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Das HV Magazin im Gespräch mit dem neuen Deutschland-Chef von Link Market Services, Torsten Fues, und Europa-Chef von Link Corporate Markets Ian Stokes über das neue Setting bei Link Market Services nach der Integration des Wettbewerbers Better Orange und die Entwicklungen und Innovationen im HV-Markt in Deutschland und Europa.

HV Magazin: Herr Fues, Herr Stokes, es war ein Paukenschlag inmitten der HV-Saison, als Link Market Anfang Mai ankündigte, den Konkurrenten Better Orange zu übernehmen. War das ein Schnellschuss oder wie kam es dazu?

Ian Stokes. Foto: GoingPublic Media
Ian Stokes. Foto: GoingPublic Media

Ian Stokes: Nach dem allerersten Gespräch Anfang Februar und einem Management-Meeting danach haben wir sofort die große Chance erkannt, die das für uns bei Link bedeutete, mit Better Orange zusammenzugehen, in Bezug auf Führung, Technologie und Mitarbeiter das Unternehmen zu integrieren. Die Gespräche waren von Anfang an sehr vertrauensvoll, auch Link-CEO Vivek Bhatia stattete uns früh einen Besuch in München ab, um das Team kennenzulernen. Klar, die Due Diligence dauert dann in so einem Akquisitionsprozess immer länger, als man sich das wünscht. Aber vom ersten Treffen und dem Händedruck hatte ich immer das Gefühl, dass wir den Deal zu Ende bringen würden. Also eine planmäßige Umsetzung, kein Schnellschuss.

Jetzt ist ein halbes Jahr ins Land gegangen, und nach dem Ende der HV-Saison gab es Gelegenheit, an den Strukturen zu arbeiten. Wie sieht nun das Ergebnis aus? In welcher Form sind Link Market Services Deutschland und Better Orange IR & HV AG zusammengewachsen, wie sehen die Verantwortlichkeiten aus und wer führt das Gesamtunternehmen?

Stokes: Der Deal war im Mai „done“ und wurde dann ja auch bekanntgemacht. Wir hatten beschlossen, mit der operativen Integration zu warten bis zum Ende der HV-Saison. Sicher ein ungewöhnliches Vorgehen, aber zielführend. Beide Teams, Link und Better Orange, konnten sich so voll auf die HV-Saison und ihre Kunden konzentrieren. Erst im August haben wir damit begonnen, mit den Teams zu sprechen, wie wir sie in einer gemeinsamen Führungsstruktur zusammenbringen.

Simone Boehringer (Mitte) im Gespräch mit Torsten Fues (links) und Ian Stokes (rechts). Foto: GoingPublic Media
Simone Boehringer (Mitte) im Gespräch mit Torsten Fues (links) und Ian Stokes (rechts). Foto: GoingPublic Media

Und das Ergebnis?

Stokes: Das Ergebnis ist, dass ich Ende des Sommers Torsten zum Managing Director und Leiter des Hauptversammlungsgeschäfts in Deutschland ernannt habe. Wir haben zudem ein Integrationsprojekt innerhalb von Link gestartet, um sicherzustellen, dass wir die beiden Unternehmen so schnell wie möglich und in Abstimmung mit den Kolleginnen und Kollegen zusammenbringen.

Wie klappt dieser doch längere Integrationsprozess in der Praxis, Herr Fues? Haben Sie bisher Mitarbeiter verloren?

Torsten Fues. Foto: GoingPublic Media
Torsten Fues. Foto: GoingPublic Media

Torsten Fues: Bisher kommen wir für die kurze Zeit gut voran, und keine einzige Beraterin, kein einziger Berater hat im Zuge dessen das Unternehmen verlassen. Wir sind jetzt mit beiden Teams knapp 50 Leute in der gemeinsamen Firma. Und es gilt weiterhin: Wir expandieren, wollen mehr Berater einstellen, haben bereits Zuwachs und suchen weitere Junior- wie Senior-Berater.

Wie eng ist die Zusammenarbeit zwischen Ihnen, Herr Stokes, in London und Link Market Services in Deutschland?

