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Das geplante Gesetz zur virtuellen Hauptversammlung ist ein wichtiger Schritt, aber es ist nur eine Änderung, die nötig ist, um das Jahrestreffen mit Aktionären zu einem zukunftsfähigen Format weiterzuentwickeln, findet DIRK-Geschäftsführer Kay Bommer. Ein Gespräch über den Wert persönlicher Aussprachen, die Notwendigkeit ehrlicher Krisenkommunikation und den Wunsch nach mehr Augenmaß bei der EU-Taxonomie.

GoingPublic: Nach mehr als zwei Jahren Pandemie wird es nun bald die ersten größeren Hauptversammlungen in Präsenz geben. Freuen Sie sich darauf?

Kay Bommer: Ich freue mich, erst mal ganz ­unabhängig von HVs, wieder auf persönliche Treffen. Bei allem technischen Fortschritt, der uns auch virtuelle Aktionärsversammlungen in der Pandemie ermöglichte, ist der Mensch ein geselliges Wesen, das grundsätzliche physische Zusammenkünfte schätzt. Ob allerdings die Hauptversammlung, wie wir sie heute kennen, auch zu einer solchen begehrten Veranstaltung gehört, weiß ich nicht. Nach meiner Erfahrung sind das eher langwierige Treffen, die nach Regeln ablaufen, die im Kern noch aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammen.

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So alt ist das HV-Recht?

Bommer: Ja, es war damals sehr wichtig für Unternehmen, einmal im Jahr mit den wichtigsten Geldgebern und Investoren zusammen­zukommen, um sich auszusprechen und ­gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Heute werden die allermeisten Entscheidungen bereits im Vorfeld der HV getroffen. Natürlich gab es bis heute schon Reformen im HV-Recht, die letzte große liegt aber auch bereits mehrere Jahrzehnte zurück. Es b­esteht dringender Reformbedarf, um die HV ins 21. Jahrhundert zu holen.

Die Pandemie hat ja schon für Fortschritt gesorgt. Aktionäre konnten, was gesetzlich 2020 in Windeseile beschlossen wurde, per Audio und Video am Rechner zugeschaltet dabei sein und sogar ihr Stimmrecht wahrnehmen – und das soll nach dem jüngsten Gesetzesentwurf zur virtuellen HV auch künftig so bleiben.

Bommer: Das ist ein guter und wichtiger Schritt, wir begrüßen diese Entwicklung ausdrücklich. Das ändert aber an der rechtlich festgelegten Form der Durchführung noch wenig. Der Verlauf einer Hauptversammlung bleibt protokollarisch weiter stark reglementiert und eingeengt. Meines Erachtens bedarf es – ­unabhängig von der Frage, ob eine HV ­physisch oder digital stattfindet – einer grundlegenden Reform des Beschluss­mängel- und Anfechtungsrechts. Das kann und will der Referentenentwurf des BMJ nicht leisten. Hinsichtlich des HV-Formats halten wir den Entwurf insgesamt für fair und angemessen. Es ging ja um die recht­liche Ausgestaltung einer virtuellen HV, die auch nach Auslaufen der pandemie­bedingten Ausnahmeregeln zum 30. August weiterhin alternativ zur Präsenzversammlung stattfinden können soll.

Kay Bommer (Rechtsanwalt, MBA) ist – mit einer Unterbrechung von 2011 bis 2012 – seit 2001 Geschäftsführer des DIRK – Deutscher Investor Relations Verband. Zudem ist er im Aufsichtsrat innovativer Aktiengesellschaften vertreten und nimmt Lehraufträge für Kapitalmarktrecht und Unternehmenskommunikation an renommierten Universitäten wahr.

Aus Angst vor Anfechtungen der HV lassen Versammlungsleiter Aktionäre oft lange reden, müssen mit Störversuchen und Wiederholungen sehr vorsichtig umgehen, um nur ja nicht zu riskieren, dass jemand HV-Beschlüsse anficht, weil er oder sie nicht ausreichend zu Wort gekommen sind.

