Der lang erwartete EU Biotech Act steht kurz vor der Veröffentlichung. Im Interview spricht Dr. Pablo Serrano vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) über Erwartungen der Branche, strukturelle Engpässe und darüber, welche Fragen der Biotech Act beantworten muss, um für den Standort Europa tatsächlich Wirkung zu entfalten.
Herr Serrano, was verbinden die Unternehmen Ihres Verbandes derzeit mit dem Stichwort „EU Biotech Act“?
Pablo Serrano: Zum jetzigen Zeitpunkt verstehen wir den EU Biotech Act vor allem als strategischen Möglichkeitsraum. Der finale Text liegt noch nicht vor, und selbst nach seiner Veröffentlichung wird seine Wirkung erst schrittweise sichtbar werden. Entsprechend sprechen wir aktuell weniger über konkrete Regelungen als über die Chancen, die sich aus dem Act ergeben könnten – vorausgesetzt, er greift die Themen auf, die in den öffentlichen Konsultationen der Europäischen Kommission und in begleitenden Strategieprozessen identifiziert wurden. Unsere Mitgliedsunternehmen sehen den Biotech Act vor allem als Gelegenheit, Biotechnologie stärker in den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fokus zu rücken. Vor dem Hintergrund des Draghi-Reports und der aktuellen Standortdebatten wird der Act bereits jetzt als Signal wahrgenommen, dass die Europäische Union die Branche strategisch ernst nimmt. Entscheidend wird jedoch sein, ob dieser Möglichkeitsraum tatsächlich genutzt wird und einen Rahmen schafft, der Innovation und Skalierung ermöglicht.
Wo stoßen Biotech-Unternehmen in Europa heute konkret an Grenzen?
Ein zentrales Problem ist die regulatorische Fragmentierung. Unternehmen sehen sich mit sehr unterschiedlichen Genehmigungsverfahren konfrontiert – zwischen Mitgliedstaaten, aber teilweise auch innerhalb einzelner Länder. Identische Vorhaben werden unterschiedlich bewertet und dauern unterschiedlich lange. Das verlangsamt Forschung und Entwicklung und macht Investitionen schwer planbar. Für viele Unternehmen ist nicht nur die absolute Dauer eines Verfahrens entscheidend, sondern auch die mangelnde Verlässlichkeit. Gerade bei neuen biotechnologischen Verfahren fehlen europaweit konsistente Bewertungsmaßstäbe. Diese Unsicherheit erhöht regulatorische Risiken bereits in frühen Entwicklungsphasen.
Was müsste der Biotech Act aus Ihrer Sicht leisten?
Unabhängig von seiner konkreten Ausgestaltung lassen sich fünf grundlegende regulatorische Dimensionen benennen, die eine zeitgemäße Biotech-Regulierung adressieren muss. Erstens braucht es ein funktionales Risikokategoriensystem. Derzeit bewertet die EU vor allem Organismen oder einzelne Ereignisse, während moderne Biotechnologie mit funktionalen Einheiten wie Genkassetten, modularen Parts oder Systemverhalten arbeitet. Ein Rechtsrahmen, der diese Ebene nicht abbildet, reguliert letztlich Technologien von gestern. Zweitens ist eine klare Abgrenzung technologischer Klassen notwendig. Genome Editing, synthetische Organismen oder softwarebasierte Design-Biologie lassen sich nicht sauber in klassische GMO-Definitionen einordnen. Wo diese Klarheit fehlt, entsteht Unsicherheit. Drittens braucht es eine prozessorientierte Regulierung. Bioprozesse sind heute digitalisiert, automatisiert und teilweise KI-gestützt. Genehmigungen müssen daher Prozessvariabilitäten berücksichtigen, nicht nur statische Anlagen. Viertens müssen Datenräume, Modellvalidierungen und In-silico-Experimente regulatorisch adressiert werden. Digitale Zwillinge biologischer Systeme sind längst Realität und gewinnen für Forschung, Entwicklung und GMP-nahe Bereiche an Bedeutung. Fünftens braucht es eine integrierte Sicherheitsarchitektur, in der Biosafety, Biosecurity und Supply Security gemeinsam gedacht werden.
Welche praktischen Folgen hätte eine solche Ausrichtung für Unternehmen?
