„Zeitgemäße Medizin bezieht auch molekulare Daten in medizinische Entscheidungen ein“

Interview mit PD Dr. med. Christian Meisel, Chief Medical Officer, Molecular Health GmbH

Bildnachweis: Molecular Health.

Plattform Life Sciences: Molecular Health entwickelt Lösungen, die die Versorgung der Patienten verbessern sollen. Welche Lösungen sind dies?

Meisel: Letztlich geht es um eine Scientific-Computing-basierte Entscheidungsunterstützung – zum einen in der Patientenversorgung, zum anderen in der Arzneimittelentwicklung. Der eine Bereich ist die Therapieunterstützung, damit Patienten individuell und optimal wirksame Therapien erhalten können. Das leistet Molecular Health Guide (MH Guide). Der andere Bereich von Molecular Health beschäftigt sich mit Methoden zur Verbesserung der Erforschung und Entwicklung von neuen Arzneimittelwirkstoffen. Mithilfe von Molecular Health Predict (MH Predict) können wir beispielsweise den Outcome von klinischen Studien vorhersagen, also ob klinische Studien ihren beabsichtigten Endpunkt voraussichtlich erreichen werden oder nicht. Die Genauigkeit dieser Vorhersage liegt bei etwa 80%. Diese Prognosen können Unternehmen und Organisationen bei der Entscheidung helfen, ob und wie sie eine geplante klinische Studie tatsächlich durchführen sollten. Diese Vorhersage ist aus mehreren Gründen wichtig: Zum einen sollen Patienten, die in eine Studie eingeschlossen werden, möglichst auch einen tatsächlichen Benefit von der Behandlung haben. Zum anderen ist jeder Euro, der in die klinische Arzneimittelentwicklung und damit auch in klinische Studien investiert wird, für den Investor und letztlich auch für die Patienten verloren, wenn die Studien nicht zu neuen zugelassenen Therapien führen, auf welche die Patienten dringend angewiesen sind. Deshalb ist MH Predict gerade aus Patientensicht so bedeutsam. Unser drittes Produkt, Molecular Health Effect (MH Effect), wird von Regulierungsbehörden wie der FDA verwendet, um Nebenwirkungsfragen von Arzneimitteln zu beurteilen. Diese Technologie basiert auf über 10 Mio. vorhandenen Patientendaten aus der Routineversorgung, sogenannten Real-World-Daten. Zugleich kann dieses Produkt dafür verwendet werden, um für bereits zugelassene Medikamente neue Indikationen zu identifizieren. Beispielsweise untersuchen wir gerade, welche bereits auf dem Markt vorhandenen Arzneimittel bei der COVID-19-Infektionserkrankung wirksam sein könnten. Da COVID-19 vielfältige klinische Ausprägungen zeigt, müssen die Teilaspekte der Erkrankung genau verstanden werden, um diese auch gezielt therapieren zu können. Das können wir leisten – auf Grundlage unserer Datenbankplattform Dataome. Sie ist die Wissensbasis für unsere Produkte. Das globale wissenschaftliche und medizinische Wissen wird erfasst, kuratiert, katalogisiert und anschließend für modernste Analyseverfahren verfügbar gemacht.

Welche Entwicklungen sind in der Genanalyse oder Genomsequenzierung zu erwarten?

Die Datenmengen, die wir aktuell produzieren, um medizinische Entscheidungen zu treffen, werden weiter exponentiell wachsen. Ein Beispiel aus der Onkologie: Bis vor rund zehn Jahren galt es als nahezu revolutionär, wenn bei einer molekularen Tumoruntersuchung eine Genvariante gefunden wurde und genau zu dieser Veränderung ein geeigneter Wirkstoff entwickelt und eingesetzt werden konnte. Heute können wir im Rahmen einer molekularen Tumoruntersuchung routinemäßig eine Vielzahl von Genvarianten feststellen. So gibt es beispielsweise nicht mehr „den einen Typ“ Lungenkrebs, sondern viele Subtypen, die alle unterschiedlich behandelt werden können. Deshalb müssen und können wir heute im Bereich der Onkologie viele verschiedene molekulare Mechanismen untersuchen, um „state-of-the-art“ behandeln zu können, was z.B. bei fortgeschrittenem Lungenkrebs zu einer erheblichen Verlängerung des Gesamtüberlebens führen kann. Und diese Entwicklung wird mit zunehmenden Erkenntnisgewinnen ständig weitergehen.

Wie sieht in Zukunft eine Versorgung aus, die den Fortschritten im Bereich der Genvariantenanalysen Rechnung trägt? Stichwort: Präzisionsmedizin.

Um es pointiert auszudrücken: Eine zeitgemäße und gute Medizin kann es nur geben, wenn auch molekulare Daten systematisch in medizinische Entscheidungsprozesse eingebunden werden. In der Onkologie ist dies bei einer Reihe von Tumorbehandlungen bereits Standard. Andere Bereiche in der Medizin sind in dieser Entwicklung noch zurück, doch auch dort wird es zu dieser Entwicklung keine Alternative geben, wenn es präzisere und bessere Behandlungen und sogar Heilung für bisher schwer behandelbare Erkrankungen geben soll.

Was benötigt die Medizin, um diese Entwicklung zugunsten der Versorgung von Patienten einzusetzen?