Stokes: Torsten führt das Team in Deutschland, er trägt die Verantwortung für das Geschäft hier und leitet auch den Integrationsprozess. Wir stimmen uns gut und regelmäßig ab, formal berichtet Torsten an mich.

Nun bringt ja Better Orange noch das IR-Geschäft neu mit ein. Wie bedeutend ist dieser Zweig? Wird es eine neue Schwerpunktsetzung geben unter dem Dach von Link?

Fues: Unser gesamtes Geschäft ist sehr beratungsbezogen. Wir sind jetzt auch mit unseren Investor-Relations-Spezialisten Teil eines kapitalkräftigen Unternehmens, welches weltweit zu den größten Anbietern für Dienstleistungen wie Aktionärsanalyse, Registeranalyse, Targeting und Servicing gehört. D. F. King, die auch zu Link gehört, ist eines der ältesten Proxy-Solicitor-Unternehmen auf dem Markt und hilft bei der Mehrheitsbeschaffung. Und Orient Capital ist einer der größten Player auf dem IR-Markt. Diese etablierten Marken und die Finanzkraft eines börsennotierten internationalen Konzerns werden uns sehr dabei helfen, unsere Geschäftsbereiche auch in Deutschland entsprechend auszubauen.

Stokes: Zur Einordnung: Europaweit haben wir bereits 800 Investor-Relations-Kunden. Global betrachtet ist der Bereich IR eines der vier zentralen Marktangebote der Link Group. Im Verhandlungsprozess waren wir daher auch sehr stark an den Better-Orange-Aktivitäten in diesem Bereich interessiert.

Fues: Das IR-Team von Better Orange war bisher nicht groß, 6-7 Leute, aber spezialisiert, u.a. auf die Kommunikationsberatung bei Anleiheplatzierungen sowie im Fall des Falles bei deren Umstrukturierung. Link hatte auf diesem Gebiet im deutschen Markt bisher keine Aktivitäten. Insofern ergänzen wir uns hier gut.

Stokes: Ich bin ganz ehrlich, es geht bei dieser Akquisition auch darum, den enormen Druck zu reduzieren, der aufgrund des Fachkräftemangels in den vergangenen Jahren auf den einzelnen HV-Beratern lastete. Gerade die letzte HV-Saison war wieder extrem intensiv. Die Berater von Link und Better Orange zusammengenommen werden in Deutschland für und mit Kunden am Ende dieses Jahres etwa 260 Versammlungen durchgeführt haben. Das ist einfach sehr viel. Deshalb ist es notwendig, im nächsten Jahr zu konsolidieren und zu integrieren, um so eine gute Grundlage zu haben für die weitere Expansion.

Sie hatten bei Link in Deutschland einige Berater an die Konkurrenz verloren 2022. Wie viele HVs haben ihre Senior Berater pro Person dann letztlich stemmen müssen, und wie viele kann oder sollte ein HV-Spezialist bei Link im Jahr schaffen?

Fues: Teilweise haben routinierte Berater mehr als 20 HVs stemmen müssen, weil nicht genügend Kollegen verfügbar waren …

Stokes: …und das ist eben viel zu viel! Deshalb stellen wir massiv ein!

Fues: Maximal 15 bis 20 HVs – je nach Komplexität und Größe der HVs –  von einem erfahrenen Berater oder einer erfahrenen Beraterin federführend betreuen zu lassen, wäre die Zielgröße, die wir erreichen wollen.

Die Konkurrenz stellt auch ein.

Stokes: Das ist so, wir sind nicht alleine im Geschäft. Es herrscht Wettbewerb, auch und gerade um gute Leute.

Fues: Wir haben Kunden in allen Märkten, vom DAX über die anderen Börsensegmente bis hin zu GmbHs oder auch Genossenschaften und Vereinen. Für Schalke 04 etwa übernehmen wir den Registrierungsprozess bei der Mitgliederversammlung. Bei GmbHs sind es meist Versammlungen der Anleiheeigner bei Restrukturierungen und Sanierung. Aber Vereine und GmbHs machen nur einen kleinen Teil des Versammlungsgeschäfts aus. Kerngeschäft sind Hauptversammlungen börsennotierter Aktiengesellschaften oder SEs. Alles Versammlungen, die rechtlich fordernd sind und angefochten werden können. Daher ist eine professionelle Begleitung hier sinnvoll und fast immer vom Emittenten gewünscht.

