Tagtäglich entstehen große Mengen wertvoller Gesundheitsdaten – doch vor allem in Deutschland sind sie für Forschungszwecke vielfach unbrauchbar und zudem der industriellen Forschung größtenteils nicht zugänglich. Das ließe sich ändern. Von Tilman Mueller-Stöfen, LL.M.

 

Ob in Krankenhäusern, Arztpraxen, Apotheken, Laboren und Krankenregistern oder durch digitale Gesundheitsanwendungen: Die Quellen für Gesundheitsdaten sind mannigfaltig. Im Zeitalter von Hochleistungsrechnern, globaler Vernetzung, Machine Learning und künstlicher Intelligenz bietet der täglich ­erhobene Gesundheitsdatenschatz ein enor­mes und ständig wachsendes Potenzial für eine Sekundärnutzung zur Forschung und Entwicklung im Gesundheitswesen.

Dennoch ist nur ein Bruchteil dieser Daten in einer zur Forschung geeigneten Form verfügbar. Zudem ist der industriellen Forschung der Zugang zu Gesundheitsdaten aus dem beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) angesiedelten Forschungsdatenzentrum (FDZ) verwehrt. Sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene arbeiten ­daher Politik, Gesetzgeber und Gesundheitswirtschaft daran, die Bereitstellung von Gesundheitsdaten für die Forschung zu verbessern.

Herausforderung bleibt die ­Datenqualität

Daten müssen strukturiert, interoperabel und unter Verwendung einheitlicher ­Begrifflichkeiten vorliegen, um mit ihnen effizient forschen zu können. Im deutschen Versorgungssystem liegt der Anteil strukturierter Daten in elektronischen Systemen nach Untersuchungen des Verbands der deutschen Pharmaunternehmen bei unter 25%. Zum Vergleich: Finnland und Großbritannien weisen in allen Versorgungssektoren einen Anteil strukturierter Daten von über 99 % auf.

Auf die Erhöhung der Datenqualität ­zielen verschiedene europäische und ­nationale Initiativen ab; von dem in einem Verordnungsentwurf der Kommission vorgesehenen Europäischen Raum für ­Gesundheitsdaten (European Health Data Space; EHDS) bis hin zu der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Medizininformatik-Initiative, die u.a. die notwendigen ­Rahmenbedingungen für die Schaffung hochwertiger Datensätze zum Ziel hat. ­Allerdings ist derzeit gerade die deutsche Versorgungspraxis von einer durchgän­gigen Erhebung strukturierter Daten weit entfernt. Die unstrukturierte Erfassung von Patientendaten und der Austausch von Daten in uneinheitlichen Formaten ­bestimmen weiterhin die Datenverarbeitung in einem Großteil der deutschen Krankenhäuser, Arztpraxen und Apotheken.

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ePA und EHDS als erste ­Lösungsansätze

Abhilfe versprechen insbesondere die elektronische Patientenakte (ePA) und der EHDS, mit dem ein europäisches Austausch­format für elektronische Patientenakten geschaffen werden soll. In Deutschland verläuft die Einführung der ePA schleppend. Erste Dokumente, wie der Notfall­datensatz, der Medikationsplan und Arztbriefe, können mittlerweile in der ePA ­gespeichert werden und sind über die von gematik betriebene Telematikinfrastruktur (TI) den Nutzungsberechtigten zugänglich. Gleichwohl nutzen laut gematik bislang lediglich 600.000 Patienten die ePA. Eine maßgebliche Bremse ist das umständliche Antragsverfahren (Opt-in-ePA). Die Regierungskoalition hat sich daher für dessen Ablösung durch ein Opt-out-­Verfahren entschieden, welches aktuell von gematik geprüft wird. Tatsächlich wäre ein gut kommuniziertes und trans­parentes Opt-out-Verfahren unter Ein­haltung von Datenschutz und Daten­sicherheit ein bedeutender Meilenstein, um die ePA im deutschen Versorgungs­system zu etablieren und einen verbesserten Datenpool zur Nutzung für die Forschung zu schaffen.

Industrielle Forschung bei Zugriff auf Gesundheitsdaten im Nachteil

Die Datentransparenzvorschriften des im Dezember 2019 in Kraft getretenen Digitale-Versorgung-Gesetzes sehen vor, die von den gesetzlichen Krankenkassen erho­benen Versichertendaten durch das FDZ pseudonymisiert und strukturiert der ­medizinischen Forschung auf Antrag ­zugänglich zu machen. Zudem sollen ­Patienten nach dem im Dezember 2020 in Kraft getretenen Patientendatenschutz­gesetz in der Lage sein, ihre in der ePA ­gespeicherten Daten dem FDZ zur Bereitstellung für die Forschung zur Verfügung zu stellen. Nach Angaben von gematik wird eine Freigabe von ePA-Daten zur Übermittlung an das FDZ aber erst ab dem 1. Juli 2024 möglich sein.

In Deutschland tragen forschende Arzneimittelhersteller, Medizintechnikunternehmen oder die Biotechindustrie ganz ­wesentlich zur medizinischen Forschung und damit Verbesserung der Patientenversorgung bei. Foto Copyright: Gorodenkoff – stock.adobe.com

Die Zugänglichmachung setzt eine ­Nutzungsberechtigung voraus, die das ­Gesetz nur bestimmten Akteuren einräumt, u.a. Krankenkassen sowie verschiedenen öffentlichen Forschungs­einrichtungen. Die industrielle Forschung gehört nicht zum Kreis der berechtigten Antragssteller und ist daher von der ­Nutzung dieser Daten ausgeschlossen.

