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Der Markt für digitale Gesundheit hat im Zuge der Coronapandemie in den letzten 24 Monaten große Umwälzungen und Fortschritte erfahren. Gewissermaßen aus der Not heraus wurde allen Beteiligten noch einmal die Notwendigkeit, aber auch die Chancen der Digitalisierung des Gesundheitswesens bewusst gemacht. Diese beinhalten Möglichkeiten der Telemedizin für den einzelnen Patienten bis hin zu künstlicher Intelligenz und Machine Learning in der Wirkstoffentwicklung. Von Holger Garbs

 

Die Umwälzungen der letzten zwei Jahre haben die Entwicklung verschiedener Trends und Technologien noch einmal beschleunigt. Gleichzeitig haben sie aber auch noch einmal vehement auf bestehende Mängel hingewiesen, beispielsweise beim Ausbau der digitalen Infrastruktur in Deutschland. Begriffe wie „personalisiert“, „stratifiziert“ oder „individualisiert“ bündeln sich in der Kennzeichnung „smarte Medizin“ und vereinen alte und neue Ansätze. Und doch gibt es Unterschiede.

„Smart“ reicht weit

„Aus meiner Sicht sind ‚smart‘ und ‚personalisiert‘ zwei verschiedene Ansätze, die sich in Teilen überschneiden“, sagt Anna Lena Weichaus, Project Manager Innovation & Technologies beim Branchennetzwerk Life Science Nord. Zur smarten Medizin gehören demnach ein vernetztes Gesundheitssystem, mit Elementen wie elektronischer Patientenakte (ePA), elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) oder E-Rezept und dem Ziel, möglichst wenige Patientenwege zu haben und dabei maximalen Datenzugriff und somit eine ganzheitliche Therapie zu ermöglichen. „Bei heutigen Innovationen wird oftmals die Patient Journey mitbetrachten und das Geschäftsmodell entsteht daraus oder wird dahin gehend angepasst, was die Qualität der Versorgung verbessern kann“, so Weichaus. Der Begriff der „personalisierten Medizin“ hingegen sei in der Medizintechnik und Pharmazie bereits seit längerer Zeit bekannt, jedoch eher im Sinne von Nischenanwendung oder als Sonderanfertigung. „Würden Ärzte nach dem Begriff gefragt werden, würde vermutlich ein Großteil angeben, dass jegliche ihrer Behandlungen personalisiert sind. Aktuell wird die ‚personalisierte Medizin‘ aber stark ausgedehnt, sodass bisherige ‚One-size-fits-all-Lösungen‘ – jeder erwachsene Patient mit Kopfschmerzen nimmt dreimal täglich eine Aspirin – für jeden individuellen Patienten angepasst werden können“, sagt Weichaus. Diese Anpassung werde möglich, weil deutlich mehr Daten beispielsweise aus Smart-Medicine-Anwendungen zur Verfügung stünden und mehr Faktoren berücksichtigt werden könnten. „An dieser Stelle überschneiden – bzw. verschmelzen – ‚smarte Medizin‘ und ‚personalisierte Medizin‘“, so Weichaus. „Die Entwicklung zur digitalen Medizin hin kann aus meiner Sicht eigentlich nicht schnell genug gehen. Hier ist insbesondere die Politik gefordert, die Weichen zu stellen und die Rahmenbedingungen zu schaffen, um Innovationen nicht auszubremsen. So wird die Behandlung von Patientinnen und Patienten verbessert und gleichzeitig können Kosten im Gesundheitswesen gesenkt werden.“

Um die digitale Präzisionsmedizin voranzutreiben, wurde im Jahr 2020 Projekt P.I.L.O.T. – PrecisionMedicine | Innovations | LifeScience | Opportunities | Technologies initiiert, um ein Netzwerk in Schleswig-Holstein und dem Cluster Life Science Nord aufzubauen, das sich auf alle Aspekte digitaler Präzisionsmedizin spezialisiert. Das Netzwerk beschränkt sich nicht ausschließlich auf den Digitalisierungsaspekt, wie beispielsweise die Auswertung und Analyse von Patientendaten und deren Nutzen für die Präzisionsmedizin, sondern integriert explizit Akteure und die dazugehörigen Lösungen aus Medizintechnik, Biotechnologie und Pharmazie, die keine ausdrückliche Digitalisierungskomponente nutzen, aber dennoch individuell angepasst sind oder die Möglichkeit dazu bieten. „Das stärkt und erweitert kreative und interdisziplinäre Prozesse in Norddeutschland“, unterstreicht Weichaus. „Ziele von P.I.L.O.T. sind die Einbindung von Wirtschaft als auch Wissenschaft zur Nutzung der Digitalisierung in der Präzisionsmedizin sowie die Stärkung und der Ausbau neuer wissensbasierter Geschäftsentwicklungen in der Präzisionsmedizin. Zur Zielerreichung werden beispielsweise Kooperationsprojekte gestartet und spezifische Testfelder oder Validierungsstrukturen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft in Norddeutschland etabliert.“

