Lassen Sie uns gemeinsam einen Blick in die Zukunft werfen: Wie wird die Medikamententherapie im Jahr 2048 aussehen? Was wird machbar sein, befördert durch Digitalisierung, Big Data und KI? Welche Technologien können sich in einer ­Zukunft beweisen, in der immer mehr Menschen gesund altern wollen? Wie lässt sich gleichberechtigter Zugang zu immer komplexeren Therapien ermöglichen? Gentherapie wird ein zentraler Therapieansatz sein, der Antworten auf diese ­Herausforderungen liefert, aber auch tiefgreifende ethische Fragen aufwirft.

Je besser man Trends erkennt und diese mit technologischen Innovationen in Verbindung bringt, desto präziser lassen sich Hypothesen über zukünftige Entwicklungen aufstellen. Dabei spielt es zunächst eine untergeordnete Rolle, ob diese technologischen Fortschritte bereits in ihrer Funktionalität ausgereift und breit anwendbar sind. Wenn wir Annahmen zur Entwicklung der Medikamententherapie in den nächsten 25 Jahren aufstellen wollen, lohnt es sich daher, relevante Trends und den damit einhergehenden Innovations­bedarf zu betrachten, um Technologien zu identifizieren, die schon heute diesen ­Anforderungen zumindest ansatzweise ­begegnen.

Digitalisierung, Big Data und KI

Betrachten wir als ersten Trend Digitalisierung, Big Data und KI. Mit deren Hilfe wird die Biopharmaforschung und -entwicklung zunehmend zu einem rationalen „Engineering-Prozess“, weg vom empirischen „trial and error“, was bereits heute zu einer schnelleren und effizienteren ­Entwicklung von besseren Produkten führt. KI wird nicht nur die Wirkstoff­findung beschleunigen, sondern auch unser Verständnis von Ätiologie, Pathophysiologie und individueller Prädisposition von und für Krankheiten verbessern. Eine Modalität, die stark davon profitieren wird, ist die Gentherapie, insbesondere die Genomeditierung. Diese ermöglicht präzise Änderungen in der DNA und damit Korrekturen, Verbes­serungen oder sogar Ergänzungen (beispielsweise die Codierung für ein therapeutisches Protein). ­Genomeditierung ist hochspezifisch und individualisierbar und somit eine präzise Antwort auf das detaillierte Verständnis von Krankheitsprozessen. Schon heute werden mehr und mehr Gentherapien ­zugelassen – derzeit rund 16 allein durch die EMA –, inkl. erster In-vivo-Gentherapien, und Gentherapien der zweiten Generation (Genomeditierung mittels „CRISPR“ und „base-editing“) ­befinden sich bereits in der klinischen Entwicklung.

Silver Society

In Industrienationen altert die Gesellschaft. Immer mehr ältere Patienten der Silver Society leben länger mit Mehr­facherkrankungen. Sie benötigen Kombinationen von Wirkstoffen unterschied­licher Klassen. Neben hoher Effektivität werden Verträglichkeit, ein geringes Interaktionspotenzial sowie eine unkomplizierte Verabreichung zunehmend wichtiger, um Therapietreue und -erfolg sicherzustellen. In Zukunft wird es „intelligente“ Medikamente geben, in denen unterschiedliche Wirkstoffe ein- und ausgeschaltet werden können, die individualisierbar sind, sich den Bedürfnissen anpassen und eine ­lange Wirkdauer haben. Zum Beispiel könnten genetische Kassetten eingesetzt werden, um Therapeutika bedarfsgerecht in bestimmten Geweben zu produzieren. Solche Medikamente versprechen Heilung bei hoher Sicherheit und Komfort – bei heutigen Therapieansätzen eher die ­Ausnahme.

Foto: © Ир

Illustration. © Ирина Батюк, sveta – stock.adobe.com 
Illustration. © Ирина Батюк, sveta – stock.adobe.com

Schon heute werden unterschiedliche therapeutische Modalitäten kombiniert, z.B. in CAR-T-Zell-Therapien oder Antikörper-Wirkstoff-Konjugaten (ADCs). Genetische Schaltkreise und Safe-Harbour-Insertionen durch die Genomeditierung (ex vivo und in vivo) sind bereits in der präklinischen Entwicklung. Einige der Werkzeuge, die notwendig sind, um die oben genannten intelligenten Medikamente herzustellen, existieren demnach bereits.

