Bildnachweis: Servier Deutschland GmbH.
Was vor wenigen Jahren noch unvorstellbar schien, ist heute längst Realität. Die digitale Transformation hat alle Bereiche der Gesundheitsversorgung erreicht. Digitalisierung, inkl. künstliche Intelligenz (KI), bietet über smarte Forschung, innovative digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) sowie telemedizinische Möglichkeiten vielfältige Chancen, die flächendeckende Gesundheitsversorgung weiter zu verbessern und den Innovationsstandort Deutschland zu stärken. Mit dem kürzlich in Kraft getretenen Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) sind in Deutschland als erstem Land weltweit verbindliche Rahmenbedingungen geschaffen worden, um Patienten DiGAs „beyond the pill“ als Regelleistung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zur Verfügung zu stellen. Von Oliver Kirst
Die Digitalisierung in der Pharmaindustrie war bereits vor Corona ein wichtiger Treiber dabei, Prozesse von der Forschung bis hin zur Produktion zu optimieren und mit DiGAs einen ganzheitlichen Ansatz zur Versorgung von Patienten zu forcieren. Die aktuelle Coronasituation zeigt nun noch mehr den Bedarf und die Chancen der Digitalisierung in allen Bereichen der Gesundheitsversorgung.
Von Product- zur Patient-Centricity
Über 10 Mio. Deutsche nutzen Onlinesprechstunden und digitale Diagnostik-Apps, wie Daten der EPatient Survey 2020 zeigen. DiGAs, deren Nutzen und Wirkung sich wissenschaftlich belegen lassen und die zugleich von Patienten als praktisch und alltagserleichternd empfunden werden, können daher ein wesentlicher Baustein für die zukünftige Versorgungslandschaft sein.
Die digitale Transformation im Gesundheitswesen bedeutet für die Pharmaindustrie – je nach strategischer Ausrichtung – einen Wandel von reinen Arzneimittelherstellern hin zu einem holistischen Ansatz im Gesundheitswesen. Mithilfe von KI lassen sich sowohl die Effizienz von Forschungsprozessen und -ergebnissen beschleunigen als auch der erhoffte therapeutische Erfolg maßgeblich steigern.
Premiere: Digitale Gesundheitsanwendungen „auf Rezept“
Deutschland ist weltweit das erste Land, das Patienten bestimmte DiGAs als Regelleistung der GKV zur Verfügung stellt. Die umgangssprachlich „Apps auf Rezept“ genannten digitalen Innovationen sind damit keine Ausnahme mehr, sondern vom Gesetzgeber gewollt und werden in Deutschland zu einem neuen Versorgungssektor.
Damit können DiGAs und telemedizinische Möglichkeiten erstmalig als reguläre Leistung der Krankenkassen zum Beispiel bestehende Versorgungslücken im ländlichen Raum schließen oder die bestehende Versorgung weiter verbessern.
DVG: digitale Innovationen für 73 Mio. Versicherte
Mit Inkrafttreten des DVG am 19. Dezember 2019 hat der Gesetzgeber nachvollzogen, was Patienten schon lange wollen: Denn es ermöglicht erstmalig einen eigenen Zugangsweg von DiGAs in die Regelversorgung von rund 73 Mio. Versicherten in der GKV (geregelt in den §§ 33a und 139e SGB V). Als DiGAs werden hier Medizinprodukte der Risikoklasse I oder IIa definiert, deren Hauptfunktion auf digitalen Technologien beruht. Patienten werden damit in die Lage versetzt, zusammen mit behandelnden Ärzten und Psychotherapeuten mit ihren Erkrankungen besser umzugehen und die Lebensqualität zu steigern.
