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Deutsche Präsenzhauptversammlungen sind im internationalen Vergleich eine Besonderheit: Zwar existieren größere Hauptversammlungen wie die von Berkshire Hathaway mit rund 40.000 Aktionären im Jahr 2019 – im Durchschnitt verzeichnen die deutschen Hauptversammlungen aber die meisten teilnehmenden Aktionäre. Darüber hinaus dürfte Deutschland den Rekord für die längsten und fragenreichsten Präsenzhauptversammlungen halten. Dies liegt an dem rechtlichen Rahmen, der die Choreografie einer Hauptsammlung (HV) dominiert. In keinem Land sind die Aktionäre mit mehr Rechten versehen.

Die COVID-19-Pandemie stellt eine Zäsur dar. Es war schnell klar, dass Präsenzhauptversammlungen pandemiebedingt zu riskant sind. Wie in anderen Ländern einigte man sich darauf, dass virtuelle Hauptversammlungen die einzige mögliche Form der Umsetzung darstellen. Um die rechtssichere Durchführbarkeit zu gewährleisten, war es notwendig, Aktionärsrechte einzuschränken.

Nach der Veröffentlichung der COVID-19-Gesetze waren sich Aktionärsvereinigungen und Investoren bald einig, dass der Gesetzgeber zu weit gegangen sei. Die Kritik wurde von Letzterem aufgenommen und führte zu einer Stärkung der Aktionärsrechte für die virtuellen Hauptversammlungen 2021.

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Die Anfechtungsrechte für die Aktionäre bleiben auch 2021 eingeschränkt, sie erhalten aber ein Fragerecht. Gleichzeitig wird die mögliche Fristsetzung für die Frageneinreichung von zwei Tagen auf maximal einen Tag reduziert.

Welche Erkenntnisse lassen sich aus den virtuellen Hauptversammlungen der letzten 15 Monate ziehen? Diese Frage wird von Emittenten und Investoren sehr unterschiedlich beantwortet.

Investoren wie Emittenten gewinnen dem Format der virtuellen HV durchaus positive Aspekte ab. Die Onlineteilnahme erspart den Aktionären Zeit und ermöglicht eine effiziente Ausübung der Aktionärsrechte. Emittenten sparen sich die Anmietung großer Hallen und können die Fragen dank Vorabeinreichung effizienter und genauer beantworten. Die Fragen können nach Themenblöcken gruppiert und beantwortet werden. Die thematische Gliederung macht es den Aktionären leichter, den Antworten zu folgen.

Es bietet sich vor der genaueren Betrachtung der unterschiedlichen Blickwinkel ein Rückblick an.

Videobeiträge – ein Erfolg?

Einige Gesellschaften richteten Plattformen für den Videoupload ein und machten den Aktionären die Beiträge meist über das Aktionärsportal zugängig. Bei immerhin einer Gesellschaft wurden mehr als 20 Beiträge eingereicht; meist waren es aber nur einige wenige. Teilweise wurden keine Beiträge eingereicht. Die Qualität der Beiträge war überwiegend sehr professionell. Dieses Feature wurde von Aktionärsseite wie auch den Gesellschaften positiv bewertet. Investoren bemängelten, dass die Videobeiträge, wenn diese nicht zusätzlich auf der HV gezeigt wurden, weniger Beachtung fanden als ein HV-Redebeitrag.

Kam es durch die virtuelle Hauptversammlung zu einer Fragenflut?

Dies kann eindeutig mit Ja beantwortet werden. Etliche Gesellschaften haben mehrere Hundert Fragen erhalten. Ein Großteil derselben wurde erst kurz vor Ablauf der Eintagesfrist eingereicht. Die Fragen kamen überwiegend von wenigen Kleinaktionären, die teilweise weit über 100 Fragen einreichten. Wenn ein Aktionär diese Fragemenge „last minute “ einreicht und dies mehr oder weniger identisch auf mehreren Hauptversammlungen wiederholt, muss es erlaubt sein, deren Relevanz kritisch zu beleuchten.

Die Fragen haben oft nichts mit dem abgelaufenen Geschäftsjahr oder den Tagesordnungspunkten zu tun. Timotheus Höttges, CEO der Telekom, verglich die Länge einzelner Fragen mit jener der Vorstandsrede und kam zu dem Ergebnis, dass es einzelne Fragen gab, deren Länge die der Vorstandsrede übertraf. Daher sind die Forderung der Gesellschaften nach einem größeren Ermessensspielraum des Versammlungsleiters oder die Wandelung eines Fragerechts in eine Fragemöglichkeit durchaus nachvollziehbar. Es gab wieder virtuelle Hauptversammlungen, die aufgrund der Fragenflut erst nach 19 Uhr beendet werden konnten.