Zahlreiche neue Anreize

„Die zunehmende Digitalisierung in der Medizin und der Einsatz künstlicher Intelligenz in der Diagnostik bieten viele neue Ansätze, Krankheiten frühzeitiger und sicher zu erkennen und Therapien optimaler zu begleiten“, bestätigt auch Dr. Thomas Diefenthal, Geschäftsführer der BioPark Regensburg GmbH. „Die personalisierte Medizin ist hier ein wichtiger Teil, sie war im Zuge der Erfolge in der Krebstherapie ein erster Vorreiter der smarten Medizin.“ Im Netzwerk „Healthcare Regensburg“ hat die Digitalisierung einen hohen Stellenwert. In diversen Projekten werden verschiedene Bereiche bearbeitet, etwa in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient oder der Interaktion zwischen stationärer und ambulanter Versorgung. „Ein Leuchtturmprojekt ist unser Cross-Cluster-Projekt Artificial Intelligence Regensburg (AIR Regensburg), in dem wir branchenübergreifend mit den regionalen Hochschulen und Firmen zusammenarbeiten“, erklärt Dr. Diefenthal. „Im Raum Regensburg gibt es einen hohen Anteil an Produktions- und Industrieunternehmen, die bereits heute mit Technologien aus dem KI-Bereich arbeiten. Die Initiative bündelt die regionalen Potenziale und Erkenntnisse aus Forschung und Entwicklung der Akteure. Im Bereich Gesundheit ist hier der Einsatz von KI in der Diagnostik und der Pflege ein Thema.“

Hürden überwinden

Doch auch wenn gerade die Pandemie der letzten zwei Jahre die Notwendigkeit der Digitalisierung des Gesundheitswesens in all ihren Facetten noch einmal verdeutlicht hat, so gibt es doch in der Praxis Hürden, die es zu überwinden gilt. „Der Umgang mit großen, personenbezogenen Datenmengen braucht klare, auf Gesetze basierende Regeln. Smarte Medizin braucht hier Selbstbestimmung, d.h., der Patient entscheidet, welche Daten er offenlegen will“, betont Dr. Diefenthal. Der Datenschutz bleibt ein sensibles Thema. „Die Balance zwischen Sicherheit und Kooperationsfähigkeit zu schaffen ist in unserer digitalisierten Welt in jeder Industrie eine große Herausforderung“, bestätigt Prof. Dr. Hartmut Juhl, Gründer der Hamburger Indivumed GmbH. „Wir haben die größtmöglichen Sicherheitsvorkehrungen, wir lassen sogar Hacker regelmäßig auf uns selbst los.“

Zudem dürfe der Einsatz künstlicher Intelligenz nicht dazu führen, so Dr. Diefenthal weiter, dass die ärztliche Kompetenz bedroht wird. „Die Vernetzung regionaler Partner gelingt am besten ‚digital‘.“ Am Standort Regensburg wird dazu aktuell über ein go-cluster-gefördertes Projekt eine eigene B2B-Plattform mit dem Innoloft Ecosystem aufgebaut. Erste Arbeitsgruppen, etwa zu Innovationen in der Pflege oder der Diagnostik und der Healthcare Accelerator BioPark Jump für das Gründerökosystem, sind bereits entstanden.

Mit Rat und Tat zur Seite stehen

Auch André Hofmann, CEO von biosaxony e.V., dem Cluster für Biotechnologie und Medizintechnik in Sachsen, betont die Innovationskraft der smarten Medizin. „Smarte Medizin ist für mich die nächsthöhere Stufe und bedeutet vor allem die Verbindung von intelligenter medizinischer Technik, Biotechnologie, Pharmazie, Kommunikationstechnologie und IT zum höheren Nutzen für den Patienten. Sie unterstützt und ermöglicht personalisierte Medizin – geht aber auch weit darüber hinaus.“ Hofmann verweist beispielsweise auf KI-gestützte Diagnostik oder den Einsatz augmentierter Realität bei chirurgischen Eingriffen, „aber auch an eher einfachere wie geniale Ideen wie die von PimaAssist, welche die Kommunikation zwischen Patienten und Pflegepersonal vereinfachen und so letztere entlasten“.

Hofmann verweist auch auf das Konzept des Center for Medicine Innovation in Leipzig, welches sich im Wettbewerb um die neuen sächsischen Großforschungszentren, die im Rahmen des Strukturwandels nach dem Braunkohleausstieg entstehen sollen, durchsetzen soll. „Hier soll interdisziplinär die smarte Medizin von morgen entwickelt und in die Anwendung transferiert werden“, so Hofmann. „Ein kleineres, aber bereits bestehendes Zentrum in diesem Bereich ist das Else Kröner Fresenius Zentrum für Digitale Gesundheit, welches sich u.a. um den Schwerpunkt der vernetzten Versorgung dreht.“