So viel zum Thema Link und Better Orange als Unternehmen. Ich würde an der Stelle gerne überschwenken zum HV-Geschäft in Deutschland. Wie haben Sie 2023, diese erste HV-Saison unter der neuen Gesetzgebung – mit erstmals gleichberechtigtem Nebeneinander von Präsenz-HV und virtuellem Aktionärstreffen – erlebt? Was lief gut, wo gibt es (dringenden) Verbesserungsbedarf?

Fues: Die im Sommer 2022 eingeführte Dauergesetzgebung zur virtuellen HV, quasi Version 2.0, stellte alle HV-Dienstleister vor besondere Herausforderungen in Bezug auf Flexibilität und Implementierungsgeschwindigkeit. Dabei war die virtuelle Pandemie-Notgesetzgebungs-HV im Vergleich zu der dauergesetzlichen Regelung eher schlicht, die Fragen lagen einige Tage vor der Versammlung vor, und freiwillig wurden Nachfragen in aller Regel nicht zugelassen. Die Antworten auf die Fragen wurden in der HV verlesen, fertig. Die neuen – wesentlich komplexeren Regelungen zur virtuellen HV 2.0 mit nun umfassenden Frage- und Antragsrechten der Aktionäre analog der Präsenz-HV wurden in kürzester Zeit in technologische Lösungen umgesetzt. Dabei wurden von den verschiedenen Anbietern durchaus unterschiedliche Lösungswege für den in der Praxis entscheidenden Punkt, nämlich den virtuellen Wortmeldetisch, angeboten. Better Orange hat im Herbst 2022 – soweit uns bekannt – die erste Hauptversammlung nach diesen neuen Regelungen in Deutschland erfolgreich begleitet. In der Folge bildete sich im Laufe des Jahres 2023 allmählich eine neue Best Practice heraus, z.B. der Aufruf von Gruppen von Aktionären, die sich zu Wort gemeldet haben, mit einer mehrminütigen Unterbrechung der Hauptversammlung, um den Übergang der Aktionäre vom Streaming in die Live-Kommunikation ohne jeden Verlust von Informationen aus der HV zu ermöglichen und damit Anfechtungsrisiken zu minimieren. Die enge Abstimmung aller Beteiligten, also zwischen Versammlungsleiter, HV-Dienstleister, Streaming-Anbieter, IR-Abteilung, Rechtsabteilung usw. ist dabei in der Praxis von entscheidender Bedeutung. Wie bei jeder umfassenden Neuerung haben sämtliche HV-Dienstleister aus eventuell nicht optimal gelaufenen Hauptversammlungen gelernt und die Lösungen dann stetig weiter optimiert. Eine zusätzliche Herausforderung für die Beratung und Planung war, dass sich eine ganze Reihe von Unternehmen erst recht spät auf die Form der Versammlung, also virtuell oder in Präsenz, festgelegt haben. Die große Mehrheit der Hauptversammlungen lief erfreulicherweise völlig problemlos ab.

Herr Stokes, wie sieht man den deutschen Markt von der britischen Perspektive aus, wie aus London dieses oft hitzig debattierte Nebeneinander von Präsenzversammlung und virtueller HV? Ist das eine typisch deutsche Angelegenheit, bei der man eher die Augen verdreht? Wie heiß wird das Thema in Großbritannien „gekocht“?

Stokes: Ich verdrehe natürlich nicht die Augen, aber ich bin mir sehr bewusst, dass die individuellen Aktionärsrechte in Deutschland besonders ausgeprägt sind im internationalen Vergleich, insbesondere das Anfechtungsrecht, und das bringt sicherlich einige Unterschiede mit sich. So ist das Deutschlandgeschäft deutlich beratungsintensiver als etwa in England, wo die Organisation einer HV vielfach von den Aktienregister-Spezialisten mitbetreut wird. Das wäre hier nicht denkbar. Natürlich können Unternehmen in Großbritannien auch wählen, ob sie virtuell oder in Präsenz tagen, aber das ist kein so großes Thema wie hierzulande.

