krebs­patienten.

Dieser Artikel ist in der Plattform Life Sciences-Ausgabe „Smarte Medizin“ 1/2023 erschienen, die Sie hier als E-Magazin abrufen können.

  1. World Health Organization: WHO reveals leading causes of death and disability worldwide: 2000–2019: www.who.int/news/item/09-12-2020-who-reveals-leadingcauses-of-death-and-disability-worldwide-2000-2019

Autor/Autorin

Steffen Schuster
Chief Excecutive Officer at ITM Isotope Technologies Munich SE

Steffen Schuster ist seit Dezember 2011 Chief Executive Officer der ITM Isotope Technologies Munich SE. Während seiner Zeit bei ITM hat er die Entwicklung und Produktion von medizinischen Radioisotopen und Radiopharmazeutika international stark ausgebaut und ITM erfolgreich von einem reinen Radioisotopenhersteller zu einem globalen Biotechnologie- und Radiopharmazieunternehmen geführt. Vor seiner Tätigkeit bei ITM war Schuster als General Partner bei TVM Capital sowie als Finanzvorstand der börsennotierten cycos AG tätig.