Neue Medien und Gesetzesänderungen haben deutsche Hauptversammlungen in den letzten zehn Jahren geprägt. Im großen Roundtable-Gespräch des HV Magazins blicken der HV-Dienstleister Klaus Schmidt (ADEUS), der IR-Manager Christof Schwab (Siemens) und der Rechtsanwalt Dr. Thomas Zwissler (Zirngibl Langwieser) zurück und werfen einen Blick in die HV-Zukunft.

HV Magazin: Wie haben sich Hauptversammlungen in den letzten zehn Jahren verändert?
Schwab: Generell ist die Hauptversammlung nach wie vor eines der wichtigsten Medien in der Kommunikation mit den Aktionären – insbesondere mit den Privatanlegern. Unsere Hauptversammlung wird nach wie vor von rund 9.000 Teilnehmern besucht. Seit ein paar Jahren können unsere Aktionäre die HV auch im Internet verfolgen. Die elektronischen Neuerungen erstrecken sich über den kompletten HV-Prozess – von der Einladung über die Weisung bis hin zur Mitverfolgung der Redebeiträge.

HV Magazin: Wie wirken sich die neuen elektronischen Möglichkeiten auf die Präsenz vor Ort bei der HV aus?
Schwab: Das Interesse an der Präsenz-HV bewegt sich weiterhin auf einem stabilen Niveau mit leicht abnehmender Tendenz, während im Internet ein starker Zuwachs zu verzeichnen ist.
Zwissler: Präsenzen sind immer abhängig von der wirtschaftlichen Situation des Unternehmens und der Attraktivität der Hauptversammlung als Event. Anzeichen dafür, dass sich dies kurzfristig ändern könnte, sehen wir nicht.

Dr. Thomas Zwissler, Partner, ZIRNGIBL

HV Magazin: Welche Rolle spielen gesamtwirtschaftliche und unternehmensspezifische Entwicklungen für die HV-Präsenz?
Schmidt: Bei wichtigen Tagesordnungspunkten wie Strukturmaßnahmen und Kapitalbeschlüssen wird die Gesellschaft auch im Vorfeld Schritte unternehmen, um die Aktionäre zu informieren und anzusprechen, ihr Stimmrecht auszuüben. Je intensiver dies geschieht, desto deutlicher tragen diese Maßnahmen Früchte, und das wirkt sich wiederum positiv auf die Präsenz aus. Grundsätzlich haben die Investoren ein Interesse daran, bei wichtigen Entscheidungen zur Weiterentwicklung des Unternehmens mitzuwirken.

HV Magazin: Hat das nicht eher Einfluss auf die Kapitalpräsenz und welchen Einfluss hat es genau?
Schmidt: Ja, das hat erheblichen Einfluss auf die Kapitalpräsenz, die im Wesentlichen durch die institutionellen Investoren bestimmt wird. Die persönliche Präsenz ist die zweite Seite der Medaille: Bei DAX-Unternehmen erscheinen meist rund 1–2% der Aktionäre persönlich auf der HV. Der große Rest übt seine Rechte im Vorfeld über Vollmachten und Weisungen oder per Briefwahl aus. Das gilt insbesondere für institutionelle Investoren. In den letzten Jahren ist zu beobachten, dass sich einzelne Investmentgesellschaften verstärkt mit Redebeiträgen auf den HVs engagieren. Für Hauptversammlungen ist das eine echte Bereicherung, wenn institutionelle Investoren dort das Wort ergreifen.
Zwissler: Das ist richtig, zumal deren Beiträge in der Regel durchdacht und gehaltvoll sind. Generell ist es aber nach wie vor so, dass sich institutionelle Investoren stark auf die Empfehlungen von Stimmrechtsberatern („Proxy Advisors“) verlassen und allenfalls noch im Nachgang die HV-Berichte anfordern. Investoren mit wirklich relevanten Beteiligungen nutzen zudem andere, direktere Wege der Kommunikation mit dem Management. Ein gesteigertes Interesse, die HV zu verfolgen oder dort gar präsent zu sein, besteht dann von vornherein nicht.