In Gesprächen und auf Seminaren wird hierzulande immer wieder die Mischform zwischen virtueller und Präsenz-HV angeführt, also die hybride HV. Ist das die Zukunft?

Stokes: Tatsächlich reden viele Leute mit uns über den Hype um hybride Aktionärstreffen. Aber ich habe noch keine echte hybride HV gesehen, bei der auch alle Rede- und vor allem Abstimmungsrechte hybrid ermöglicht wurden. Heißt: Wir verfügen inzwischen über die technischen Voraussetzungen, solche hybriden Meetings darzustellen. Aber wegen der höheren Kosten wird diese HV-Variante kaum nachgefragt, auch in Deutschland nicht. Hinzu kommen die rechtlichen Risiken, wenn man die Vorschriften von zwei rechtssicheren Varianten, Präsenz- und eben virtueller HV, vermischt. Das ist schwierig.

Ist es wirklich so, dass die Kosten sich für Emittenten verdoppeln würden bei einer hybriden HV?

Fues: Nein, verdoppeln wohl nicht ganz, aber anderthalb Mal so viel wie bei einer rein virtuellen Hauptversammlung könnte es schon kosten. Es hängt auch immer davon ab, von was man genau spricht. Eine echte hybride HV mit allen Teilnahme-, Abstimmungs- und Rederechten ist sehr aufwendig, um das rechtssicher zu gestalten. Eine Präsenz-HV mit wenigen virtuellen Elementen, etwa einem Stream, ist bei größeren Unternehmen praktisch heute schon Standard, die Zusatzkosten sind viel geringer. Formal ist das aber dann eine Präsenzversammlung mit Extras.

Müsste die Technik besser werden, damit eine hybride HV günstiger wird?

Fues: Ich bin mir nicht sicher, was die Zukunft bringen wird. Aber das Interesse an der hybriden HV ist in Summe nicht besonders groß. Es gibt viele prominente Gruppen wie Kleinaktionärsorganisationen, die hybride Versammlungen fordern, oft sehr aggressiv. Und viele Unternehmen prüfen das dann natürlich. Wenn wir mit ihnen dann über die Kosten und rechtlichen Risiken sprechen – und die gesetzlichen Rahmenbedingungen lassen sich nicht so leicht ändern -, dann lassen die meisten Emittenten meist schnell wieder davon ab.

Ein weiteres Thema, was die HV-Gemeinde nicht erst seit gestern umtreibt, sind die Spitzen der Saison. In Deutschland gibt es zwei besonders heftige HV-Wochen im Mai und Juni, da kann es schon mal bis zu 30 HVs an einem Tag geben. Aber das ist kein Vergleich mit Ländern wie Japan, wo die Hauptversammlungen mehrerer tausend Unternehmen gleichzeitig an einem einzigen Tag Ende Juni stattfinden. Ist so eine Entwicklung in Europa überhaupt denkbar?

Stokes: Die Debatte um die HV-Ballung ist nicht neu, kommt aber immer wieder. In Großbritannien ist sie etwas entschärft gegenüber Deutschland und die geballten Termine sind zeitversetzt.

Fues: Wir HV-Anbieter stellen uns so gut es geht kapazitätsmäßig darauf ein. Es sind meist auch nicht die Emittenten, die über die Häufung klagen, sie wählen eben ihre Wunschtermine aus, meistens zwischen Dienstag und Donnerstag, und da bleiben rechtlich nach dem Jahresabschluss abzüglich Schulferien und Feiertagen nicht so viele Termine. Es ist klar, dass es sich häuft. Wenn die Emittenten andere Termine wünschen, freuen wir uns, diesen Wunsch zu berücksichtigen.

Können Sie sich denn z.B. mit Spezialisten in den verschiedenen Ländern aushelfen, um Spitzenzeiten auszugleichen?

Fues: Nein, das geht in der Regel nicht, im DACH-Raum vielleicht begrenzt. Der HV-Markt mit all seinen rechtlichen und tradierten Gegebenheiten ist in den verschiedenen Jurisdiktionen viel zu speziell, um von demselben Team umfassend betreut zu werden, ganz ungeachtet der sprachlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen.