Bommer: Das ist das Eine. Klar sollen Anleger, kleine wie große, bei einer HV die Möglichkeit haben, ihre Anliegen angemessen vorzutragen; aber wenn sich dann ähnliche Fragen häufen und Wiederholungen dazu führen, dass sich Abstimmungen bis in die späten Abend­stunden ziehen, dann macht das die Hauptversammlung auch für in der Sache interessierte Teilnehmer schlicht unattraktiv. Das andere Thema ist die offensichtlich mangelnde Attraktivität des Formats an sich: Es gibt inzwischen ­Unternehmen, die müssen ihre Aktionäre geradezu bitten, zur HV zu kommen, weil sonst das vertretene Kapital so gering ist, dass die Gefahr von Zufallsmehrheiten besteht.

Wie könnte eine Reform des HV-Rechts genau aussehen, die diese Jahres­ver­samm­lung rechtssicher und attraktiver macht?

Bommer: Tatsächlich plädieren wir schon länger dafür, das HV-Format grundsätzlich zu überdenken, und zwar unabhängig von der Form der Durchführung, also virtuell, persönlich oder gar hybrid. Das Wichtigste, was man an einer Hauptversammlung tun kann, ist doch die Aussprache und die Debatte zwischen den Verantwortlichen im Unternehmen und den Aktionären. Überlegen Sie mal: Bei so einer HV ist meist der gesamte Vorstand, in der Regel auch der Aufsichtsrat sowie die wichtigsten Finanz-, Rechts- und IR-Fachleute für mehrere Stunden dabei. So eine geballte Expertise könnte und sollte man doch ausführlich nutzen können für Grundsatzthemen, eine allgemeine Aussprache über Herausforderungen, Strategien und auch über kritische Entwicklungen, Nachhaltigkeitsfragen etc. Das ist aber nur möglich, wenn viele andere faktische Informationen schon vorab eingebracht und abschließend besprochen werden können bzw. nicht alles pro forma auf der HV wiederholt werden muss, was eh schon vorab bekannt und ja auch oft schon ­beschlossen worden ist.

Was heißt das konkret?

Bommer: Wir müssen wegkommen von der HV als ­reiner Feststellungsversammlung, sie entfrachten und zeitgemäß weiterentwickeln, hin zu einem lebendigen Debattenforum, in dem man möglichst frei von rechtlichen ­Bedenken diskutieren kann.

Würde eine solche Verwandlung der HV allen Aktionären gerecht werden? Nicht alle dürften auf dem gleichen Informationsstand sein beim Besuch einer HV, und manche Aktionäre legen vielleicht auch gar keinen so großen Wert darauf, sehen die HV als Event, bei dem sie den Vorstand von DAX-Konzernen mal live erleben.

Bommer: Es stimmt, dass viele Aktionäre auch oder vor allem wegen des Events kommen, und das ist auch legitim. Aber umso mehr wollen sie doch unterhalten werden, das spricht ja dann erst recht für mehr Generaldebatte und Aussprache und weniger für Formalia. Und die Anteilseigner, die wollen, können und sollen alle vorliegenden Informationen vorab bekommen. Unternehmen mit guter Investor Relations-Abteilung informieren ihre Aktionäre das ganze Jahr über. Im Netz und auf der Homepage finden sich alle Zahlen und Fakten, die Geschäftsberichte, die wichtigsten Präsentationen, ja sogar die Reden und Statements von Vorständen gibt es. Umfragen haben gezeigt, dass ­Aktionäre sich in den virtuellen HVs sogar besser informiert fühlten als in früheren Präsenzveranstaltungen, auch weil eben das Angebot und die Aufbereitung an Informationen vor und während der ­Versammlung größer ist als früher.

Bleibt noch das Rederecht, welches in den virtuellen Versammlungen während der Pandemie teilweise eingeschränkt war, was Aktionärsvereinigungen auch deutlich kritisierten.

