Am 28. Juni 2025 ist das neue Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen und zur Änderung anderer Gesetze, kurz: Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), in Kraft getreten. Das Ziel des Gesetzes ist es, im Interesse von Verbrauchern und Nutzern eine Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen sicherzustellen. Dadurch soll das Recht auf Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für Menschen mit Behinderungen gestärkt und der Harmonisierung des Binnenmarkts Rechnung getragen werden (§ 1 BFSG Abs. 1). Von Christian Grötzbach-Conrad.
Das BFSG gilt für einige Dienstleistungen, die für Verbraucher nach dem 28. Juni 2025 erbracht werden. Dazu gehören Bankdienstleistungen (§ 1 BFSG Abs. 3 Satz 3) und Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr (§ 1 BFSG Abs. 3 Satz 5). Ob das Gesetz auch auf Hauptversammlungen anzuwenden ist, ist jedoch unklar.
„Eventuell ist es sogar notwendig, einen Gebärdendolmetscher am Counter zu beschäftigen.“
Der Intention des BFSG folgend sollten Hauptversammlungen, unabhängig davon, ob sie in Präsenz, virtuell oder hybrid stattfinden, barrierefrei geplant werden. So sind z.B. bei einer Präsenzversammlung der Einlass, die Registration und der Zugang zum Versammlungssaal bzw. zu den sanitären Anlagen barrierefrei zu gestalten. Zudem kann ein Extra-Registrationscounter für Menschen mit einer Behinderung eingerichtet werden, um Betroffene in allen Belangen adäquat zu unterstützen. Eventuell ist es sogar notwendig, einen Gebärdendolmetscher am Counter zu beschäftigen.
Niederschwellige Onlineservices
Wird eine Hauptversammlung virtuell oder hybrid durchgeführt, sind die dafür genutzten Onlineservices/-portale ebenfalls barrierefrei zu gestalten. Dabei ist insbesondere darauf zu achten, dass ein Registrationsportal zur Bestellung von Eintrittskarten oder zur Abgabe von Vollmachten und Weisungen an den Stimmrechtsvertreter bei Unternehmen mit Namensaktien von Menschen mit einer Behinderung problemlos bedient werden kann. Die technischen und gestalterischen Maßnahmen für barrierefreie Websites basieren auf der Umsetzung von Standards („Web Content Accessibility Guidelines“; WCAG 2.1), die sich in vier Prinzipien untergliedern lassen:
Wahrnehmbarkeit
- Alternativtexte für Bilder als Untertitel
- Transkripte für Videos und Audioinhalte
- Farbkontraste: mindestens 4,5 zu eins für Texte (dieses Kontrastverhältnis beschreibt den Helligkeitsunterschied zwischen einer Schrift und einem anderen Element im Vordergrund und dem jeweiligen Hintergrund)
- Keine ausschließlich farbliche Informationsvermittlung
- Strukturierte Inhalte (z.B. mithilfe von HTML-Überschriften, Listen)
Bedienbarkeit
- Navigation per Tastatur möglich
- Sichtbarer Fokus bei Tastaturbedienung
- Keine Zeitlimits oder Möglichkeit zur Verlängerung
- Vermeidung von schnellen Animationen, Blinken etc. (Epilepsierisiko)
- konsistente Navigation und Seitenstruktur
Verständlichkeit
- Klare, einfache Sprache
- Einheitliche Begriffe und Bedienelemente
- Erklärungen für ungewöhnliche Begriffe, Abkürzungen oder Fachsprache
- Vorhersehbares Verhalten von User-Interface-Elementen; das bedeutet, dass Bedienelemente, Navigation und Interaktionen einer Website oder Software konsistent und erwartungsgemäß funktionieren müssen, sodass Nutzer – einschließlich Menschen mit Behinderungen – nicht überrascht oder verwirrt werden
Robustheit
- Kompatibilität mit Assistenztechnologien (z.B. Screenreader)
- Semantisch korrektes HTML (z.B. <button> statt <div>)
- ARIA-Rollen und -Attribute, wo nötig; Accessible-Rich-Internet-Application-Roles (ARIA-Rollen) sind spezielle Attribute im HTML-Code, die dafür sorgen, dass assistive Technologien – wie Screenreader oder Spracherkennungssoftware – genau verstehen, welche Funktion ein UI-Element hat. Im Kontext des BFSG spielen sie eine große Rolle, weil das Gesetz fordert, dass Semantik und Bedeutung der Bedienelemente maschinenlesbar und konsistent vermittelt werden müssen.
- Gültiger und fehlerfreier Code
- Barrierefreie Inhalte müssen erläutert (Barrierefreiheitserklärung) und regelmäßig überprüft werden. Zusätzlich sollte eine Feedback-Möglichkeit angeboten werden, um noch vorhandene Barrieren melden zu können. Als Best Practices gelten folgende Bausteine: „Skip-to-main-Content-Link“ bereitstellen, Formulare mit beschrifteten Feldern, Fehlermeldungen klar und verständlich anzeigen. Ein „Skip-to-main-content-Link“ (auf Deutsch oft „Zum Hauptinhalt springen“) ist ein spezieller Navigationslink, der direkt zum zentralen Seiteninhalt führt und damit das Überspringen wiederholter Seitenelemente wie Kopfbereich (Header), Menü oder Werbebanner ermöglicht. Es sollte keine Mausbedienung vorausgesetzt werden. Zudem sollten Sie keine Captchas – also Sicherheitsmechanismen zur Überprüfung, owwb der Benutzer ein Mensch oder ein Computerprogramm (Bot) ist – nutzen, ohne auch eine barrierefreie Alternative anzubieten.
Fazit
Unabhängig vom BFSG sollten bei der Organisation einer HV alle Onlineservices/-portale überprüft werden, die Aktionären zur Verfügung stehen. Checken Sie zusätzlich auch die Software, die vor Ort zur Stimmerfassung mit mobilen Tablets eingesetzt wird. Setzen Sie sich zudem mit Ihrem HV-Dienstleister in Verbindung und besprechen das Thema Barrierefreiheit. Auch wenn es noch unklar ist, inwiefern und ob das BFSG die kommende HV-Saison betrifft, sollten sich die Unternehmen mit der Thematik Barrierefreiheit kritisch auseinandersetzen, damit alle Aktionäre an der Veranstaltung teilnehmen können. In der Vergangenheit wurde dies bei Präsenz-HVs durchaus berücksichtigt, beim virtuellen bzw. hybriden Format aber eher stiefmütterlich behandelt. Dementsprechend ist das neue Gesetz ein guter Anlass, um das Thema noch einmal auf die Karte zu bringen und dafür zu sensibilisieren.
Autor/Autorin
Christian Grötzbach-Conrad
Christian Grötzbach-Conrad verfügt über vier Jahre Erfahrung in der Beratung und Durchführung von Haupt-, Mitglieder- und Generalversammlungen – sowohl virtuell als auch in Präsenz. Er berät Kunden rund um die Organisation und Durchführung von Hauptversammlungen.