Novum: BfArM als Prüfungsinstanz
Im DVG enthalten ist ein absolutes Novum im deutschen Gesundheitswesen: Zum ersten Mal entscheidet nicht das oberste Selbstverwaltungsgremium, der Gemeinsame Bundesausschuss, über den Eingang in den GKV-Leistungskatalog, sondern das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Mitte Oktober 2020 hat das BfArM die ersten digitalen Gesundheitsanwendungen veröffentlicht, die erstmalig als GKV-Regelleistungen erstattet werden sollen. Wesentliche Voraussetzungen sind ein CE-Kennzeichen als Medizinprodukt, der Nachweis positiver Versorgungseffekte mittels einer vergleichenden Studie sowie die Einhaltung strenger Datenschutzbestimmungen. Im Anschluss an die Aufnahme in das „DiGA-Verzeichnis“ des BfArM verhandeln Hersteller und GKV-Spitzenverband (GKV-SV) den Erstattungspreis, der ab dem 13. Monat nach Erstlistung gilt. Hierzu werden derzeit – im Sinne eines „lernenden Systems“ – verbindliche Modalitäten zwischen Herstellern und GKV-SV definiert.
Anwendungsbeispiel: effektiv und wirtschaftlich bei Depressionen
Wie können digitale Innovationen Versorgungslücken schließen? Ein konkretes Beispiel in der Depressionstherapie: Die Versorgung bei Depressionen kombiniert gemäß den Leitlinien eine Pharmako mit einer Psychotherapie. Die deutsche Versorgungsrealität sieht aber so aus: Von über 5 Mio. Patienten mit Depressionen erhalten lediglich 10% bis 15% eine angemessene psychotherapeutische Behandlung (IQWiG 2012). Die Wartezeit auf einen Therapieplatz beträgt nicht selten sechs Monate oder mehr.
Hier können studienbasierte digitale Innovationen wie das Onlinetherapieprogramm deprexis nachweislich helfen (Vertrieb: Servier Deutschland GmbH, München; Hersteller: GAIA AG, Hamburg). Das Programm kann zeit- und ortsunabhängig genutzt werden, z.B. in Ergänzung zur Face-to-Face-Psychotherapie oder wenn eine solche vom Patienten nicht gewünscht ist. Digitalisierung und Psychotherapie werden sich künftig im zunehmenden Maße in Richtung der Patientenbedürfnisse ergänzen.
Die Effektivität und Sicherheit von deprexis wurde in zwölf wissenschaftlichen Studien nachgewiesen, an denen mehrere Tausend Patienten in Deutschland und den USA teilgenommen haben. Aus einer Studie von Experten des Gesundheitsökonomie-Lehrstuhls von Prof. Dr. Greiner, Universität Bielefeld, geht zudem hervor, dass deprexis wirtschaftlich ist und die GKV-Gesamtkosten reduzieren kann.[1]
Fazit
Digitalisierung und KI bieten über smarte Forschung, DiGAs sowie telemedizinische Möglichkeiten vielfältige Chancen für komplett integrierte digitale Behandlungsoptionen. Damit kann die flächendeckende Gesundheitsversorgung verbessert und der Innovationsstandort Deutschland gestärkt werden.
Aktuell nutzen über 10 Mio. Deutsche Onlinesprechstunden und digitale Diagnostik-Apps. Patienten fordern dabei ganzheitliche Gesundheitslösungen, die weit über die klassischen Medikamente hinausgehen und einen klaren therapeutischen Mehrwert bieten.
Mit dem DVG wurde in Deutschland als erstem Land weltweit ein richtiger und konsequenter Meilenstein erreicht: Patienten können von nun an von „zugelassenen“ DiGAs als Kassenleistung profitieren. Im Sinne eines „lernenden Systems“ werden derzeit weitere verbindliche Rahmenbedingungen gestaltet, z.B. bezüglich der DiGA-Erstattungspreise.
Mit dem derzeit als Eckpunktepapier vorliegenden geplanten dritten DVG könnte die Situation für Patienten zukünftig noch weiter verbessert werden, da dieses u.a. gezielt digitale Innovationen in der Pflege thematisiert.
[1] Gräfe, V./Greiner, W. (2017) in: Value in Health, 20(9), S. A714.
ZUM AUTOR
Oliver Kirst ist Geschäftsleiter der Servier Deutschland GmbH. Der studierte Pharmazeut ist seit 1992 im Unternehmen tätig und hatte verschiedene internationale Positionen bei Servier inne.