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Im Jahr 2021 wurden Rekordsummen in die Unternehmen der Healthcare-Branche investiert. Ein Ausnahmejahr oder nur ein vorläufiger Höhepunkt eines andauernden Trends? Die Analysten der Silicon Valley Bank beobachten die Branche genau und veröffentlichten kürzlich einen neuen „Healthcare Investments and Exits“-Report, der die Entwicklungen des ersten Halbjahres 2022 mit denen der letzten Jahre vergleicht. Die wichtigsten Erkenntnisse im Überblick. Von Sophie Ehrlich

 

Auch in diesem Jahr bleiben die Unternehmen der Healthcare-Branche für Investor:innen höchst attraktiv. Obwohl einige Börsengänge zuletzt weniger erfolgreich verliefen und damit die Angst vor künftig niedrigeren Unternehmensbewertungen einhergeht, lassen sich Kapitalgeber:innen nicht abschrecken: Denn schon jetzt gehört 2022 zu den investitionsintensivsten Jahren überhaupt. Nach Analysen der Silicon Valley Bank brachten Fonds rund 15,8 Mrd. USD für Investitionen im Gesundheitswesen auf. Diese Summe entspricht rund 55 Prozent des Niveaus von 2021 (28,3 Mrd. USD). Es steht also reichlich Kapital für Investitionen im Gesundheitswesen zur Verfügung. Diese Zahl repräsentiert sowohl die von Gesundheitsfonds als auch die von allgemeinen Fonds für Investitionen in das Gesundheitswesen aufgebrachten Mittel und gilt als wichtiger Indikator für die Branche.

Starker Start (mit Rückgang)

Insgesamt beliefen sich die Investitionen in Healthcare-Unternehmen aus Europa und den USA im ersten Halbjahr 2022 auf mehr als 38 Mrd. USD. Absolutes Highlight: Das Biotech-Start-up Alto Labs, welches sich der Zellforschung widmet, konnte 3 Mrd. USD einwerben. Zwar bleibt die Gesamtsumme des ersten Halbjahres hinter der des Rekordjahres 2021 zurück, liegt aber deutlich über der des Jahres 2020. Interessant sind die signifikanten Unterschiede zwischen den beiden ersten Quartalen 2022: Während Q1 beinahe an die Rekordzahlen des Vorjahres anschließt, gingen die Investitionen in Q2 um 36 Prozent zurück.

Sophie Ehrlich, Silicon Valley Bank.

Das frische Kapital kam vor allem aus großen Hedgefonds (aktiv verwalteten Investmentfonds, die speziell für Branchen mit höherem Risiko aufgelegt werden) und von privaten Geldgebern (Private Equity), die ihr Kapital in privaten Healthcare-Fonds bündelten. Viele traditionelle Tech-Investoren legten außerdem neue Fonds auf.

Hohe Investitionen in allen Sektoren

Im Report werden vier Teilgebiete der Healthcare-Branche unterschieden: Biopharma, Healthtech, Diagnostic/Tools sowie Geräte (Devices). In allen vier Sektoren investierten Kapitalgeber vor allem in Unternehmen, die sich noch in den sogenannten Frühphasen (Seed und Series A), also entweder kurz vor oder kurz nach dem Markteintritt, befanden.

Biopharma

Mit knapp 4 Mrd. USD erreichten die Biopharma-Investitionen ein hohes Niveau, darunter viele große Series-A-Deals, mit einer Investitionssumme von mehr als 50 Mio. USD. Damit, so die Analysten, seien diese Start-ups auch für schwierigere Phase gut gewappnet. Der Anteil europäischer Deals lag unter 14 Prozent, ein Rückgang im Vergleich zu den Vorjahren. Hauptinvestitionsgebiete waren erneut die Plattform-Technologien und die Onkologie. Den deutlichsten Rückgang an Investitionen musste die Neurologie hinnehmen.