Nachfragen – ein wichtiges Feature?

Einige Gesellschaften ermöglichten den Aktionären, Nachfragen zu stellen. Diese Funktion wurde überwiegend über das Aktionärsportal angeboten. Die meisten Gesellschaften haben die Nachfragen auf bereits gestellte Fragen beschränkt und sich auch vorbehalten, den Umfang zu beschränken. Es wurde in den Teilnahmebedingungen darauf hingewiesen, dass diese Funktion vom Versammlungsleiter zeitlich begrenzt werden kann. Die Nachfrageoption wurde bei Gesellschaften, die dies ermöglichten, umfangreich genutzt – Investoren kritisierten aber, dass diese Möglichkeit nur sehr vereinzelt ermöglicht wurde.

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In diesem Jahr muss die Deutsche Bank besonders erwähnt werden: Aktionäre können Videobeiträge einreichen und im Livedialog Nachfragen stellen. Diese innovative Gestaltung einer virtuellen HV kommt dem Format einer Online-HV sehr nahe.

Die oben angeführten Betrachtungen behandeln nur eine Auswahl der möglichen Aspekte. Teilweise wird argumentiert, dass das virtuelle Format der Hauptversammlung zu höheren Präsenzen führt. Diese sind auf die höheren Anmeldequoten institutioneller Anleger zurückzuführen. Da der Anmeldeprozess für die virtuelle und die Präsenz-HV aus der Sicht von institutionellen Investoren identisch ist, dürfte das Format der Hauptversammlung einen untergeordneten Einfluss auf die Präsenz haben.

Was sind die Erfahrungen der letzten 15 Monate? Reichen die von den Emittenten bereitgestellten Dialogmöglichkeiten aus? Wie sieht der Reformbedarf für die HV der Zukunft aus?

Stefan Simon, Vorstandsmitglied der Deutschen Bank, hat seine Analyse in einem FAZ-Doppel-Interview mit Jens Wilhelm von Union Invest so zusammengefasst: „Die Pandemie hat die Art und Weise, wie Unternehmen mit ihren Eigentümern und Aktionärsvertretern in den Dialog treten, nachhaltig verändert. Wir sind davon überzeugt, dass das virtuelle HV-Format Chancen bietet, den Austausch und die Ausübung von Aktionärsrechten in erheblichem Umfang zu stärken. „ Daher gilt es jetzt, die neuen technischen Möglichkeiten zu nutzen und die rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, um die Hauptversammlung der Zukunft im Sinne unserer Aktionäre weiterzuentwickeln.“

Im selben Interview antwortete Wilhelm auf die Frage, ob er die Einschätzung von Herrn Simon teile: „Meine Freude ist eher gemischt. Natürlich freuen wir uns immer auf HVs, die als Versammlung der Eigentümer das öffentliche Forum sind, wo wir unsere Aktionärsrechte wahrnehmen können. Schließlich vertreten wir als Fondsgesellschaft die Interessen von 4,8 Millionen Anlegern. Im vergangenen und in diesem Jahr ist das allerdings nicht vollumfänglich möglich. Das sind schon verlorene Jahre für die Aktionärsdemokratie. Damit können wir nicht zufrieden sein und hoffen, dass sich das bald wieder ändert.“

Diese beiden Perspektiven verdeutlichen die unterschiedlichen Standpunkte auf hervorragende Weise. Die genauere Beantwortung der Fragen und höhere Teilnehmerzahlen wiegen aus der Sicht vieler Investoren die aktionärsrechtlichen Defizite und den fehlenden Dialog nicht auf.

Die virtuelle Hauptversammlung hat zu einer Entzerrung geführt und gezeigt, dass innovative Lösungen zeitnah entwickelt und bereitgestellt werden konnten. Technisch können Hauptversammlungen als reine Online- oder auch als hybride Veranstaltungen (Präsenz und online) angeboten werden. Die aktuelle Diskussion zeigt, dass es weniger um technische Machbarkeit geht und mehr darum, wie neue Formate rechtssicher und mit vertretbarem Aufwand umgesetzt werden können. Aktuell sieht es danach aus, dass die Gesellschaften 2022 zur Präsenz-HV zurückkehren. Es wäre schade, wenn virtuelle Neuerungen, wie beispielsweise die Vorstellung der Aufsichtsratskandidaten per Video über das Aktionärsportal, generell aufgegeben würden.

Autor/Autorin

Christof Schwab

Christof Schwab ist Director Business Development bei Computershare Deutschland. Er verantwortet die Weiterentwicklung des gesamten Leistungsportfolios, von der Aktienregisterführung über Versammlungsservices bis hin zu Proxy-Solicitation-Maßnahmen und Mitarbeiterbeteiligungsprogrammen (Employee Equity Plans).