Christof Schwab, Senior Manager, Investor Relations, Siemens AG

HV Magazin: Was sind denn für Privataktionäre die Hauptgründe, um auf eine HV zu gehen?
Schmidt: Sie sind zumeist an der Entwicklung des Unternehmens interessiert und besuchen die Hauptversammlung, um den Vorstand und den Aufsichtsrat live zu erleben. Sicher gibt es auch diejenigen, die nur auf das Buffet aus sind, das ist aber die Minderheit.
Schwab: Die Hauptversammlung ist ja nicht nur rechtlich ein wichtiges Organ, sondern gleichzeitig gibt das Unternehmen hier auch eine Visitenkarte ab. Sie erlaubt dem Aktionär, sich ein Bild über die Lage des Unternehmens zu machen. Vorstand und Aufsichtsrat stehen dem Aktionär Rede und Antwort. Die HV ist ein Forum, das nach wie vor ein großes Interesse findet und ein integraler Bestandteil der Aktienkultur ist.
Zwissler: Der Marketingaspekt darf nicht unterschätzt werden. Die Hauptversammlung trägt mit dazu bei, die Aktionäre an das Unternehmen zu binden. Über die mediale Berichterstattung erreicht man dann auch jene, die nicht persönlich teilnehmen. Insoweit wäre es vor allem für große Unternehmen gar nicht so wünschenswert, wenn die Präsenz auf einer HV z.B. von 1.000 auf 300 Teilnehmer sinken würde. Das Unternehmen will sich ja gerade als starke und erfolgreiche Organisation präsentieren, was sich letztendlich dann eben auch in der Anzahl der Teilnehmer manifestiert.

HV Magazin: Ist eine gewisse Konstanz in der physischen Präsenz auch ein Ziel der Unternehmen?
Schwab: Das Ziel der Gesellschaft ist, die Aktionäre vollständig und umfassend zu informieren – und das auf allen Kanälen. Die Übertragungsqualität im Internet ist sehr gut. Die physischen Versammlungen üben ähnlich wie ein Live-Konzert immer einen besonderen Reiz aus. Auf beiden Kanälen sind die Informationen gleichermaßen verfügbar.
Schmidt: Aus diesem Grund sind Präsenz-Hauptversammlungen trotz elektronischer Medien nach wie vor bei vielen Aktionären beliebt. Generell beobachten wir in den letzten zehn Jahren gerade bei sehr großen Unternehmen aber eine eher rückläufige Tendenz, insbesondere wenn die Aktionäre eine längere Anfahrt haben. Aus Verbundenheit zum Unternehmen erscheinen zahlreiche Teilnehmer aus der Region.

Klaus Schmidt, Geschäftsführer, ADEUS Aktienregister-Service-GmbH

HV Magazin: Was bedeutet die Weiterentwicklung im Bereich elektronischer Medien für den gesamten Ablauf vor und während der HV?
Schwab:
Das Interesse am elektronischen HV-Versand ist über alle Altersgruppen hinweg zu beobachten. Wir begrüßen diese Entwicklung sehr, weil es eine sehr umweltfreundliche, zeiteffiziente und ressourcenschonende Alternative ist. Inzwischen liegt der Anteil des elektronischen Versands bei Siemens bei 20% der Aktionäre. Aus den vielen positiven Rückmeldungen schließen wir, dass dieser Trend anhalten wird.
Schmidt: Aktionäre, die eine elektronische Einladung erhalten, nehmen ihr Stimmrecht viel häufiger in Anspruch. Die Quoten sind deutlich besser als bei papiergebundenen Einladungen, weil der Prozess schneller, zeitgemäß und unkomplizierter ist: Mit seiner elektronischen Einladung bekommt der Aktionär einen personalisierten Link, um abzustimmen.

