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Theoretisch sollte jeder Leser eines Geschäftsberichts die Perspektiven, aber auch die Risiken eines Unternehmens (annähernd) gleich verstehen können. Die Praxis sieht aber anders aus – nicht zuletzt Wirecard lässt hierbei vom Friedhof einst offiziell erfolgreicher Emittenten grüßen. Das GoingPublic Magazin ließ sich von einem Geschäftsberichteentschlüssler ganz genau erläutern, worauf zu achten ist.

GoingPublic: Herr Prof. Dr. Schömig, zum Einstieg: Wo und wie kommen Sie mit Geschäftsberichten in Kontakt?

Prof. Dr. Schömig: Also zunächst einmal würde ich mich als großen Fan von Geschäftsberichten outen. Jede Zahl lässt sich in einen Satz transformieren, aber nicht jeder Satz in eine Zahl. Um das Risiko eines Emittenten zu verstehen, muss man sich das Gesamtwerk anschauen, inkl. Lagebericht, Anhang etc. Ich selbst bin zudem Professor an der FOM, der Fachhochschule für Ökonomie und Management – und unterrichte hier sehr gerne internationale Rechnungslegung oder Corporate Finance.

Dann fahren wir den Schwierigkeitsgrad mal hoch: Was macht denn einen „guten“ Geschäftsbericht Ihrer Meinung nach aus?

Ich möchte das auf folgenden Nenner herunterbrechen, denn alle Anspruchsgruppen sollten doch ein gemeinsames Interesse haben: Das ist die Frage, ob es das Unternehmen morgen noch gibt. Oder von mir aus übermorgen. Die von Ihnen gestellte Frage lässt sich also übersetzen in: Wie ist die Qualität dieses Unternehmens? Ist es in der Lage, notwendige Cashflows zu generieren, sodass wir sicher sein können, dass wir von diesem Unternehmen auch in Zukunft noch Geschäftsberichte lesen werden? Diese Fragen betreffen durch die Bank weg sämtliche Stakeholder.

„Man muss nötigenfalls zwischen den Zahlen lesen und Aussagen des Managements interpretieren.“

Jede Anspruchsgruppe interpretiert aber mit eigener Brille.

Absolut. Es bestehen stets Spielräume in der Interpretation, und daher sind auch Fußnoten wichtig oder der Anhang. Wie viel fließt in Forschung und Entwicklung, wie kapitalisiert sich der Emittent usw.? Da muss man nötigenfalls zwischen den Zahlen lesen und die Aussagen des Managements interpretieren. Sie monieren Transparenz, die Berichte oft nicht liefern.

Woran machen Sie das fest?

Ein Beispiel: Ein Emittent, dessen Name ich nicht nenne, der aber zu den Top 100 in Deutschland zählt, ändert seine Definition der Rendite auf das eingesetzte Kapital. Plötzlich ist diese Kennzahl doppelt so hoch wie in all den Vorjahren. Da schrillen bei mir die Alarmglocken: Die Rendite kann nicht plötzlich beim Doppelten liegen, das ist ein Ding der Unmöglichkeit. In solchen Fällen muss man genauer hinsehen, warum eine Berechnung verändert wird. Häufig passiert dies im Zuge von Akquisitionen, um diese ggf. durch neue Kennzahlen oder neue Berechnungen schöner erscheinen zu lassen. Das bemängele ich häufig.

Wie problematisch ist die aktuelle Berichtssaison, die ja mit coronafreien Jahrgängen vergleicht?

Das ist weniger ein Problem. Die Bilanz, die ja viele Jahre oder gar ein Jahrzehnt ausdrückt, ist für mich viel wichtiger als die aktuelle Gewinn-und-Verlust-Rechnung, die nur ein einzelnes Jahr widerspiegelt. Vom bilanzanalytischen Aspekt haben sich Bilanzen der berichtenden Unternehmen aktuell oftmals gar nicht so gravierend verändert. Man muss natürlich schauen, wie lange diese Sondereffekte gehen und welche Folgen sie dann schlussendlich für Liquidität, Cashflows und eben die Bilanz haben. Und womöglich wird auch versucht, eine weniger glückliche Akquisition in den Sondereffekten zu verstecken. Deswegen: Kritikpunkt Vergleichbarkeit ja – aber nicht nur in dieser Berichtssaison.

Wo liegen denn die aktuellen Baustellen bei Geschäftsberichten?

Wenn Sie so direkt fragen: Es ist der nach wie vor zu starke Fokus auf die aktuellste Gewinn-und-Verlust-Rechnung. Er ist, wie erwähnt, eine reine Kurzfristbetrachtung.

„Wichtige Kennzahlen wie die Rendite auf das eingesetzte Kapital verschwinden auch häufig mal, wenn sie rückläufig sind.“

… Und stattdessen?

Vielmehr das Abstellen auf z.B. Cashflows, aber auch auf Kennzahlen, die nicht notwendigerweise zu den Pflichtangaben zählen, namentlich die zuvor erwähnte Rendite auf das eingesetzte Kapital, den ROIC. Ich möchte auch erwähnen, dass diese so wichtige Kennzahl von einigen Emittenten berichtet wird bzw. wurde – nur um irgendwann wieder zu verschwinden, wenn sie rückläufig ist.

Was halten Sie von meinem wegweisenden Vorschlag des auf die jeweilige Interessengruppe zugeschnittenen personalisierten Geschäftsberichts?