Trotzdem sieht auch Hofmann die weitere Entwicklung der smarten Medizin nicht ohne zusätzliche Herausforderungen. „Neben all den technischen und finanziellen Herausforderungen, die Gründer bei der Entwicklung ihrer innovativen Produkte zu meistern haben, kommen die drei größten ‚Brocken‘ am Schluss: die regulatorischen Anforderungen, die Erstattungsfähigkeit im deutschen Gesundheitssystem und letztlich die Implementierung in der Versorgung.“

Ein Projekt, welches hier ansetzen möchte, ist MEDICAL FORGE. Das Projekt möchte jährlich acht Unternehmen bei der Bewältigung dieser Hürden unterstützen. „Die erste Klasse mit einem überraschend hohen Anteil internationaler Teilnehmer beginnt in diesen Tagen ihre Reise mit uns“, erklärt Hofmann. „Wir bündeln in diesem Programm die Erfahrung Dutzender Mentoren und Coaches, die Netzwerke großer Partnerunternehmen wie B.Braun und HP sowie die medizinische Expertise von Versorgern wie dem Universitätsklinikum Leipzig oder dem Klinikum St. Georg sowie von Krankenkassen.“ Aus diesem Wissen wird für jedes Team ein individuelles Unterstützungspaket geschnürt, das bei der Bearbeitung der drei genannten Schwerpunkte helfen soll. „Dank einer Förderung des BMWK müssen die Teilnehmer nur 10% der Kosten für die Teilnahme selbst aufbringen“, so Hofmann.

Anreize schaffen

Vorteile und Notwendigkeit einer digitalen Gesundheit – der smarten Medizin – liegen also auf der Hand. Bleibt die Herausforderung, wie so oft, innovative Ideen von der Wissenschaft in die Wirtschaft zu transferieren. Immerhin: Laut dem „Digital Health Report 2021“ von Brainwave wurden allein im vergangenen Jahr 831,5 Mio. USD Venture Capital in deutsche Start-ups investiert. Das Finanzierungsvolumen wird insbesondere von internationalen Expansionen und Start-ups aus dem DTx-Segment angetrieben. Darüber hinaus engagieren sich immer häufiger klassische Life-Sciences-Fonds im Digital-Health-Sektor. Kapital ist also vorhanden. Start-ups wie Ada Health, Kaia Health oder caresyntax haben in Series-B- und Series-C-Finanzierungen große Summen eingenommen. Als klarer Investmenttrend zeichnen sich digitale Therapien ab.

Also alles gut? „Tatsächlich ist immer noch und immer wieder der Zugang zu Risikokapital eine Herausforderung, der wir im wissenschaftlichen Bereich begegnen,. Dieser müsste erleichtert werden, um Wissenschaftlern den Schritt in die Unternehmensgründung zu erleichtern“, sagt Hartmut Juhl. Darüber hinaus, so Juhl, würde die Möglichkeit auf unbezahlten Urlaub in der Unternehmensstartphase, also eine Rückkehrgarantie zu haben, sicher einen Beitrag leisten den doch sehr großen Schritt etwas weniger riskant erscheinen zu lassen. „Und somit im besten Fall viele neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu Unternehmensideen zu machen und einen Weg in den Markt zu ebnen.“

Das Onkologie-Unternehmen Indivumed setzt in seiner Arbeit stark auf den Einsatz Künstlicher Intelligenz und arbeitet dahingehend mit verschiedenen Einrichtungen zusammen. Eine Kooperation mit JadBio, einer KI-Firma, die auf Kreta in Griechenland beheimatet ist, ist dabei von Bedeutung. Wir sind an dem Unternehmen beteiligt und haben uns Nutzungsrechte an deren führender KI-Technik für unsere Datenbank gesichert“, erklärt Hartmut Juhl. Aber wir investieren auch in ein eigenes Team – sowohl im Software-Engineering als auch in der Datenprozessierung und -analytik, welches in einem Jahr von fünf auf 40 Personen gewachsen ist und weiter stark ausgebaut wird. Damit einher geht der Ausbau der Datenbank, wo nicht nur das Datenmaterial ‚abgelegt‘ wird, sondern auch die Nutzbarkeit immer im Vordergrund steht, um beispielsweise auch in die Lage zu kommen, Reports an Kliniken liefern zu können“, so Juhl.

Fazit

Eine Krise als Innovationstreiber – Corona hat die Notwendigkeit der Digitalisierung des Gesundheitswesens noch einmal schonungslos aufgedeckt, angefangen von Maßnahmen der Telemedizin über digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) bis hin zur Entwicklung eines Impfstoffs, die ohne die massenhafte und intelligente Nutzung von internationalen Patientendaten nicht möglich gewesen wäre. Ob dieser Effekt nun verpuffen wird, liegt auch – einmal mehr – in der Verantwortung der politisch Handelnden. Es geht um rechtliche, steuerliche und finanzielle Rahmenbedingungen ebenso wie technische Voraussetzungen. An Ideen und Engagement der klugen Köpfe mangelt es jedenfalls nicht.

Autor/Autorin

Holger Garbs ist seit 2008 als Redakteur für die GoingPublic Media AG tätig. Er schreibt für die Plattform Life Sciences und die Unternehmeredition.