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Brain-Computer Interfaces (BCIs) waren lange Vision – und sind womöglich bald schon von Realität. Unternehmen wie Neuralink und Synchron treiben erste klinische Studien voran, Milliardeninvestitionen beschleunigen die Entwicklung. Gleichzeitig steigt auch in Europa das Interesse, eigene Kompetenzen aufzubauen. Doch wo liegen die größten Chancen, welche Risiken gilt es zu beachten – und welche Rolle könnte Deutschland dabei spielen?
Darüber sprechen wir mit Dr. med. Selina Greuel, Geschäftsführerin von BSV sowie Co-Founder und CCO des BCI-Start-ups Insellar.
Plattform Life Sciences: Frau Dr. Greuel, wie würden Sie die aktuelle Lage im Bereich Brain-Computer Interfaces beschreiben?
Die aktuelle Lage im Bereich Brain-Computer Interfaces (BCIs) ist vor allem von zwei Entwicklungen geprägt: Zum einen erleben wir einen enormen technologischen Fortschritt, zum anderen ein stark wachsendes Investitionsinteresse. BCIs messen Hirnaktivitäten und übersetzen diese in funktionale Outputs – zum Beispiel, um verlorene Fähigkeiten wie Bewegung oder Kommunikation zurückzugeben. Gleichzeitig gibt es bereits Bestrebungen, BCIs auch bei gesunden Menschen einzusetzen, etwa zur Erweiterung kognitiver oder sensorischer Leistungen. Damit eröffnet sich nicht nur ein großes medizinisches, sondern auch ein gesellschaftliches Potenzial. Darüber hinaus hat sich der Sektor in den vergangenen Jahren zu einem dynamischen Wachstumsmarkt entwickelt. Allein 2024 sind mehr als 2,3 Mrd. USD an Venture-Capital in das Feld Neurotech geflossen – dreimal so viel wie noch 2022. Unternehmen wie Neuralink konnten Finanzierungsrunden in erheblicher Größenordnung abschließen, und Analysten wie Morgan Stanley prognostizieren allein in den USA eine zukünftige Marktgröße von rund 400 Mrd. USD.[1] Kurz gesagt: BCIs sind längst kein reines Zukunftsthema mehr. Sie haben den Sprung von der Vision hin zu realen Anwendungen geschafft und entwickeln sich zu einem Feld mit erheblicher wirtschaftlicher Dynamik.
Was macht Neuralink so besonders?
Zum einen sorgt schon allein die Verbindung zu Elon Musk dafür, dass Neuralink viel Aufmerksamkeit bekommt. Zum anderen ist es mit seiner starken Finanzierung sehr gut aufgestellt – und gehört zu den wenigen Playern, die den Sprung aus dem technischen Labor in die Klinik tatsächlich geschafft haben. Damit zählt Neuralink aktuell zu den am weitesten fortgeschrittenen Firmen im Feld. Technologisch ist die Firma ebenfalls interessant. Neuralink entwickelt ein etwa münzgroßes Implantat, was mit über 1.000 Elektroden verbunden ist, die dann mittels einem eigens hierfür entwickelten Roboters präzise im Gehirn platziert werden. Diese vielen Elektroden sollen dann die Signale des Gehirns so gut interpretieren, dass die tatsächlichen Gedanken von Patienten, zum Beispiel den Cursor am Laptop zu bewegen, fehlerfrei umgesetzt werden.[2] Für Patient:innen mit fortgeschrittener ALS oder Querschnittslähmung stellt das einen enormen Meilenstein dar. Ob die Technologie jedoch tatsächlich tragfähig ist, wird sich aber erst zeigen, wenn belastbare Daten vorliegen. Vor allem bezüglich der Fehlerfreiheit habe ich aktuell noch meine Vorbehalte. Allerdings wurden in diesem Feld bereits große Schritte gegangen, insofern bin ich davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Neuralink der Durchbruch gelingt.
Neben Neuralink wird oft Synchron genannt. Wo liegt der Unterschied?