Wenn ich eine Tageszeitung vor mir habe, dann bin ich potenziell in der Lage, mir ein umfassendes Bild von Politik, Wirtschaft, Sport und Regionalem zu machen. Die Frage ist: Nutze ich das auch? Tatsächlich lesen viele zuerst oder nur den Sportteil. Mein Ansatz wäre daher vielmehr, die Leute in die richtige Richtung zu erziehen, zu einem Gesamtbild des Emittenten zu kommen. Und ja: Dazu müssen Sie auch mal die weniger beliebten Rubriken ansehen. Gerade dort sind nämlich häufig Risiken versteckt, die man als Anleger, Mitarbeiter oder Analyst zur Kenntnis nehmen sollte. Es gibt viele Beispiele von Unternehmen, die heute nicht mehr existieren, obwohl sie offiziell immer Gewinne berichtet haben. Mein Wunsch wäre also nicht weniger, als dass die Leute besser ausgebildet wären im Lesen von Geschäftsberichten.

„Die ESG-Taxonomie ist noch nicht so weit, Vergleichbarkeit zu gewährleisten.“

Einige Geschäftsberichte werden anscheinend auf die Erzielung von Awards getrimmt, z.B. zuletzt auf ESG-Themen. Sehen Sie so etwas?

Natürlich sehen wir so etwas. Meine Meinung ist, die Taxonomie ist noch gar nicht so weit, hier Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Und mein zweiter Eindruck ist: Bei Investmententscheidungen spielen ESG-Themen nicht wirklich eine primäre Rolle, höchstens das Gegenteil als Ausschlusskriterium. Mit einer hübschen ESG-Darstellung einen Award zu gewinnen ändert für mich erst einmal gar nichts bei der Beurteilung, wie attraktiv ein Investment ist.

Möchten Sie ESG-Themen lieber integriert berichtet sehen oder losgelöst?

Lieber getrennt, und das ist ja auch, was bisher mehrheitlich stattfindet. Es gibt schließlich auch Unternehmen, die keinen guten ESG-Score haben, aber trotzdem wirtschaftlich sehr gut aufgestellt sind. Wie auch umgekehrt. Zudem erstrecken sich Transformationsprozesse, die angestoßen werden, um die Verbesserung der ESG Scores voranzutreiben, über Zeiträume, die eine Investmentüberlegung deutlich überschreiten.

Wie steht es mit der Darstellung von Geschäftsberichten – rufen Sie sie auf Ihrem Fünf- bis Sechs-Zoll-Display-Smartphone auf, am PC oder doch lieber gedruckt?

In gedruckter Form nutzen wir ihn jedenfalls schon lange nicht mehr, Onlineformate bieten da einfach mehr. Allerdings bedeutet digitale Standardisierung auch, dass Informationen ggf. auf der Strecke bleiben. Wenn man standardisierte Geschäftsberichte wünscht, sagen wir auch um der internationalen Vergleich bar keit halber, dann schließt man auch Kompromisse.

Gutes Stichwort Richtung Ausklang: Was können wir von anderen Ländern oder Jurisdiktionen lernen?

In Europa sind wir schon ganz gut unterwegs mit IFRS. Ich stelle mir aber die Frage, wie es sein kann, dass viele Unternehmen auch wieder komplett vom Kapitalmarkt verschwinden, Beispiel Wirecard. Hier sind die Amerikaner deutlich rigoroser hinterher, Kapitalmarktmanipulation härter zu bestrafen. Meines Erachtens müssten wir nicht mehr Skandale haben als die USA.

„Mir wurde schwindelig, als ich mich mit einigen Geschäftsmodellen chinesischer Emittenten hier in Deutschland näher auseinandergesetzt habe.“

Wo stehen wir denn mit dem Regulierungspendel aktuell?

Offenbar nicht weit genug in Richtung Überregulierung, wenn die BaFin überrascht ist, was mit Wirecard passierte. Ich erinnere auch an die Welle chinesischer Emittenten hier am deutschen Kapitalmarkt vor ca. zehn Jahren. Offiziell lässt sich das gar nicht mehr aufklären, denn die Vorstände verschwanden ja mit schöner Regelmäßigkeit.

Aber Hand aufs Herz: Waren Sie bei Emission der ca. zwei Dutzend chinesischen Emittenten hier im Prime Market schon kritisch oder formierte sich das erst?

Sie und ich, wir versuchen ja beide auf unsere Art, Interessierte zu besseren Anlageentscheidungen zu verhelfen. Mir wurde schwindelig, als ich mich mit einigen Geschäftsmodellen näher auseinandergesetzt habe, namentlich und speziell Asian Bamboo. Ich habe damals ein Buch darüber geschrieben – als es erschien, war Asian Bamboo schon insolvent.

Herr Prof. Dr. Schömig, ganz herzlichen Dank für Ihre tollen Einblicke und die dezidierten Erläuterungen!

Das Interview führte Falko Bozicevic.


 

Prof. Dr. Peter Noel SchömigZUM INTERVIEWPARTNER
Prof. Dr. Peter Noel Schömig (CFA) ist Co-Founder und Managing Partner der LeanVal Invest GmbH. Er ist seit mehr als 20 Jahren für diverse Assetmanagementgesellschaften in führenden Positionen tätig. Als Assetmanager und Buy-Side-Analyst wurde er sowohl im Rahmen der renommierten Thomson Extel Survey als auch vom Magazin Institutional Investor mehrfach als einer der besten Buy-Side-Analysten Europas ausgezeichnet. Prof. Dr. Schömig ist Spezialist für Rechnungslegung und Unternehmensbewertung und unterrichtet an der FOM Hochschule für Ökonomie & Management.