Können Sie die Unterschiede zwischen den Ländern genauer erklären?

Fues: Bei uns in Deutschland ist mit dem Rückzug der Banken aus dem HV-Geschäft schon seit den frühen 90er Jahren mehr und mehr Beratungsgeschäft hinübergewandert zu den ursprünglich technischen Dienstleistern. Das macht das Geschäft ja auch für uns jetzt so reizvoll. Anwaltskanzleien sind in Deutschland zunehmend ins HV-Geschäft eingestiegen. In England hingegen arbeitet der Aktienregisterführer sehr eng mit dem Company Secretary und den Investor-Relations-Teams zusammen, um die Hauptversammlung zu organisieren. Der Aktienregisterführer verwaltet natürlich die gesamte Kommunikation, vom Versand bis zur Zusammenstellung der Briefwahlstimmen. Er registriert die Aktionäre bei der Versammlung und stellt die Stimmenzähler zur Verfügung. Sie sehen, die Abgrenzung ist sehr unterschiedlich, somit auch die Arbeitsteilung. Prozesse lassen sich nicht so ohne weiteres in verschiedenen Ländern kopieren. Wir loten Synergien aus und berücksichtigen dabei die besonderen Anforderungen des deutschen Marktes, aber wir haben sicherlich einige deutschsprachige Mitarbeiter im Vereinigten Königreich, die an einer Abordnung interessiert sein könnten, und wir prüfen die Technologie. Die Link Group wendet einen Best-in-Breed-Technologieansatz an, daher bin ich mir sicher, dass zu gegebener Zeit geprüft wird, ob die Technologie des deutschen HV-Geschäfts auch anderswo eingesetzt werden kann. Und wer weiß, vielleicht taucht LinkVote+ eines Tages in Deutschland auf.

Stokes: Daher, jedes Team in jedem Land arbeitet eigenverantwortlich in seinem Markt. Natürlich reden wir über Synergien, aber eher in anderen, eher technischer orientierten Märkten als in Deutschland; und auch nicht in der Arbeit mit Kunden. Das ist ein sehr individuelles Geschäft und das soll auch so bleiben.

Wir reden ja auch auf der Aktionärsseite über ein spezielles Metier. Die meisten Besucher von Präsenz-HVs sind älter als der Durchschnitt der Bevölkerung. An virtuellen Versammlungen nimmt tendenziell ein etwas jüngeres Gesamtpublikum teil. Spüren Sie von Seiten der jungen Aktionärsgeneration, sagen wir U30, irgendeine Tendenz, ein allgemeines Interesse, wie die HV der Zukunft aussehen soll?

Fues (lacht): Wir sind ja auch schon älter… Im Ernst: Schon das Thema HV an sich ist für viele aus der genannten U30-Generation keines. Wenn ich mit jungen Menschen über meinen Job spreche, speziell von Versammlungen in Präsenz mit voller Präsenz von Aktionären, Vorstand und Aufsichtsrat über mehrere Stunden, dann schütteln die meisten den Kopf. Was nicht digital stattfindet, ist für viele schlicht irrelevant. Wenn sie sich nicht einloggen können, um ein Meeting partiell zu verfolgen, etwa um Fragen zu stellen oder auch mit abzustimmen, dann wird es nicht wahrgenommen.

Stokes: Unter anderem deshalb haben wir vergangenes Jahr in Großbritannien eine App namens „LinkVote+“ eingeführt, mit der Aktionäre sich vor der Versammlung über die App registrieren und dann darüber auch abstimmen können. Wir haben die in Großbritannien entwickelte Technologie schon in unser australisches Geschäft übernommen. Ich möchte gemeinsam mit Torsten untersuchen, inwieweit diese Technologie auch auf den deutschen Markt übertragbar wäre. In Deutschland ist die Rechtslage komplexer, das haben wir ja schon gesagt, aber wenn man über diese App etwa auch die Fragen der jüngeren Aktionäre mit aufnehmen könnte, wäre das großartig.

Glauben Sie wirklich, dass so eine App die Lust auf die Teilnahme von Hauptversammlungen erhöhen wird?

