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Wer dieser Tage einen ungefilterten Blick auf die Arbeitsbedingungen in deutschen Krankenhäusern erhalten möchte, muss nur auf Twitter durch die Hashtags #Medizinbrennt oder #Pflegenotstand scrollen. Allgemeiner Konsens ist, dass die dramatischen Missstände bereits seit Langem schwelten, die Coronapandemie aber wie ein Brandbeschleuniger wirkte und nun das ausgepowerte Personal reihenweise das Handtuch wirft. Angesichts all der COVID-19-Schicksale ist die andere Seite der Medaille – die „gute Seite“ der Pandemie – etwas schwerer zu beschreiben. Haben wir in mehr als zwei Jahren Pandemie etwas dazugelernt? Welche Konsequenzen ziehen wir, um die vorherrschende Situation zu verbessern? Von Eva Bauer und Tamara Breitinger

 

Zehn Erkenntnisse aus der andauernden Pandemie stellt die International Federation of Pharmaceutical Manufacturers & Associations (IFPMA) in einem über 60 Seiten starken Schriftsatz[1] vor. Beispielsweise sind einige der wirksamsten Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung aus innovativen Partnerschaften innerhalb des Sektors erwachsen. Aus den mehr als 330 Kollaborationen sticht sicherlich die Zusammenarbeit zwischen dem Innovator BioNTech und dem Pharmariesen Pfizer heraus. Doch auch die stetige Ausweitung des mRNA-Produktionsnetzes innerhalb Europas mit z.B. der PlasmidFactory, Rentschler Biopharma oder Dermapharm fällt hierunter.

Eva Bauer, MC Services AG

Die IFPMA konstatiert, dass Pandemieimpfstoffe und -therapeutika nicht zuletzt dank der außergewöhnlichen Zusammenarbeit zwischen Industrie und Behörden entwickelt werden konnten. Auch auf EU-Ebene kam ein regulatorischer Stein ins Rollen: Die im September 2021, nach US-amerikanischem Vorbild der BARDA, gegründete Behörde für Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA) hat die Aufgabe, „Notfälle im Gesundheitsbereich zu verhindern, zu ermitteln und rasch auf sie zu reagieren“. Sie präsentierte kürzlich die drei „wichtigsten Gesundheitsrisiken, auf die man sich vorbereiten sollte“.[2]

Die größten Gesundheitsrisiken …

Auf Platz eins stehen Pathogene mit hohem pandemischem Potenzial. Die HERA hebt die RNA-Viren hervor, welche die Atemwege befallen. Neben SARS-CoV-2 gehören hierzu auch Influenza oder das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV). Auch der Klimawandel wird dazu beitragen, dass vormals exotische Virusinfektionen wie Dengue oder Hanta verstärkt in unseren Breitengraden auftreten.[3] Biotechs wie Atriva Therapeutics oder Marinomed setzen mit ihren Entwicklungen genau dieser Gruppe von RNA-Viren etwas entgegen: Während Marinomed ein Nasenspray zur physiologischen Virenabwehr erfolgreich auf den Markt gebracht hat, arbeitet Atriva an einem wirtsbasierten antiviralen Breitbandmedikament.

Tamara Breitinger, MC Services AG.

Neben Gesundheitsrisiko Nummer zwei – chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Bedrohungen – identifizierte die HERA auch Bedrohungen durch antimikrobielle Resistenzen (AMR) als eines der drei größten Risiken für die menschliche Gesundheit, denn AMR zeichnen für weltweit über 1,2 Millionen Todesfälle pro Jahr verantwortlich. Diesem Feld widmet sich die AMR Industry Alliance, ein Zusammenschluss aus über 100 Unternehmen und Verbänden. Europäische Mitglieder sind Größen wie Merck oder Roche, aber auch fokussierte Spezialisten wie AiCuris oder Destiny Pharma. Sie entwickeln neuartige Wirkmechanismen und Lösungsansätze, die anders als klassische Antibiotika gar nicht erst zur Resistenzbildung führen.

… erfordern vielerlei Strategien

Trotz dieser Errungenschaften sieht die IFPMA noch Handlungsbedarf: In einer Erklärung[4] fordert sie dazu auf, weltweit „die Pandemiebereitschaft in die Gesundheitssysteme [zu] integrieren“, und schlägt vor, eine „kollaborative Lösung für eine gerechte Einführung von Impfstoffen, Behandlungen und Diagnostika für zukünftige Pandemien zu schaffen“. Nachdem auch international der Fokus lange überwiegend auf Impfstoffe gerichtet war, hat sich auch bei diesem Gremium die Erkenntnis durchgesetzt, dass effiziente Pandemievorsorge auf mehreren Säulen aufbauen muss.

