Was früher eher die beachtete Ausnahme war, gehört heute fast schon zum Alltag:
Die ­Verwaltung schlägt der Hauptversammlung vor, einzelne Mitglieder von Vorstand oder ­Aufsich­tsrat nicht zu entlasten.

Ist im Weisungsformular oder bei Abstimmung mittels elektronischer Stimmabgabe die Möglichkeit eröffnet, bei allen Tagesordnungspunkten „im Sinne der Verwaltung“ zu stimmen, so ist analog das ­Abstimmungsverhalten auf die einzelnen Punkte zu übertragen; bei a) mit Nein (im Falle der Nichtentlastung). Bei b) wird mit Ja gestimmt.

In jedem Fall sollte die gewählte Methodik einheitlich während der gesamten HV-­Vorbereitung und HV-Durchführung gewählt werden. Ein Blick in die Praxis zeigt, dass ein Wechsel der Methodik bei den ­Aktionären zu größter Verwirrung führt und damit das Anfechtungsrisiko erhöht.

Rechtliche Vor- bzw. Nachteile der Variante a) bzw. b)

Es ist umstritten, ob die Verwaltung der Hauptversammlung einen Beschlussvorschlag unterbreiten kann, der ausdrücklich auf „Nichtentlastung“ oder Verweigerung der Entlastung gerichtet ist. Kritische ­Stimmen in der Literatur halten einen ­Beschlussantrag auf Nichtentlastung bzw. Verweigerung der Entlastung für unzulässig. Sie argumentieren mit dem Gesetzeswortlaut des § 120 Abs. 1 Satz 1 AktG, der nur eine Beschlussfassung über die Entlastung vorsehe, nicht aber über die ­Verweigerung der Entlastung. Der Antrag zum Tagesordnungspunkt Entlastung müsse für jedes Organmitglied so formuliert sein, dass die Entscheidung zumindest zu einer Entlastung führen könnte. Mit Ablehnung des Entlastungsvorschlags sei eindeutig festgestellt, dass das betreffende Organmitglied für den relevanten Zeitraum nicht entlastet werde. Bei einem Antrag auf Nichtentlastung sei unklar, ­welche Rechtsfolgen die mehrheitliche ­Ablehnung des Antrags habe. Jedenfalls könne darin nicht – quasi als Negation der Negation – der positive Beschluss über die Erteilung der Entlastung liegen.

Andere Stimmen und eine weitverbreitete Praxis empfinden das als weniger problematisch. Die Hauptversammlungspraxis formuliert in solchen Fällen häufig gemäß Variante b) als Beschlussvorschlag der Verwaltung, „die Entlastung nicht zu erteilen“ oder dass einem Organmitglied für den relevanten Zeitraum „keine Entlastung ­erteilt“ wird.

Für die Variante b) spricht, dass die Intention der Verwaltung im konkreten zur ­Abstimmung zu stellenden Beschlussvorschlag zur Nichtentlastung eindeutig zum Ausdruck kommt. Für den Aktionär ist ­ohne Weiteres erkennbar, wie sich eine Abstimmung im Sinne der Verwaltung auswirkt. Zudem erleichtert ein solcher Beschlussvorschlag die Gestaltung der Abstimmungsmatrix und die Weisungen an Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft. Würde man aus Gründen rechtlicher Vorsicht der Auffassung folgen, die einen auf Nichtentlastung gerichteten Beschlussvorschlag ablehnt, müsste die Verwaltung ­gemäß Variante a) in der Einberufung der Hauptversammlung differenzieren zwischen dem antragsförmigen Beschlussvorschlag „Entlastung erteilen“ und einer textlich getrennten Empfehlung an die ­Aktionäre, bei bestimmten Organmitgliedern gegen den Entlastungsvorschlag zu stimmen. Auf den ersten Blick kann es ­widersprüchlich erscheinen, wenn die ­Verwaltung mit ihrer Empfehlung genau das Gegenteil ihres eigenen Beschlussvorschlags erreichen will. Dieses Vorgehen ­erfordert im Vorfeld der Hauptversammlung einigen kommunikativen Aufwand. Bei Gesellschaften mit hohem Streubesitz dürfte Variante a) unter Praktikabilitäts­erwägungen die ungünstigere Variante sein.

 

Anfechtung des HV-Beschlusses bei Nichtentlastung

Obwohl die Entlastung nach § 120 AktG ­wenig unmittelbare rechtliche Wirkung entfaltet, ist mit der Entscheidung für die Betroffenen ein öffentliches persönliches Werturteil verbunden. Insbesondere bei ­kapitalmarktorientierten Unternehmen können Image und Glaubwürdigkeit von Führungspersonen oder eine Bewertung strategischer Entscheidungen im Fokus stehen. Daher gibt es immer wieder Fälle der Anfechtung von Beschlüssen, mit ­denen die Entlastung verweigert wurde. Die Anfechtung ist sowohl in Variante a) als auch in Variante b) zulässig. Dabei ist das Ziel stets die Vernichtung des Beschlusses sowie nach erfolgreicher Anfechtung eine erneute Abstimmung über die Entlastung zu erwirken oder – weitergehend – in der Kombination von Anfechtungsklage und positiver Beschlussfeststellungsklage den Entlastungsbeschluss durch Urteil herbeizuführen. Letzteres spielt typischerweise bei Streit um Stimmrechtsausschlüsse aufgrund § 136 AktG, § 44 WpHG bzw. § 59 WpÜG eine Rolle.