Vor allem eine entsprechende Infrastruktur, ein neues Mindset und natürlich die nötige Unterstützung für Ärzte und diejenigen, die therapeutische Entscheidungen fällen und unterstützen. Die Infrastruktur muss die ständig mehr und komplexer werdenden nötigen Daten zur Verfügung stellen können. Gleichzeitig müssen diese Daten so verarbeitet und aufbereitet werden, dass Ärzte auch in der täglichen Routine gut mit ihnen arbeiten können. Bei einer umfassenden Analyse des Tumorgenoms durch Next Generation Sequencing entstehen riesige Datenmengen. MH Guide kann diese Daten derart interpretieren, dass Ärzte die Ergebnisse für die Behandlung ihrer Patienten schnell direkt nutzen können. Ärzte erhalten Informationen über die vorhandenen Tumorvarianten und Antworten auf beispielsweise folgende Fragen: Ist ein Wirkstoff gegen diese Genvariante verfügbar? Welche Arzneimitteltherapien kommen für diesen Tumor infrage? Gibt es Medikamente, die diese Variante angreifen können, die aber vielleicht nicht in dieser Indikation zugelassen sind? Und laufen derzeit klinische Studien, die auf ein Medikament in dieser Indikation zielen, und die für den Patienten geeignet wären?

Provokant gefragt: Wird vorhandenes Potenzial nicht ausgeschöpft?

Das Potenzial wird im Moment sicher nicht ausreichend ausgeschöpft. Es dauert leider in Deutschland relativ lange, bis echte Innovationen und Fortschritte in der Medizin nicht nur an Universitäten und Spitzenzentren, sondern auch in der gesamten Breite der Patientenversorgung, ambulant wie stationär, auf dem Land genauso wie in Großstädten eingesetzt werden. Dabei können heute schon alle onkologisch tätigen Ärzte eine Sequenzanalyse des Tumors bei bestehender medizinischer Indikation anfordern. Es gibt in Deutschland derzeit ca. 45 Labore, die solche Untersuchungen durchführen.

Wie profitieren Molekularpathologen oder Onkologen von einer Lösung wie MH Guide?

Für die Molekularpathologen liefert die Verwendung von MH Guide die beste Datenqualität bei der Identifizierung und Bewertung der Genvarianten des Tumors. Für den Onkologen bedeutet der Analysereport von MH Guide, dass er individualisierte, umfassende und evidenzbasierte Informationen zu Therapieoptionen und klinischen Studien für seine Patienten erhält.

Und welche Potenziale birgt die automatisierte Datenanalyse mit Lösungen wie MH Guide darüber hinaus, z.B. in der Wirkstoffentwicklung?

In der Zukunft kann MH Guide die Entwicklung neuer Arzneimittel und die Patientenversorgung eng zusammenbringen. Angenommen, eine umfassende Tumorsequenzierung und eine MH-Guide-Interpretation würden in einer größeren Population in Deutschland, einem Bundesland oder auch nur einer Region bei allen Krebspatienten in der Routineversorgung eingesetzt werden, dann könnte man auch seltene Tumorvarianten finden und interpretieren. Man könnte dann diesen Patienten, die diese seltenen Tumorvarianten tragen, schon in der Routineversorgung klinische Studien anbieten und auf diese Weise auch für seltene Tumorvarianten wirksame Arzneimittel entwickeln. Dies würde verhindern, dass diese Arzneimittel exorbitante Kosten verursachen müssten, weil ein guter Teil der teuren Phase-III-Studien im Rahmen der Routineversorgung stattfinden könnte und man nicht extra für klinische Studien Tausende von Patienten sequenzieren müsste, um die ganz wenigen Patienten mit den seltenen Mutationen zu identifizieren. So könnte man quasi nebenbei die Anforderungen an Phase-III-Studien der Regulierungsbehörden erfüllen, und es wäre für Firmen attraktiver, neue Wirkstoffe auch für eine kleine Gruppe von Patienten zu entwickeln, weil die Kosten vertretbar blieben. Gleichzeitig könnten damit auch die Kosten, die Krankenkassen für Arzneimittel gegen seltene Tumorvarianten aufwenden müssen, erheblich gesenkt werden. Also eine Win-win-Situation für alle – zuallererst für die Patienten, aber auch für die Versicherungen, für forschende Arzneimittelhersteller und letztlich die Gesellschaft. Es wäre heute schon möglich, so etwas mithilfe von MH Guide umzusetzen.

Welche Rolle werden da noch die Ärzte spielen?

Die zentrale Rolle der Ärzte wird auch in der Medizin von morgen definitiv nicht ersetzt. Pathologen oder Onkologen werden mitnichten verschwinden. Im Gegenteil: Ärzte werden mit diesen neuen technischen Lösungen unterstützt. Sie werden bessere Daten und eine bessere Basis zur Verfügung haben, um ihre Entscheidungen zu treffen. Das bedeutet auch, dass Mediziner lernen müssen, mit diesen Neuerungen und Systemen umzugehen. Für die nachkommende Generation ist dies aber schon heute selbstverständlich, und wir sehen, dass auch die Kollegen, die heute die Patientenversorgung sicherstellen, Tools wie MH Guide – gerade auch, wenn sie benutzerfreundlich und schnell sind – heute schon als Bereicherung empfinden.

Herr Dr. med. Meisel, haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Holger Garbs.

 

ZUM INTERVIEWPARTNER

Vor Molecular Health war Christian Meisel bei Roche in verschiedenen leitenden globalen Führungspositionen tätig, u.a. als Global Head Personalized Healthcare Platform und Translational Medicine. Er ist Facharzt für Innere Medizin sowie klinische Pharmakologie und an der Charité habilitiert, wo er das Zentrum für Arzneitherapieberatung und eine Bioinformatik-Forschungsgruppe leitete.

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