Eine solche Systematik würde auf mehreren Ebenen wirken. In der Forschung stoßen Unternehmen heute an Grenzen, weil klassische Genehmigungszyklen nicht auf iterative Entwicklungsmodelle ausgelegt sind. Benötigt werden verlässliche, standardisierte Verfahren, die Entwicklungsgeschwindigkeit und regulatorische Sicherheit miteinander verbinden. In der Entwicklung würde ein modulareres regulatorisches Denken die Risiken beim Scale-up reduzieren und Übergänge zwischen Entwicklungsstufen planbarer machen. In der Produktion verschiebt sich der Fokus zunehmend von papierbasierter Dokumentation hin zu Datenintegrität, Prozessdaten und Echtzeitüberwachung. Fehlen hierfür durchgängige und skalierungsfähige Rahmenbedingungen, wird insbesondere der Übergang von der Entwicklung zur industriellen Produktion zum Engpass. In der Praxis führt das dazu, dass Forschung und frühe Entwicklung in Europa stattfinden, Upscaling und industrielle Produktion jedoch häufig außerhalb Europas erfolgen – mit entsprechenden Verlusten an Wertschöpfung und Know-how.
Wo liegen die größten strukturellen Risiken dieser Entwicklung?
Mehrere Faktoren spielen hier zusammen. Erstens unterscheiden sich die technologischen Reifegrade innerhalb der Biotechnologie erheblich. Pharmazeutische Biotechnologie, industrielle Fermentation und synthetische Biologie in einem Rahmen zu regulieren, birgt die Gefahr von Über- oder Unterregulierung. Zweitens: In Europa fehlen vielerorts sogenannte Biofoundry-Kapazitäten. Regulierung kann nur beschleunigen, wenn die entsprechende Infrastruktur vorhanden ist.
Was bedeutet das für die internationale Wettbewerbsfähigkeit Europas?
Das hängt weniger von einzelnen Paragraphen ab als von der Kohärenz der europäischen Vision. Wenn der Biotech Act strukturelle Defizite wie Geschwindigkeit, Klarheit, Infrastruktur, Datenräume, Lieferketten und Produktion adressiert, kann er die Wettbewerbsfähigkeit Europas deutlich stärken. Wenn nicht, wird Europa trotz ambitionierter Strategien weiter hinter den USA und China zurückfallen.
Der Biotech Act ist kein Finanzierungsinstrument, wird aber mit Investitionshoffnungen verknüpft. Welche Erwartungen sind realistisch?
Der EU Biotech Act wird die großen Finanzierungsfragen nicht lösen können. Dafür fehlen der Europäischen Union die fiskalischen Kompetenzen. Innovationsfinanzierung über Steueranreize bleibt weitgehend eine nationale Aufgabe. In Deutschland sehen wir Potenzial, privates Kapital durch steuerliche Anreize stärker zu mobilisieren, insbesondere in risikoreichen Entwicklungsphasen. Staatliche Mitfinanzierung bis in späte klinische Phasen sehen wir als wenig realistisch an, mit wenigen Ausnahmen wie bei Antibiotika, wo tatsächlich Marktversagen vorliegt.
Wovon wird abhängen, ob der Biotech Act tatsächlich Wirkung entfaltet?
Ein zentraler Punkt wird die Perspektive auf innovative mittelständische Unternehmen sein. Die europäische KMU-Definition greift hier zu kurz. Viele Unternehmen sind zu groß, um als KMU zu gelten, und zugleich zu klein, um über die Strukturen großer Pharmaunternehmen zu verfügen. Sie fallen damit durch bestehende Förder- und Unterstützungsraster, obwohl sie für Innovation und Wertschöpfung eine zentrale Rolle spielen. Ob der Biotech Act diese strukturelle Lücke adressiert, wird ein wichtiger Prüfstein sein.
Entscheidend ist zudem, dass der Act nicht als Endpunkt verstanden wird. Wirkung entsteht nicht allein durch einen Gesetzestext, sondern durch die Art, wie der weitere Dialog mit Industrie und Verbänden geführt wird. Gerade weil der Biotech Act als strategischer Rahmen gedacht ist, wird seine Wirkung davon abhängen, ob er technologischen Realitäten gerecht wird und zugleich offen genug bleibt, um auf künftige Entwicklungen reagieren zu können.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Urs Moesenfechtel.
ZUM INTERVIEWPARTNER:

Autor/Autorin
Urs Moesenfechtel, M.A., ist seit 2021 Redaktionsleiter der GoingPublic Media AG - Plattform Life Sciences und für die Themenfelder Biotechnologie und Bioökonomie zuständig. Zuvor war er u.a. als Wissenschaftsredakteur für mehrere Forschungseinrichtungen tätig.





