Bildnachweis: Juan Gärtner – stock.adobe.com, Immunic, Immunic/Alessandra Schellnegger.

Die Zulassung des ersten Beta-Interferons im Jahr 1993 markierte einen Meilenstein in der Therapie der Multiplen Sklerose (MS). Seither haben sich die Behandlungsmöglichkeiten rasant entwickelt, was individuelle Ansätze und eine verlängerte Selbständigkeit für Betroffene ermöglicht. Doch die schleichende Verschlechterung von Körper und Geist bleibt eine ungelöste Herausforderung. Neue therapeutische Ansätze, die über die reine Reduktion von Schüben hinausgehen und alle Aspekte der Krankheit adressieren, könnten entscheidende Fortschritte bringen. Ist der nächste große Durchbruch in der MS-Behandlung greifbar?

 

Von schubfokussierten Therapien hin zu umfassenden Ansätzen der Neuroprotektion

Was genau verbirgt sich hinter dem im englischen als „smoldering disease“ beschriebenen Phänomen? Die allmähliche, jedoch kontinuierliche Krankheitsprogression ist nicht nur bei primär und sekundär progressiven Verlaufsformen der MS festzustellen, sondern wird auch bereits bei der schubförmigen MS sowie in den frühen Stadien der Erkrankung beobachtet. Neueste Daten belegen, dass die schubunabhängige Verschlechterung des Gesundheitszustands für etwa 50 Prozent der Beeinträchtigung während der schubförmigen Phase der MS und für 100 Prozent in der progressiven Phase verantwortlich ist.

Diese kontinuierliche, schleichende und oft nicht sofort erkennbare Verschlechterung sowohl der physischen als auch der kognitiven Fähigkeiten wird als Progression unabhängig von Schüben (PIRA, Progression Independent of Relapse Activity) bezeichnet. PIRA lässt sich auch bei Patienten beobachten, die mit bestehenden therapeutischen Optionen behandelt werden und deren Schübe wirkungsvoll unterdrückt werden. Im Gegensatz dazu beschreibt die rückfallbedingte Verschlechterung (RAW, Relapse Associated Worsening) Einschränkungen, die nach einem Schub persistieren und nicht vollständig zurückgebildet werden.

Der ideale Wirkstoff würde über das gesamte Krankheitskontinuum hinweg wirken und Schübe, MRT-Aktivität, RAW und PIRA adressieren. Copyright Grafik: Immunic
Der ideale Wirkstoff würde über das gesamte Krankheitskontinuum hinweg wirken und Schübe, MRT-Aktivität, RAW und PIRA adressieren. Copyright Grafik: Immunic

Idealerweise kombinieren zukünftige MS-Therapien also neuroprotektive Wirkmechanismen mit einer Reduktion entzündlicher Schübe und sichtbarer Läsionen in der Magnetresonanztomographie (MRT). Denn ein dualer Wirkmechanismus reduziert nicht nur die rückfallbedingte Verschlechterung (RAW), sondern adressiert auch die zugrunde liegenden Mechanismen, die zur schwelenden MS und schubunabhängigen Progression (PIRA) beitragen.

Nurr1: Ein vielversprechendes Zielmolekül für die Zukunft der MS-Therapie

Der Transkriptionsfaktor Nurr1 (nuclear receptor related 1) gilt als vielversprechendes Zielmolekül für die Entwicklung neuer therapeutischer Ansätze für neurodegenerative Erkrankungen, zu denen Alzheimer, Parkinson und eben auch die MS gehört. Dank seiner neuroprotektiven Eigenschaften hat Nurr1 das Potenzial, entzündungsbedingte Schäden im zentralen Nervensystem zu reduzieren und die neuronale Gesundheit zu fördern. In Mikroglia, den Immunzellen des Gehirns, bewirkt die Aktivierung von Nurr1 eine deutliche Senkung entzündungsfördernder Zytokine und hemmt die Freisetzung direkt neurotoxischer Substanzen, die zur Schädigung von Nervenzellen beitragen.

Darüber hinaus unterstützt eine verstärkte Nurr1-Aktivität in Neuronen das Überleben der Zellen, fördert deren Differenzierung und verbessert die Neurotransmission, wodurch neuronale Netzwerke stabilisiert werden könnten. Die Fähigkeit von Nurr1, diese zentralen Entzündungs- und Überlebensprozesse zu regulieren, macht es zu einem attraktiven Zielprotein für zukünftige therapeutische Interventionen, die den Verlauf und die Symptome neurodegenerativer Erkrankungen langfristig positiv beeinflussen könnten.

