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„NextGenerationEU“ ist der klangvolle Name des Hilfspakets der Europäischen Union, das 750 Mrd. EUR umfasst und die Coronafolgen in den Mitgliedstaaten abfedern soll. Die Mittel aus dem Aufbaufonds sind zweckgebunden. Deutschland möchte 14 Mrd. EUR allein in die Digitalisierung stecken. Dass es dringend nötig ist, das Land digitaler zu machen, wird niemand bestreiten. Doch wofür werden die Milliarden konkret eingesetzt und inwieweit profitieren von einem moderneren Deutschland auch die Aktiengesellschaften und deren Aktionäre – beispielsweise im Rahmen der Hauptversammlung? Notlösungen und verlängerte Ausnahmegesetze reichen nicht mehr aus.

Kurz vor der Bundestagswahl hat das Parlament die Entscheidung getroffen, auf die zahlreiche Aktiengesellschaften in Deutschland gehofft hatten: Das COVID-19-Gesetz, das unter anderem die virtuelle Hauptversammlung ermöglicht, wurde erneut verlängert. Bis Ende August 2022 können AGs und SEs in Deutschland ihre Aktionärstreffen weiter virtuell abhalten – zu den bereits bestehenden Konditionen, die mit der ersten Verlängerung des Pandemiegesetzes geschaffen wurden. Damit erhalten vor allem jene Emittenten dringend benötigte Planungssicherheit, die ihre Hauptversammlung bereits zu Beginn des Jahres 2022 abhalten und bisher noch nicht sicher sein konnten, wie sie handeln dürfen und müssen.

Eine erneute Verlängerung des Coronagesetzes über die Mitte des kommenden Jahres hinaus wird es mit größter Wahrscheinlichkeit nicht geben. Stattdessen ist eine neue Bundesregierung gefordert, eine dauerhafte Gesetzgebung zu etablieren, die Hauptversammlungen langfristig auch digital möglich macht. Die Experten der Branche haben eine klare Meinung zu einem möglichen neuen Gesetz und den Rahmenbedingungen, die darin definiert werden sollen.

Bernhard Orlik, Link Market Services, erklärt: „Es wird eine grundsätzliche ‚Renovierung‘ der deutschen Hauptversammlung anstehen. Es wird spannend sein, welchen Weg die neue Bundesregierung einschlagen wird.“ Dr. Thomas Zwissler, ZIRNGIBL, ergänzt: „Die Reformdiskussion sollte von der COVID-19-Gesetzgebung entkoppelt werden.“ Es müsse gefragt werden, welche technischen Lösungen, die sich in der Krise bewährt haben, auch künftig zum Einsatz kommen sollten und „wo das geltende Aktiengesetz dem wirklich entgegensteht“.

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„Vieles hat funktioniert, aber vieles eben nicht“

Der jetzige Bundestag beschränkt sich allerdings darauf, die virtuelle Hauptversammlung auch weiterhin als „Notlösung“ zu betrachten. Prof. Dr. Heribert Hirte, stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages, lässt zu der Entscheidung zur Verlängerung wissen: „Die Erfahrungen mit der virtuellen Hauptversammlung während der Pandemie haben gezeigt, vieles hat funktioniert, aber vieles eben nicht.“ Deshalb habe man im vergangenen Dezember das Fragerecht der Aktionäre gestärkt. Die jetzige Lösung sei „ausdrücklich“ als Übergangsregelung zu betrachten, „die für die Zukunft der Online-Hauptversammlung nach der Corona-Pandemie nur begrenzte Vorbildfunktion haben kann“.

Die Regelungen seien vor allem im Hinblick auf die Pandemie und die kurzfristigen Unsicherheiten für Unternehmen entstanden. Prof. Dr. Hirte weiter: „Deshalb ist eines klar: Ein Rückgriff auf die virtuelle Versammlung ist schon jetzt nur zulässig, wenn mit Blick auf Teilnehmerzahl und Pandemiegeschehen eine Präsenzveranstaltung nicht sicher durchgeführt werden kann. Zudem ist den Aktionären im Rahmen ihres Fragerechts eine Nachfragemöglichkeit einzuräumen.“

Virtuelle Hauptversammlung als gleichwertige Alternative?

Die beiden Jahre Corona haben bewiesen, dass eine Umstellung und Modernisierung der Hauptversammlung überfällig ist – und doch scheinen die Verantwortlichen zumindest der jetzigen Regierung nicht überzeugt. Die neue Bundesregierung jedoch wird sich kaum den Forderungen von Interessenvertretern, Emittenten und Dienstleistern entziehen können. Sven Erwin Hemeling, Rechtsanwalt beim Deutschen Aktieninstitut, fordert beispielsweise, „die virtuelle Hauptversammlung als gleichwertige Alternative zur Präsenzhauptversammlung im Aktiengesetz zu verankern“. Darüber hinaus spricht Hemeling sich klar dafür aus, die Hauptversammlung grundlegend zu modernisieren.

Der Experte des Aktieninstituts sieht zahlreiche Vorteile: „Der Zeitaufwand und die Kosten der Teilnahme sind viel geringer als bei einer Präsenzversammlung.“ Eine virtuelle Hauptversammlung eröffne „Aktionären in aller Welt die Teilnahme, ohne dass sie um den halben Globus reisen müssen“. Klar ist für Hemeling aber auch, dass ein Rechtsrahmen gefunden werden muss, der die offene Kommunikation mit den Aktionären erlaubt: „Neben der Vorverlagerung des Fragerechts sollte deshalb auch über eine anfechtungsfreie Fragemöglichkeit während des Hauptversammlungstags nachgedacht werden.“