Synchron hat es ähnlich wie Neuralink bereits in die Klinik geschafft, fährt aber einen etwas anderen Ansatz. Die Elektroden werden hier nicht von außen im Hirngewebe platziert, sondern werden weniger invasiv über Blutgefäße eingeführt. Dafür ist die räumliche Auflösung niedriger als bei Neuralinks Technologie, die teils sogar die Aktivität einzelner Neurone messen kann. Synchrons erste Studie war bzgl. des Nebenwirkungsprofils erfolgreich, aber auch hier wissen wir bisher wenig über die tatsächliche Wirksamkeit und Fehlerfreiheit der Technologie.[3]
Welche weiteren Unternehmen prägen den Markt?
Neben Neuralink und Synchron sind sicherlich US-Firmen wie Paradromics, Blackrock Neurotech, Motif Neurotech und Precicision Neurscience zu nennen. Paradromics zum Beispiel hat in diesem Sommer ebenfalls ihr Device in einem Patienten mit Epilepsie erfolgreich implantieren können – grundsätzlich verfolgen sie einen ähnlichen Ansatz wie Neuralink. In Europa wäre sicherlich die spanische Firma INBRAIN NEUROELECTRONICS hervorzuheben, die sich auf das Material Graphen spezialisiert hat. INBRAIN schloss 2024 eine Series B Runde über 50 Mio. USD ab. Auch in Deutschland entstehen spannende neue Ansätze. Unser Berliner Start-Up Insellar z.B., ganz frisch gegründet im Juli dieses Jahres, entwickelt eine neuartige Klasse von BCI, das wir gerne „Basal Brain Interface“ nennen. Wir konzentrieren uns nicht auf die Dekodierung von Gedanken und Steuerung von Bewegungen, sondern auf die präzise Modulation des neuro-humoralen Systems. Statt auf hochinvasive Elektroden an der Hirnoberfläche zu setzen, verfolgen wir einen minimalinvasiven Ansatz, der tiefere und bislang therapeutisch kaum zugängliche Systeme anspricht. Im Speziellen sind wir sehr interessiert an Oxytocin, das nicht nur peripher als Hormon fungiert, sondern zentral auch als sehr wichtiger Neurotransmitter. Hier gibt es insbesondere aus den letzten zwei Jahren fantastische wissenschaftliche Evidenz, die zeigt, wie wichtig Oxytocin im Kontext der Empfindung von Freude, Entspannung und Minderung von Angstgefühlen ist. Diese endogenen Effekte möchten wir therapeutisch explorieren – vor allem, um neue Therapieansätze für Erkrankungen wie Depressionen zu entwickeln. Hier gibt es nach wie vor erheblichen Bedarf vonseiten der Patientinnen und Patienten.
Wie sieht die Investitionslage in Europa aus?
Die USA sind hier natürlich erstmal führend, aber auch in Europa wird man aktiver. Wir sehen Aktivitäten in UK, in Spanien, Frankreich, Dänemark, den Niederlanden, Italien, Schweiz, Schweden… und natürlich auch in Deutschland. Insgesamt ist die Szene aber fragmentiert und unterfinanziert, baut aber auf einer starken akademischen Basis auf. Ein Paper von Jakob Hensing und Peter Schlecht nennt folgende Zahlen: in 2024 gab es etwa 1.500 Neurotech-Deals in den USA, in Deutschland 21. Führend in Europa waren die Niederlande mit knapp 170 Deals und UK mit knapp 150 Deals. Es gibt hierzulande einige große Vordenker und einige großartige Forscher und Entwickler aus den Forschungsinstituten und Kliniken, aber BCI spiegelt sich noch nicht so ganz in der Start-up-Szene wieder. Das ist ein sich wiederholendes Muster insbesondere hier bei uns in Deutschland.