In der ganzen Breite sicher nicht. Es geht hier um die Einbindung der ,,digital first“-Aktionäre, gleich welchen Alters. Das Interesse an Präsenzversammlungen insgesamt nimmt ab. Wir sehen etwa ein Drittel weniger Teilnehmer an Präsenzversammlungen als vor der Pandemie. Deshalb entwickeln wir andere Angebote wie eben die App.

Auf Emittentenseite galt ja bisher die Regel: Je größer ein Unternehmen, je mehr Aktionäre es hat, desto eher wählt das Management die virtuelle HV, schon um Kosten zu sparen. Viele kleinere AGs bevorzugen aber nach wie vor lieber das traditionelle Modell einer Präsenz-HV. Wie wird die Entwicklung 2024 und darüber hinaus weitergehen?

Fues: Für die nächste Saison wird diese Regel sicher noch gelten. Wobei einige Unternehmen nach einigen Jahren virtueller HV sicher für eine Saison wieder zu Präsenz zurückkehren, wenn ihre Aktionäre sich das wünschen. Es wird aber nicht mehr die ,,alte“ Präsenz-HV sein. Die Technik des Streamings etwa ist nicht mehr wegzudenken. Insgesamt verliert man bei der Fokussierung auf das HV-Thema leicht aus den Augen, was die Digitalisierung im Bereich der Unternehmenskommunikation insgesamt an Entwicklungen mit sich bringt. Daher die perspektivische Frage: Welche Rolle wird denn Ihrer Meinung nach die Institution der Hauptversammlung noch in 10, 20 Jahren spielen, wenn die heute jungen, digital affinen Aktionäre im gesetzten Alter sind?

Stokes: Die formale Institution der Hauptversammlung wird dann sicher noch immer bestehen, denn es ist notwendig, dass sich die Eigentümer eines Unternehmens treffen, um zu diskutieren und wichtige Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Daran besteht kein Zweifel. Aber die Form, dies zu tun, wird sich wesentlich ändern in dem Maße, wie die technischen Möglichkeiten wachsen und die Menschen diese auch gewohnheitsmäßig nutzen.

Also kein Run mehr auf das Lunch- oder Kuchenbüffet mehr?

Fues: Vor 15, 20 Jahren war es eines der höchsten Feste eines Unternehmens, die Hauptversammlung abzuhalten. Dazu gehörte auch ein gutes, bisweilen auch hervorragendes Essen. Doch die Zeiten, in denen Aktionäre einmal im Jahr exklusiv verköstigt wurden, sind bis auf sehr wenige Ausnahmen längst vorbei. Diese Naturaldividende ist im Wert deutlich gesunken. Und mal ehrlich: Wegen eines Büffets durch das halbe Land zu reisen, um an einer HV teilzunehmen? Ist das noch zeitgemäß?

Es ist in jedem Fall nicht nachhaltig.

Stokes: Lange war die Hauptversammlung auch so etwas wie ,,Brot und Spiele“ für die Aktionäre. Die Menschen, die ihr Geld in ein Unternehmen investieren statt es aufs Sparbuch bei der Bank zu legen, wollen auch mitgenommen werden vom Vorstand, sie wollen Bestätigung, dass sich ihr Investment rentiert, dass es eine gute Sache ist und mit ihrem Geld gute Produkte gemacht werden. Zu einer guten HV gehört zudem auch, dass man als Aktionär Spaß hat auf so einer Versammlung und glücklich ist, dabei zu sein. Das mag aus heutiger Sicht eine Idealvorstellung sein. Jedenfalls hat die Hauptversammlung einiges von ihrem früheren Charakter verloren. Die Umfänge haben sich geändert und die Prozesse werden immer formaler. So ist es schwer, die Menschen zu begeistern.

Wie könnte man denn bei Aktionären wieder mehr Begeisterung für die HV schaffen?

Stokes: Die Virtualität ist ein Schritt in die richtige Richtung. Unsere App vielleicht auch. Und es wird hoffentlich noch viele andere Innovationen geben im Markt.