Einfach in der Anwendung: Fokussiert auf Patientenkomfort durch orale, einmal tägliche Verabreichung. Copyright Foto: Immunic/Alessandra Schellnegger
Einfach in der Anwendung: Fokussiert auf Patientenkomfort durch orale, einmal tägliche Verabreichung. Copyright Foto: Immunic/Alessandra Schellnegger

Das Biotechnologieunternehmen Immunic Therapeutics mit Hauptsitz in New York und dem Forschungs- und Entwicklungszentrum in Gräfelfing bei München setzt genau in dieser Lücke der Behandlungsmöglichkeiten von MS-Patienten an. Der am weitesten fortgeschrittene Produktkandidat des Unternehmens, Vidofludimus Calcium, ist ein selektiver Immunmodulator, der neben der Inhibition des Enzyms Dihydroorotat Dehydrogenase (DHODH) sehr potent diesen neuroprotektiven Transkriptionsfaktor Nurr1 aktiviert. So hat Vidofludimus Calcium das Potenzial, sowohl entzündungshemmend und antiviral (DHODH) wie auch neuroprotektiv (Nurr1) zu wirken – also genau den nötigen dualen Wirkmechanismus zu bedienen, den ein neuartiges MS-Medikament liefern sollte.

„MS Fatigue“: Ursachen und Therapieansätze für die MS-bedingte Erschöpfung

Chronische Erschöpfung, auch als „Fatigue“ bekannt, zählt zu den häufigsten und belastendsten Symptomen für MS-Patienten. Sie geht weit über das normale Maß an Müdigkeit hinaus und führt bei vielen Patienten zu erheblichen Einschränkungen im beruflichen und sozialen Leben. Mehr als zwei Drittel der MS-Patienten sind von Fatigue betroffen, und etwa ein Drittel bezeichnet sie sogar als das schwerwiegendste Symptom.

Obwohl die genauen Ursachen der Fatigue bislang nicht vollständig erforscht sind, weisen wissenschaftliche Erkenntnisse darauf hin, dass eine fortwährende Reaktivierung des Epstein-Barr-Virus (EBV) eine Schlüsselrolle spielen könnte – ähnlich wie Erschöpfungszustände, die nach anderen Virusinfektionen auftreten. Eine Unterdrückung dieser kontinuierlichen EBV-Reaktivierung könnte den entzündlichen Reiz auf das Immunsystem verringern und somit die Fatigue lindern.

Ein vielversprechender Ansatz in der MS-Forschung besteht daher darin, das ständige Wiederaufflammen der EBV-Aktivität durch gezielte medikamentöse Intervention zu unterbrechen und die Fatigue-Symptome nachhaltig zu lindern. Vidofludimus Calcium zeigt hier Potenzial, da es dank seiner antiviralen Eigenschaften diesen Teufelskreis wirksam stoppen könnte. Weitere Erkenntnisse hierzu erwartet das Unternehmen sowohl aus den laufenden ENSURE-Studien der Phase 3 in schubförmiger MS, die in 2026 abgeschlossen werden sollen, sowie aus der RAPID-REVIVE-Studie, eine Prüfarzt-gesponserte Phase-2-Studie in Patienten mit Post-Covid Syndrom.

Der nächste wichtige Meilenstein der MS-Forschung von Immunic sind die Topline-Daten der Phase-2-Studie CALLIPER in progressiver MS, die im April 2025 erwartet werden. „Unsere Vision ist klar: Ein Leben für MS-Patienten, das möglichst lang frei von körperlichen und geistigen Einschränkungen bleibt – mit einer einfach anwendbaren, täglichen Tablette bei gleichzeitig hoher Sicherheit und Wirksamkeit für die Patienten,“ beschreibt Dr. Daniel Vitt, CEO von Immunic, die ehrgeizige Mission hinter Vidofludimus Calcium.

Quellen:

  • MS-Register der DMSG, Bundesverband e. V., Stand: Sept. 2017
  • Giovannoni G, et al. Therapeutic Advances in Neurological Disorders. 2022 January
  • Lublin FD, et al. Brain. Mechanisms driving smoldering multiple sclerosis. 2022 September 14
  • Vietor et al. Journal of Medicinal Chemistry 2023
  • Schiro et al., 2022. Frontiers in Neurology, adapted from Willems S, Merk D. Journal of Medicinal Chemistry 2022
  • Unveröffentlichte Daten: Sun lab, City of Hope, Duarte; 2023

Anmerkungen der Redaktion:

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Autor/Autorin

Dr. Hella Kohlhof. Copyright Foto: Immunic/Nela Dorner
Dr. Hella Kohlhof
Mitgründerin, CSO at Immunic Therapeutics | Website

Dr. Hella Kohlhof ist Mitgründerin und Chief Scientific Officer von Immunic Therapeutics. Sie studierte Biologie an den Universitäten Aachen, München und Göteborg. Sie ist Expertin für Immunologie, Onkologie und Virologie sowie für Arzneimittelentwicklung.

Dr. Andreas Mühler. Copyright Foto: Immunic/Nela Dorner
Dr. Andreas Mühler
Mitgründer, CMO at Immunic Therapeutics | Website

Dr. Andreas Mühler ist Mitbegründer und Chief Medical Officer von Immunic Therapeutics. Vor seiner Industriekarriere forschte er an der University of California. Sein Medizinstudium absolvierte er an der Humboldt-Universität in Berlin und seinen MBA an der Duke University.