Bommer: Richtig ist, dass Aktionäre während der Pandemie kein gesetzlich verankertes Rede-, sondern vielmehr ein Fragerecht hatten. Dies darf und soll nicht Blaupause für die ­digitale HV nach der Pandemie sein. Daher begrüßen wir auch, dass der Referentenentwurf des BMJ dies aufgreift. Allerdings halten wir den Vorschlag, die Redebeiträge nur denjenigen Aktionären zu gewähren, die sich als Erstes anmelden (sogenanntes Windhundverfahren), für nicht optimal. Hier sollte der Entwurf unseres Erachtens noch etwas modifiziert werden.

Warum? Das Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ ist doch attraktiv im Sinne der Aktionärsdemokratie?

Bommer: Der Gesetzesentwurf erkennt ja zu Recht an, dass nicht alle zu Wort kommen können; Zeit ist ein begrenzender Faktor. Daher birgt das Windhundverfahren die Gefahr, dass kapital­mäßig stark involvierte Anteils­eigner oder auch Aktionärsvereinigungen, die tief in der Materie sind, womöglich am Ende oder gar nicht zu Wort kommen, weil es ­andere gibt, die sich zusammentun und ­minütlich auf die Freischaltung des Frageportals vor einer Versammlung warten, und dann, wenn es so weit ist, Hunderte von Fragen reinschicken. Daher sollten die ­Unternehmen hier einen Entscheidungsspielraum bekommen darüber, wer wann spricht. Eventuell ist es auch sinnvoll, ­Quoren einzuführen oder ähnliche ­Kriterien, damit für alle nachvollziehbar ist, wann und warum jemand drankommt.

Die HV-Saison 2022 läuft gerade an. Womit rechnen Sie, werden viele Unternehmen zurückkehren zur Präsenz-HV?

Bommer: Für dieses Jahr werden die allermeisten Unter­nehmen wieder virtuelle HVs durchführen, die Entscheidung darüber fällt ja immer mit mehreren Monaten Vorlauf. Erst für 2023 rechnen wir damit, dass die großen Unternehmen wohl eher wieder in Präsenz tagen, kleinere Unternehmen werden sich je nach Größe und Vertrauensbasis zu ihrem Aktionärskreis für die eine oder andere Form entscheiden.

Wo sehen Sie neben dem HV-Thema die größten Herausforderungen für die IR-Branche?

Bommer: Die Darstellung und Kommunikation zur Vorstandsvergütung war eine große Frage, die nun im Zuge der Corporate Governance gut gelöst worden ist. Nun haben wir das Thema Nachhaltigkeit. Hier wird der Gesetzgeber aktiv, wir werden viele regulatorische Vorgaben sehen, teilweise stöhnen selbst die Investoren jetzt schon. Das in Gänze korrekt und klar zu kommunizieren, was gerade verbindlich wie gilt, ist sicher eine Herausforderung für Unternehmenslenker wie auch für Investor Relations. Die Herausforderung besteht darin, dass entsprechende Nachhaltigkeitsvorgaben zu schnell kommen und zu heftigen Veränderungen operativ wie in der Berichterstattung führen. Hier ist unserer Ansicht nach mehr Augenmaß gefragt.

Große Unsicherheit beherrscht das Kommunikationsverhalten vieler Unternehmen auch im Zuge des Kriegs in der Ukraine. Hel­fen hier die Erfahrungen aus der Pandemie?

Bommer: Es gilt, was immer bei Krisen gilt: offen und ehrlich kommunizieren, trotz aller Unsicher­heiten. Jedes Unternehmen bekommt direkt oder zumindest indirekt Auswirkungen des Kriegs mit, über steigende Energiepreise, knapper werdende Rohstoffe, wegbrechende Lieferanten, längere Transportwege etc. Natür­lich wollen die Aktionäre, Stakeholder, Journalisten etc. es immer auch quantitativ genau wissen – das ist aber oft nicht möglich. Mit diesen Unsicherheiten, die es ja auch in der Pandemie gab, müssen alle umgehen, und Unternehmen haben dies auch gelernt. Auch wenn die Umstände schwierig sind: An der Kommunikation darüber sollte es nicht liegen.

Herr Bommer, vielen Dank für diese speziellen Einblicke in unsicheren Zeiten.

Das Interview führte Simone Boehringer.

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