HV Magazin: Eignet sich der elektronische Einladungsversand nur bei Namensaktien?
Schmidt: Er ist bei Namensaktien besonders einfach, da durch das Aktienregister bereits der Kontakt zwischen Emittent und Aktionär besteht. Bei Inhaberaktien ist es möglich, eine elektronische Einladung über die Depotbank zu verschicken. Eine direkte elektronische Rückmeldung des Aktionärs bis hin zur Stimmrechtsabgabe an das Unternehmen gestaltet sich jedoch schwierig.

HV Magazin: Hat sich die HV neben der elektronischen Entwicklung auch auf anderen Feldern professionalisiert?
Zwissler: Der zunehmende Einsatz technischer Hilfsmittel ist sicher eine der wesentlichen Entwicklungen. Vor allem der Einsatz internetbasierter Lösungen wird heute nicht mehr als großes Risiko empfunden und ist aufgrund der Kostenentwicklung auch einer breiteren Basis zugänglich. Unverändert hoch ist der Aufwand, der in die Vorbereitung und Durchführung der Hauptversammlung fließt. Die Ansprüche an eine perfekte Organisation sind eher gestiegen. Viele Gesellschaften versuchen, ohne jede Rücksicht auf den damit verbundenen Aufwand auf jede auch noch so entfernte Frage und HV-Situation vorbereitet zu sein, was dann aber doch nicht funktioniert. Letztendlich muss eben jede Gesellschaft für sich selbst das richtige Maß zwischen perfekter Vorbereitung und professioneller Gelassenheit finden.
Schmidt: Von Seiten des Gesetzgebers wurden in dieser Zeit zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um das Aktienrecht zu modernisieren und auch die Rechteausübung an die heutigen technischen Rahmenbedingungen anzupassen. Von der HV-Einladung bis zur Stimmrechtsausübung wurden die Möglichkeiten des Internets in den verschiedensten Facetten integriert. Die Gesellschaften haben schnell reagiert und entsprechende Tools eingeführt. Eine deutliche Professionalisierung gibt es auch bei der Organisation des Fragen-Antwort-Prozesses. Wenn vor zehn Jahren häufig noch Fragen ohne Backoffice beantwortet wurden, ist dies heute kaum noch üblich. Gerade bei wichtigen Beschlussvorlagen und potenziellen Anfechtungsklagen ist das inzwischen Standard.

Sicherheit durch Erfahrung: Die Einbeziehung des Internets bei HVs stellt heute kaum noch ein juristisches Risiko dar. Foto: Panthermedia/krimar

HV Magazin: Haben das ARUG und eine veränderte Einstellung der kritischen Aktionäre nicht dazu geführt, dass das Damoklesschwert der Anfechtungsklage nicht mehr so sehr über den Gesellschaften schwebt?
Zwissler: Schaut man auch hier auf die letzten zehn Jahre, dann haben sich die Kräfteverhältnisse klar geändert: Bei den Gerichten hat vielfach ein Umdenken stattgefunden, nicht nur als Reaktion auf gesetzliche Neuerungen, sondern vor allem aufgrund der einschlägigen Studien des GoingPublic Magazins oder von Prof. Theodor Baums, in denen die Strukturen und Verbindungen der Berufskläger untereinander offengelegt wurden. Dies hat den Missbrauch des Instruments der Anfechtungsklage auch für die Gerichte anschaulich und nachvollziehbar gemacht.