HealthTech

Noch nie wurde so viel Kapital in Early-Stage-HealthTech-Start-ups investiert: Rund 2,4 Mrd. USD verteilten sich auf 274 Frühphasen-Deals (Seed/Series A). Erneut kam es zu mehreren Megadeals, bei denen Kapitalgeber 100 Mio. USD und mehr investierten. Am meisten Geld floss in Unternehmen, die sich mit klinischen Studien (Clinical Trial Enablement) beschäftigen, Service Provider sind oder alternative Pflege anbieten.

Diagnostic/Tools und Geräte

Beide Sektoren verzeichneten ebenfalls annähernd so hohe Investitionen wie im Jahr zuvor. Dabei fällt auf, dass Investoren nicht nur auf Unternehmen in der Frühphase setzten, sondern auch etablierte Firmen unterstützen. Besonders profitierten Forschungs- und Entwicklungsvorhaben sowie Firmen, die sich mit nicht-invasivem Monitoring und Medikamenten-Auslieferung beschäftigen. Die Teilbranche Geräte war dabei die einzige, die eine Zunahme der Seed/Series A-Investitionen im Q2/22 gegenüber Q1/22 verzeichnen konnte.

Computergestützte Biologie immer interessanter für Investoren

Immer mehr Unternehmen der Branche ergänzen ihre Forschungsarbeit durch computergestützte Datenanalysen, mathematische Modellierungen und Simulationen. Vor allem Investoren, die sich auf die Frühphasen konzentrieren, sehen große Chancen für die computergestützte Biologie: Bemerkenswerte 43 Prozent aller Deals im Biopharma- und F&E-Bereich gingen im vierten Quartal 2021 an sogenannte Comp-Bio-Unternehmen. Zwar sank dieser Anteil im ersten Halbjahr 2022 deutlich, aber die Investitionssumme blieb mit fast 980 Mrd. USD hoch.

Zugleich wurden Rekordbewertungen erreicht: Bei der Mehrzahl der Deals ging es um mehr als 25 Mrd. USD, vor allem im Bereich der Plattform-Technologien. Noch konzentrierten sich die Investoren laut Report vor allem auf Unternehmen, die Medikamente für mehrere Indikationen entwickelten. Besonders zwei Projekte stachen heraus: Die Genom-Analysten von Retro Biosciences erhielten 180 Mio. USD Kapital. Seismic Therapeutic’s, eine Biotech-Firma, die Machine Learning für die Entwicklung immunologischer Medikamente optimiert, konnte 101 Mio. US-Dollar verbuchen.

Ausblick

Laut der Silicon Valley Bank stehen die Zeichen eher auf einer Abschwächung des Marktes. Vor allem im zweiten Quartal dieses Jahres war dieser Trend bereits deutlich, die sinkende Anzahl an Börsengängen untermauert dies. Dennoch sollten diese Entwicklungen im Kontext der vergangenen Jahre betrachtet und der Vergleich mit dem Rekordjahr 2021 relativiert werden. Das Jahr 2022 – so viel scheint bereits festzustehen – wird für die Healthcare-Branche das zweitbeste aller Zeiten.

 

ZUR AUTORIN

Sophie Ehrlich, ist Director of HealthTech bei der Silicon Valley Bank UK in London und konzentriert sich auf die Unterstützung innovativer digitaler Gesundheits- und Medizintechnikunternehmen in der EMEA-Region. Sie beschäftigt sich seit 18 Jahren mit den Innovationen in der Gesundheitsbranche, zunächst bei Medizintechnik- und Digital-Health-Start-ups, später im Foreign & Commonwealth Office, wo sie die Handelsdiplomatie zwischen dem Vereinigten Königreich und Israel im Bereich Gesundheitstechnologie leitete. Danach zeichnete sie verantwortlich für die digitale Gesundheitsstrategie bei Samsung Health. Sie ist Mentorin und Jurorin für Tech Tour, MassChallenge und EIT Health sowie Expertin für digitale Gesundheit bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Autor/Autorin

Sophie Ehrlich