Gleichberechtigter Zugang zur Gesundheitsversorgung

In Anbetracht solcher hochwirksamen, aber auch teuren Therapeutika werden Diskussionen über einen gleichberechtigten Gesundheitszugang bei Kostenkon­trolle zunehmen. Heilung und Prävention sind kosteneffizienter als Dauerbehandlung – auch aus gesundheitsökonomischer Sicht werden sie Ziel therapeutischer Interventionen. Zukünftig bedeutet Prävention nicht nur die frühe Diagnose und/oder Anpassung des Lebensstils, sondern umfasst auch den vorsorglichen therapeutischen Eingriff: „präventive Korrekturen“. Insbesondere gentherapeutische Methoden ermöglichen Heilung und die Beseitigung genetischer Risikofaktoren. In begrenztem Umfang werden dafür auch Keimbahneingriffe durchgeführt werden. Zunächst beschränkt sich die Anwendung dieser jungen Technologien aufgrund von Risiko-Nutzen-Abwägungen und ihren ­hohen Entwicklungskosten auf seltene ­genetisch bedingte Erkrankungen. Im Zuge eines besseren Verständnisses der Technologierisiken, effizienterer Zulassungswege und steigenden Wettbewerbs werden aber zunehmend auch nicht-­vererbte Krankheiten mit größerer Inzidenz durch gentherapeutische Methoden behandelt.

Genomeditierung zur Vermeidung von Volkskrankheiten wird tatsächlich bereits verfolgt: Verve Therapeutics erprobt die Genomeditierung des Enzyms PCSK9 zur Senkung von LDL-Cholesterin derzeit nur an Patienten mit familiärer Hypercho­lesterinämie, aber mit der ausdrücklichen Absicht, den Ansatz zur Vermeidung von Atherosklerose breit verfügbar zu ­machen.

Und auch die präventive Gentherapie wurde schon versucht: der umstrittene Eingriff in das Gen CCR5 bei den „CRISPR-Babys“, um einen Schutz gegen das HI-­Virus zu erreichen. Hier ist der Stand der Technik eindeutig weiter als der gesellschaftliche Diskurs. Über ethische Fragen und Bedenken im Zusammenhang mit der Gentherapie und insbesondere präven­tiven Eingriffen (in die Keimbahn) sollte dringend vorab eine Übereinkunft erzielt werden.

Fazit

Wie sieht sie nun aus, die Medikamententherapie im Jahr 2048? Die Biopharmaforschung nutzt verstärkt KI und Big Data. Von diesen technologischen Fortschritten profitieren insbesondere die Gentherapie und die Genomeditierung. Mit dem steigenden Alter der Patienten gewinnen ­„intelligente“ Medikamente an Bedeutung, die komplexe, sich selbst regulierende Therapieansätze ermöglichen. Kosteneffiziente Heilung und präventive Therapie stehen dabei im Mittelpunkt. „Therapeutische Prävention“ durch Genomeditierung wird vielerlei Krankheiten verhindern können. Folglich wird die Gentherapie zu einer wegweisenden Technologie, die Krankheiten nicht nur heilen, sondern auch ihr Auftreten verhindern kann. Wir als Gesellschaft müssen uns in einem transparenten Diskurs darüber einig werden, was ethisch vertretbar ist und wo rote Linien verlaufen. Nur so kann auch das Vertrauen in die ­Medikamententherapie der Zukunft gestärkt werden.

Autor/Autorin

Dr. Karl Nägler
Managing Partner at Wellington Partners | Website

Dr. Karl Nägler unterstützt als Risikokapitalinvestor seit über 20 Jahren junge Unternehmen im Life-Sciences-Bereich. Er ist seit 2020 Managing Partner bei der Münchner Wellington Partners. Vorher war er bei Atlas Venture, Ventech und Gimv beschäftigt.