Dies verwundert, tragen doch auch in Deutschland gerade forschende Arzneimittelhersteller, Medizintechnikunternehmen oder die Biotechindustrie ganz ­wesentlich zur medizinischen Forschung und damit Verbesserung der Patientenversorgung bei. „Die industrielle Forschung und Entwicklung ist ein Wachstums­treiber in der Gesundheitswirtschaft am Innova­tionsstandort Deutschland.“ Zu diesem Ergebnis kommt eine vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) im Jahr 2022 herausgegebene Studie zu Fakten und Zahlen der deutschen Gesundheitswirtschaft. Die im ­Beobachtungszeitraum 2012 bis 2021 erhobenen Daten ergeben, dass ein Großteil der Bruttowertschöpfung der Forschung und Entwicklung im industriellen Teil­bereich der Gesundheitswirtschaft bei überproportional hohen Wachstumsraten in gerade diesem Bereich erbracht wird. Eine besonders hohe Arbeitsproduktivität bescheinigt die Studie Forschungseinrichtungen für Humanarzneimittel, also einem Kernbereich der industriellen Forschung, der wie kaum ein anderer auf Gesundheitsdaten angewiesen ist.

Finnland zeigt: Es geht auch anders

Dass es unter den Rahmenbedingungen europäischen Rechts auch anders geht, zeigen Gesetzgebung und Praxis im europäischen Ausland. So bietet die finnische Antragstelle Findata für Wissenschaft, ­Behörden und industrielle Forschung ­gleichermaßen Gesundheitsdatensätze in einer sicheren Onlineumgebung zu Forschungszwecken an. Die Freigabe der ­Daten knüpft dabei nicht an die Identität des ­Antragstellers, sondern im Wesent­lichen an Gegenstand, Zweck und Dauer der Verar­beitung, die dem gesellschaft­lichen Interesse dienen und das Patientenwohl, insbesondere den Datenschutz, ­gewährleisten müssen. Damit steht der finnische Weg in Einklang mit dem risikobasierten Ansatz der DSGVO und den Grundsätzen des EHDS, welcher gerade auch der forschenden Industrie die Sekundärnutzung von Gesundheitsdaten ermöglichen soll.

Erste Verbesserungen für die deutsche Gesundheitsindustrie in Sicht

Es überrascht daher nicht, dass in Deutschland weite Teile der Politik und zahlreiche Verbände für eine Verbesserung des Zugriffs der Gesundheits­industrie auf Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken eintreten. Die Ampel hat sich im Koalitionsvertrag darauf verständigt, ein Gesundheitsdatennutzungs­gesetz zur besseren wissenschaftlichen Nutzung von Gesundheitsdaten in Einklang mit der DSGVO auf den Weg zu ­bringen und eine dezentrale Forschungsdateninfrastruktur aufzubauen.

Eine Entschließung des Bundesrats zur Ausgestaltung eines Gesundheits­datennutzungsgesetzes vom 16. Dezember 2022 fordert u.a., dass sich die Nutzungsberechtigung nicht wie bislang an Eigenschaften des Antragstellers orientieren soll, sondern an die mit der Forschung verfolgten Nutzungszwecke. Außerdem fordert die Entschließung Maßnahmen zur Verbesserung der Datenqualität und Interoperabilität, um die Nutzbarkeit der Daten für die Forschung zu erhöhen. ­Unterstützt von europäischen Initiativen wie dem EHDS und unter Berücksichtigung des risikobasierten Ansatzes der ­DSGVO ist somit auch für die deutsche ­Gesundheitswirtschaft ein erster Schritt in Richtung eines verbesserten Zugriffs auf werthal­tige Gesundheitsdaten zu Forschungs­zwecken getan.

Nachtrag vom 3.4.2023: Zwischenzeitlich hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eine Digitalisierungsstrategie vorgelegt, die der Industrieforschung neuen Schub verleihen dürfte. Das BMG möchte mit zwei Gesetzesvorhaben, einem Digitalgesetz und einem Gesundheitsdatennutzungsgesetz, u. a. eine breitere Nutzung der ePA durch die Einführung eines Opt-Out-Verfahrens, eine Vereinfachung der Datenfreigabe aus der ePA für die Forschung sowie ein Recht der forschenden Industrie auf einen Zugang zu Daten aus dem Forschungsdatenzentrum erreichen. Sie hierzu die Pressemitteilung und die Broschüre Gemeinsam Digital – Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen und die Pflege des BMG.

Dieser Artikel ist in der Plattform Life Sciences-Ausgabe „Smarte Medizin“ 1/2023 erschienen, die Sie hier als E-Magazin abrufen können.

 

Autor/Autorin

Tilmann Mueller-Stöfen
Rechtsanwalt, Partner Standort Hamburg at Weitnauer Partnerschaft mbB Rechtsanwälte Steuerberater | Website

Tilman Mueller-Stöfen, LL.M. ist Partner der Kanzlei Weitnauer Rechtsanwälte und Steuerberater. Er verantwortet dort die Bereiche IT-Recht und Datenschutzrecht und berät in Digital-Health-Projekten.