Neben den technischen Themen gibt es ja auch eine Menge inhaltlicher Schwerpunkte, die es so vor zehn Jahren noch gar nicht gab. Nachhaltigkeit zum Beispiel gewinnt an Bedeutung.

Fues: Sie sprechen das Thema ,,Say on Climate“ an, also der Forderung, dass Vorstand und Management sich auf der HV zu Nachhaltigkeitsthemen nicht nur bekennen, sondern auch konkrete Aktionen und ESG-bezogene Ziele festlegen. Aktionärsgruppen gehen hier mit den Führungsgremien der Emittenten durchaus hart ins Gericht und erarbeiten sich teilweise durchaus Respekt mit ihren Forderungen. Das ist ein Thema im Kommen.

Also wird es doch nach all den pandemiebedingt technik-lastigen HV-Jahren auch bald inhaltlich wieder interessanter auf Hauptversammlungen 2024?

Stokes: Ja, die Inhalte auf Hauptversammlungen sind durchaus interessant. Zudem erlauben die umfangreichen Einzelaktionärsrechte in Deutschland weitaus mehr Partizipation der Anteilseigner als nach den HV-Gesetzen in den meisten anderen Ländern. Aber die Möglichkeiten und auch die damit verbundenen Risiken für die Emittenten sind eben sehr komplex, daher ist das Vorgehen oft übertrieben formalistisch. Dieses Dilemma aufzulösen, würde das Interesse am HV-Besuch – ob physisch oder virtuell – vielleicht wieder erhöhen.

Je komplizierter das Geschäft wird, desto besser für Link, richtig?

Fues: Je höher die Komplexität, desto höher ist in der Regel der Beratungsbedarf, das stimmt. Und das ist auch Teil unseres Geschäftsmodells, neben der technischen Umsetzung natürlich.

Ist die Komplexität auch der Grund, warum deutsche Hauptversammlungen manchmal mehr als acht Stunden dauern?

Stokes: Ganz so pauschal würde ich es nicht sagen. Aber ja, deutsche Unternehmen haben überdurchschnittlich lange HV-Dauern, weil es viele rechtliche Vorschriften und Fallstricke gibt und das Anfechtungsrecht auch Einzelaktionären viele Rechte einräumt, die HV-Beschlüsse prinzipiell zunichte machen könnten. Zum Vergleich: In Großbritannien, aber auch in den USA sagt man, dass 2,5 Stunden ein gutes Maß sind. Für die Ausübung des Rederechts oder auch die Anfechtung von Beschlüssen benötigt man in vielen Ländern ein Mindestquorum, eine Stimme reicht nicht. Die Länge der Aktionärsversammlung ist aber nur eine Seite der Medaille.

Was ist die andere Seite der Medaille?

Nun, in den USA etwa spielt sich viel vor der eigentlichen Jahresversammlung ab. Im Vorfeld wird hart um die Stimmenmehrheit gekämpft mit Hilfe der Proxy-Solicitors im Auftrag der Gesellschaften oder der Opponenten. Auch wird dort im Vorfeld viel Geld investiert, um Stimmung zu machen, mit wichtigen Aktionären im Vorfeld zu sprechen, diesen zuzuhören und sie auf die eine oder andere Seite zu ziehen. Das gibt es in Deutschland bislang kaum, außer bei speziellen Situationen wie z.B. einer feindlichen Übernahme. Da tobt dann auch ein Kampf um Stimmen im Vorfeld der HV. Ansonsten spielt sich in Deutschland aufgrund der rechtlichen Möglichkeiten sehr viel mehr am Tag der HV ab, da ist in US-Unternehmen in der Regel schon alles gelaufen.

Nun, sogenannte aktivistische Aktionäre sind auch hierzulande auf dem Vormarsch. Sie treten oft vor, während und nach der HV auf.

Fues: Wir arbeiten nicht für aktivistische Aktionäre.

Aber Link arbeitet für Unternehmen, die mit solchen Aktivisten konfrontiert sind, oft ganz plötzlich, nicht selten unerwartet.