Was die grundsätzliche Verfügbarkeit von Kapital im Bereich BCI angeht muss man sagen: es gibt zumindest international aktive VC Funds gibt, die sich auf das Thema Neurotech spezialisiert haben, wie Xeia Venture Partners und Nexus NeuroTech Ventures. Insofern ist es kein komplettes ‚blank space‘.[4] Von den breiter gefächerten Funds sind einige in dem Feld aktiv, zum Beispiel haben CARMA, Heal Capital und der HTGF in das Münchner Start-Up Ceregate investiert. Also Interesse ist schon da, insofern ist es vielleicht für die Funds auch ein ‚Angebot‘-Problem; es gibt einfach auch noch nicht so viele BCI-Start-ups in Europa.
Was müsste denn passieren, damit wir im Feld BCI aufholen?
In Deutschland und Europa allgemein haben wir natürlich immer mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen: regulatorische Hemmnisse, lähmende Bürokratie, Hindernisse bei Ausgründungen aus Forschungsinstituten… und manchmal habe ich den Eindruck, in Deutschland reagiert die Politik klassischerweise mit etwa 10 Jahren Verspätung auf eine sich neu etablierende Forschungsrichtung. Wobei man sagen muss, dass die Europäische Investitionsbank kürzlich mitgeteilt hat, dass sie nun 100 Mrd. EUR investieren möchte in moderne Technologien. Vieles davon wird aber sicherlich in die Themen Energie und europäische Sicherheit und Verteidigung fließen.
Sie sprechen Verteidigung an. Wie stark ist die Nähe von BCIs zum Militär?
Eine gewisse Überschneidung gibt es hier definitiv. Zum einen beim Thema Genesung nach Einsätzen, sprich‘ Prothesensteuerung nach Amputationen, oder Therapie von psychischen Erkrankungen wie PTSD, das ist recht ‚straight-forward‘. Etwas kontroverser wird es beim Thema ‚Enhancement‘, wo Waffensysteme beispielsweise durch neuronale Implantate direkt angesteuert werden können. Das geht sogar in der Theorie so weit, dass die Steuerung durch den Soldaten oder die Soldatin unterbewusst passiert: sobald der Soldat ein Ziel visuell ins Visier nimmt, erkennt das BCI diese neuronale Signatur und gibt das Feuerkommando, noch bevor der Soldat bewusst das Ziel wirklich wahrgenommen hat. Das ermöglicht eine unglaublich schnelle Reaktionszeit. Mir wäre jetzt keine spezifische Firma bekannt, die ansatzweise in der Entwicklung schon so weit gekommen ist, aber wir wissen natürlich, dass Länder wie die USA und China hier großes Interesse haben. Die USA sind über die Defense Advanced Research Projects Agency schon Jahre sehr aktiv interessiert an BCIs, und China hat sich im Rahmen ihrer ‚Military-Civil Fusion‘-Agenda zum Ziel gesetzt, die industrielle Entwicklung von BCIs als strategischen Bestandteil ihrer Technologiepolitik voranzutreiben. Mal sehen, was sich parallel in Deutschland mit unserem Sondervermögen so machen lässt. Die SPRIND hatte hier ja bereits ein Positionspapier veröffentlicht; mit einem Budget von einer Mrd. EUR über fünf Jahre ließe sich bezüglich militärischer Innovation einiges erreichen. Ich möchte aber auch nochmal betonen, dass es hier wirklich sehr viel positives Potential gibt, denn BCIs könnten zum Beispiel auch ermöglichen, dass Soldaten sich tatsächlich nicht mehr auf dem Schlachtfeld begegnen, sondern aus gewisser Entfernung unbemannte Maschinen steuern. Soldatenleben könnten hierdurch geschützt werden. Insofern ist die militärische Nutzung von BCIs durchaus auch positiv zu sehen.
Wo liegen die größten technologischen Herausforderungen?
Je nach Grad der Invasivität interagieren BCIs in direktem Kontakt mit dem Gehirn, sie müssen also den höchsten Ansprüchen bezüglich Sicherheit gerecht werden, sprich sie müssen biokompatibel sein, stabil, und möglichst klein. Dann gibt es zusätzliche technische Herausforderungen – das Dekodieren der neuronalen Signaturen ist unfassbar schwer, da die neuronalen Netzwerke noch nicht vollständig verstanden sind. Das erhöht die Fehleranfälligkeit. Und natürlich gibt es Fragen rund um die Themen Energieversorgung, die Software-Komponente, die Datenverarbeitung und -sicherung und so weiter.