In Deutschland hat BEAT-COV, ein Zusammenschluss von mittelständischen Biotechunternehmen mit Medikamentenkandidaten in fortgeschrittener Entwicklung, maßgeblich mitgewirkt, dass staatliche Institutionen Fördermittel für die klinische Erprobung von COVID-19-Therapeutika bereitstellten. Davon profitierten u.a. die Firmen Adrenomed, Apogenix, Atriva Therapeutics, CORAT Therapeutics und InflaRx. InflaRx’ klinisch relevanten Phase-III-Daten wurden zwischenzeitlich von Lancet Respiratory Medicine publiziert. Mittlerweile stehen zwar einige zugelassene Therapieoptionen zur Behandlung von COVID-19 zur Verfügung, weltweit werden jedoch noch mehr als 600 Medikamente klinisch erprobt.[5] Diese Bandbreite ist gut und wichtig, damit Ärzte unterschiedlichen viralen Vermehrungsstrategien und Resistenzbildung etwas entgegensetzen sowie verschiedene Krankheitsstadien und Schweregrade adressieren können.

Potenziale nutzen

Der Kampf gegen COVID-19 hat ungeahnte Kräfte mobilisiert. Doch Pandemic Preparedness beschränkt sich nicht nur auf diese Pandemie – davor warnen HERA, IFPMA und der ExpertInnenrat der Bundesregierung zu COVID-19. Letzterer mahnt, dass neben unvorhersagbaren Virusvarianten von SARS-CoV-2 auch „andere Atemwegserkrankungen in diesem Jahr in größerem Umfang zurückkehren werden und eine zusätzliche Belastung bedeuten“.[6]

Es besteht dringender Handlungsbedarf; es gibt jedoch auch viel Potenzial. Die gesamte Gesellschaft, bestimmte vulnerable Gruppen, aber auch die Wirtschaft könnten von einer geregelten und gut aufgegleisten Pandemievorsorge profitieren – der Standort Deutschland gleich in doppelter Weise: Durch Förderung einheimischer Hochtechnologie werden nicht nur Arbeitsplätze und IP geschaffen, sondern sie trägt auch wesentlich zur notwendigen Resilienz gegenüber globalen Lieferketten bei und fördert die lokale Wertschöpfung.

Trotz zunehmender medialer Aufmerksamkeit ist das Thema Pandemievorsorge kaum positiv besetzt und in der Bundespolitik weiterhin unterrepräsentiert. Dabei würden sich die zuvor genannten Anknüpfungspunkte anbieten, um sich öffentlichkeitswirksam die Förderung von Public Health und des Standorts Deutschland gleichermaßen auf die Fahnen zu schreiben. Die Bundesregierung hat zwar bereits einzelne Ansätze auf die Straße gebracht, wie die Pandemievorsorgeverträge, etwa mit IDT Biologika. Eine nachhaltige Strategie und staatlich verankerte Förderung, die die Bereitschaft sichtbar werden lässt, Lehren aus der Coronazeit zu ziehen und künftigen Pandemien etwas entgegenzusetzen, fehlt jedoch noch immer. Der Transfer von der – in Deutschland beispielhaften – universitären Grundlagenforschung hin zur marktnahen Entwicklung weist große Lücken auf. Im täglichen Ringen um Maskenpflicht und Zuständigkeiten scheint der Blick für das große Ganze verloren zu gehen – einerseits für die andauernde Bedrohung, andererseits für die ungenutzten Möglichkeiten.

In Australien engagiert sich nun ein privater Investor: Der Philanthrop hat das Potenzial erkannt und treibt mit umgerechnet 171 Mio. EUR die Gründung eines globalen Zentrums zur Entwicklung von Pandemietherapeutika voran.[7] Wer dagegen in Deutschland und Europa den Takt vorgibt, bleibt abzuwarten: Finden sich aus der Wirtschaft Kooperationspartner zusammen, die antivirale Medikamente zur Marktreife bringen? Warten wir auf einen deutschen Pandemieplan, oder soll es die HERA richten? Wollen wir bei all dem Potenzial die Medizin weiter brennen lassen?

 

ZU DEN AUTORINNEN

Wenn Eva Bauer und Tamara Breitinger, MC Services AG, nicht gerade Artikel schreiben, helfen sie ihren Kunden aus Biotechnologie und Medtech dabei, ihre Wissenschaft und Produkte in der Öffentlichkeit zu positionieren.

[1] IFPMA (2022): Applying Lessons Learned from COVID-19 to Create a Healthier, Safer, More Equitable World.

[2] European Commission (2022): Health Union: HERA delivers list of top-3 health threats to prepare against.

[3] Camilo Mora et al. (2022): Over half of known human pathogenic diseases can be aggravated by climate change. In: Nature Climate Change.

[4] IFPMA (2022): BERLIN DECLARATION – Biopharmaceutical Industry Vision for Equitable Access in Pandemics.

[5] Lancet Respir Med 2022. https://doi.org/10.1016/S2213-2600(22)00297-1.

[6] www.vfa.de/corona-therapie

[7] Corona-ExpertInnenrat der Bundesregierung (2022): 11. Stellungnahme.