Fues: Natürlich bieten wir Emittenten unsere Unterstützung an im Umgang mit den Aktivisten. Aber die grundsätzliche Struktur dessen, was wir tun, ändert sich nicht wesentlich, lediglich die Intensität des Projekts nimmt zu. Gegebenenfalls können auch Kollegen aus anderen Bereichen bei Link mit einsteigen, etwa D.F. King. Falls erforderlich, können Kollegen der Link Group, wie z.B. unsere D.F. King-Spezialisten, ihre Kompetenzen mit unseren kombinieren, um einen Emittenten zu unterstützen. Als Proxy Solicitor versuchen sie, die Aktionäre in die ein oder andere Richtung zu bewegen, die das Unternehmen gerne haben möchte. Und unsere Investor-Relations-Leute, etwa von Orient Capital, befassen sich mit der Kapitalmarktkommunikation und der Analyse der Aktionärsstruktur. Wir als HV-Dienstleister Link agieren in einer HV mit aktivistischen Aktionären inhaltlich völlig neutral, wir helfen den Unternehmen lediglich beim – technischen und organisatorischen – Umgang mit Aktivisten.

Herr Fues, Herr Stokes, Sie bearbeiten ein weites Feld. Die Hauptversammlung ist ein Kernelement dabei, und die Konkurrenz auf dem Gebiet ist in den vergangenen 20 Jahren größer geworden. Daher zum Ende ganz konkret: Wie sind die Geschäftsaussichten von Link Market für 2024 in Deutschland und auch in Europa insgesamt? Und welches sind für Sie die größten und wichtigsten Märkte in Sachen HV?

Stokes: Link ist weltweit vernetzt und unterstützt mehr Hauptversammlungen als jeder andere Anbieter. Unsere größten Märkte liegen in Europa, also im Vereinigten Königreich, in Deutschland und Irland. Und im Asien-Pazifik-Raum, also APAC, das umfasst die Heimat von Link, Australien und auch Neuseeland sowie Hongkong. Aber auch in Indien haben wir mehrere tausend Kunden, die insgesamt 90 Millionen Aktionäre und Investoren vertreten. Sie sehen, wir sind global unterwegs – aber wir vergeben keine Rankings nach Größe oder Umsatz o.a. Alle Kunden sind uns gleich wichtig.

Das ist fast ein zu glattes Schlusswort. Herr Fues, Herr Stokes, danke sehr für Ihre Zeit und die interessanten Einblicke in einem spannenden Marktumfeld.

Das Interview führte Simone Boehringer, Fotos: Eufemia Mayer-Madarasz

Zu den Interviewpartnern:

Torsten Fues hat in den 1990er Jahren seine ersten Hauptversammlungen besucht, etwa 700 seit damals. Das erste Aktionärstreffen eines Unternehmens nach dem IPO erlebte er bei der jetzigen AIXTRON SE in 1998, als Angestellter des Bereichs Corporate Finance der Dresdner Bank AG, der späteren Investmentbank Dresdner Kleinwort. AIXTRON war 1997 an den damaligen Neuen Markt in Frankfurt gegangen und ist bis heute Kunde von Fues. Fues war zuletzt Vorstandsmitglied der Better Orange IR & HV AG, die im Mai 2023 an Link Market Services verkauft wurde. Seit August diesen Jahres ist Fues nun Managing Director für Deutschland bei Link Market Services als Teil des Bereichs Corporate Markets der Link Group.

Portrait Ian Stokes. Foto Copyright: GoingPublic MediaIan Stokes hat seine erste Hauptversammlung 1996 bei British Gas besucht, damals im Auftrag einer Aktienregisterfirma in London. Es gab Streit um den Kurs der Gesellschaft und ein Redner trat mit einem lebenden Schwein auf, um seine Kritik an der Unternehmensführung des damaligen CEOs zu verstärken. Das hat Stokes so beindruckt, dass er bis heute noch rund 450 weitere Aktionärstreffen in verschiedenen Ländern besuchte, allen voran in England, den USA und Deutschland. Heute ist Stokes Managing Director fürs Europa-Geschäft des Bereichs Corporate Markets der Link Group.

 

Autor/Autorin

Simone Boehringer

Simone Boehringer ist die Redaktionsleiterin "Kapitalmarktmedien" der GoingPublic Media AG.