Welche Anwendungen stehen im Vordergrund?
Der wesentliche Fokus liegt im medizinischen Themenfeld, insbesondere der Steuerung von Prothesen oder anderen externen Geräten. Das wird vor allem vorangebracht für Patienten und Patientinnen mit schweren Störungen der Motorfunktion, wie sie bei ALS, Querschnittslähmungen, Schlaganfall und sehr fortgeschrittenem Parkinson auftreten können. Dann gibt es noch ein interessantes Anwendungsfeld im Bereich der mentalen Gesundheit, insbesondere Depression und PTSD, oder auch der Schmerztherapie. Der nächste ‚evolutionäre‘ Schritt wäre wohl das Enhancement“ gesunder Gehirne, etwa zur Steigerung kognitiver Leistungen.
Und die Risiken?
Hier gibt es neben den medizinischen Risiken sicherlich einige gesonderte Risikobereiche, die wir beachten und gegebenenfalls regulieren müssen. Ich denke hier vor allem an Themen wie Cybersecurity und Datenschutz, aber auch Gefahren von beispielsweise Missbrauch und Überwachung. Dies ist aus meiner Sicht jedoch lösbar. Insbesondere, wenn wir hier europäische Wege gehen, die zum Beispiel bei dem Thema individuellen Datenschutz normalerweise sehr auf Sicherheit bedacht sind.
Ihre persönliche Einschätzung – Schlüsseltechnologie oder überschätzter Hype?
Ich persönlich sehe in diesem Feld ein unglaubliches Potential, insbesondere im medizinischen Bereich. Die bereits geleisteten Fortschritte sind wirklich beeindruckend, und ich glaube, wir sind von einem großen Durchbruch nicht mehr weit entfernt. Ich hoffe natürlich sehr, dass wir in Europa nachziehen und viel der Innovation aus unseren Breitengraden kommt. Das würde auch einige der Sicherheitsbedenken bereits adressieren. Das müssen wir aber jetzt entscheiden und dafür die Grundpfeiler legen. In fünf Jahren ist es zu spät.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Urs Moesenfechtel.
Quellen:
[1] “Which Vcs Are Funding BCI Technology? (July 2025).” Quick Market Pitch, quickmarketpitch.com/blogs/news/brain-computer-interfaces-investors. Accessed 9 Sept. 2025.
[2] Neuralink führt aktuell eine first-in-human klinische Studie durch (PRIME) , in welcher das sogenannte N1-Implantat in Patienten und Patientinnen mit Tetraplegie (vollständige Lähmung aller vier Extremitäten) infolge einer Halsrückenmarksverletzung oder Amyotropher Lateralsklerose (ALS) getestet wird.
[3] Im Herbst 2024 wurden erste Resultate der COMMAND-Studie veröffentlicht; sechs Patienten und Patientinnen mit einer schweren chronischen und therapieresistenten bilateralen Lähmung der oberen Extremitäten wurden in die Studie eingeschlossen und über 12 Monate hinweg beobachtet. Schwere Nebenwirkungen traten nicht auf (primärer Endpunkt der Studie damit erreicht) , über die Wirksamkeit lässt sich bisher keine eindeutige Aussage treffen.
[4] Titchmarsh KL, Jonas A, Wood PA, Ranieri D, Dodd J, Valdes Sanchez Navarro R, Wang JX. Brain Computer Interface Primer: The Next Big MedTech Opportunity? Morgan Stanley. October 9, 2024.
Autor/Autorin

Urs Moesenfechtel
Urs Moesenfechtel, M.A., ist seit 2021 Redaktionsleiter der GoingPublic Media AG - Plattform Life Sciences und für die Themenfelder Biotechnologie und Bioökonomie zuständig. Zuvor war er u.a. Wissenschaftsredakteur für mehrere Forschungseinrichtungen tätig.