HV Magazin: Welche gesetzlichen und regulatorischen Änderungen hatten außerdem Einfluss auf den Ablauf der Hauptversammlung?
Schwab: Es hat in den letzten zehn Jahren große Anforderungen an das Berichtswesen gegeben. Die Geschäftsberichte bei Siemens, die ja auch als Grundlage für die Hauptversammlung dienen, waren vor zehn Jahren noch ca. 80 Seiten lang. Heute sind es wesentlich umfänglichere Werke, in denen die Lage des Unternehmens dargelegt wird. Im Zuge dessen sind die Inhalte einer HV vielschichtiger geworden. Das erfordert einen gezielten Dialog mit den Aktionären im Vorfeld der HV. Dass viele Aktionärstreffen in der Saison 2012 zeitgerecht beendet worden sind, zeugt von der hohen Qualität des Dialogs und der vorliegenden Informationen. Die Unternehmen sind auf einem guten Weg, die Hauptversammlungen wieder in einen vernünftigen zeitlichen Rahmen zu bringen.
Schmidt: Die gesetzlichen Maßnahmen und Empfehlungen des Deutschen Corporate Governance Kodex greifen. Eine Versammlungslänge zwischen vier und sechs Stunden wird mittlerweile als üblich angesehen. Aktionäre und Verwaltung streben gleichermaßen an, in einem zeitlich sinnvollen Ablauf die Versammlung abzuhalten und keine ausufernden Beiträge zuzulassen. Selbst wenn es keine formale Redezeitbeschränkung gibt, beschränken sich die teilnehmenden Aktionäre bei ihren Wortmeldungen in der Regel auf fünf bis zehn Minuten. Das ist eine sehr positive Entwicklung.

Verbesserter Zugang: Mit den neueren technischen Entwicklungen stehen Onlineteilnehmern von HVs die meisten Unterlagen in Echtzeit zur Verfügung. Foto: Panthermedia/Radu Razvan

HV Magazin: Wie sieht die HV der Zukunft aus – online und Präsenzveranstaltung?
Schwab: Ich würde mich freuen, wenn die Zunahme der Privataktionäre, die wir seit drei Jahren beobachten, anhält. Dafür spricht, dass Aktien heutzutage eine wesentlich bessere Dividendenrendite bieten als Rentenpapiere. Die Anlagealternativen sind nicht sehr vielfältig. Mit dem Zuwachs an Privataktionären wird die Präsenz-HV weiter ihre Berechtigung haben.
Schmidt: Es ist sicher ein wichtiger Punkt, diesen Aktionärskreis in der Kommunikation stärker zu berücksichtigen. Dafür sind gerade die elektronischen Medien prädestiniert – sowohl bei der Informationsverteilung als auch bei der Ausübung von Aktionärsrechten. Der technische Fortschritt wird sich im HV-Umfeld auch in den nächsten Jahren weiter auswirken. Die letzten zehn Jahre waren durch eine Modernisierung des Aktienrechts geprägt, die für die Nutzung der elektronischen Medien den Durchbruch brachten. In den nächsten Jahren geht es eher darum, deren Nutzung weiter zu verfeinern und dabei weitere Aktionärskreise mit einzubeziehen.
Zwissler: Das ist zutreffend. Es geht aber nicht nur um Aktionärsgruppen, sondern auch um Nutzerverhalten. Die „Generation Internet“ wächst jetzt langsam in die Anlegergruppe mit Aktieninvestments hinein und hat ganz andere Maßstäbe und Erwartungen als die Gruppe der „Digital Immigrants“. Mit dieser Entwicklung werden sich die Unternehmen in den nächsten Jahren auseinandersetzen müssen.
Schmidt: Eine weitere Fortentwicklung erwarte ich bei der Erleichterung der Stimmrechtsausübung über Ländergrenzen hinweg. Hier gibt es auf europäischer Ebene weitere Herausforderungen. Im europäischen Binnenmarkt sind noch erhebliche Anstrengungen zur Harmonisierung zu unternehmen damit alle Aktionäre ihre Rechte in gleicher Weise ausüben können. Auch im Hinblick auf die Kenntnis internationaler Investoren sehe ich noch einigen Handlungsbedarf, um die traditionellen nationalen Systeme zu harmonisieren.

HV Magazin: Vielen Dank für das äußerst informative Gespräch!

Das Gespräch moderierten Daniela Gebauer und Oliver Bönig.

Dieser Artikel ist erschienen im HV Magazin 3/2012.

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