Die Zeiten quasi-kommunistischer HV-Mehrheiten sind endgültig vorbei. Deutsche Emittenten waren gezwungen, sich an diese Tatsache sowie an  die Kritik an verschiedenen Tagesordnungspunkten von der Investoren- bzw. der Proxy-Advisor-Seite zu gewöhnen.

Zunehmend sehen Unternehmen beispielsweise Aufsichtsratsentlastungen, die mit deutlich weniger als 99% Zustimmung angenommen werden. Der Grund dafür ist häufig, dass der Aufsichtsrat die individuelle Sitzungsteilnahme nicht veröffentlicht. Genehmigte Kapitalia werden mit gerade mal  etwas über 80% Zustimmung angenommen, Aufsichtsratsmitglieder nur knapp in ihren Posten gewählt, die Vergütungssysteme erhalten teils viele  Nein-Stimmen, die sich oft nicht so ohne Weiteres erklären lassen. Woher kommt dieses Abstimmungsverhalten, woher die damit zum Ausdruck  gebrachte Kritik? Ist den Emittenten bewusst, was hier passiert?

Alte Welt

Die Kommunikation mit Stimmrechtsberatern, z.B. ISS (Institutional Shareholder Services) und IVOX Glass Lewis (setzt die Abstimmungsrichtlinien des Bundesverbands Investment und Asset Management e.V. (BVI) in Deutschland um), ist inzwischen Teil der routinemäßigen  Hauptversammlungsvorbereitung. Oft werden deren veröffentlichte Richtlinien explizit eingehalten, um die Zustimmung von deren Kunden  möglichst sicher zu erhalten. Dabei handelt es sich um die institutionellen Investoren aus dem In- und Ausland, die große – manchmal die größten –  Aktienbestände auf den deutschen Hauptversammlungen vertreten und sich in der alten Welt recht genau auf dieser Basis prognostizieren ließen.

Neue Welt

Nicht mehr ausschließlich die Richtlinien z.B. von ISS und IVOX Glass Lewis sind relevant. Im Vordergrund steht zunehmend die individuelle  Abstimmungspolitik der jeweiligen Investoren, die häufig 3% oder mehr des ausstehenden Kapitals einer AG auf der Hauptversammlung (und einen noch deutlich höheren Prozentsatz der Präsenz) auf sich vereinen. Diese Investoren folgen mittlerweile nicht mehr quasi „blind“ den Empfehlungen der Proxy Advisor und deren Abstimmempfehlung. Investoren wie DWS, Deka, BlackRock und BNP Paribas Asset Management haben mittlerweile detailliert ausgearbeitete, durchdachte und auf die Ziele der jeweiligen Investorenstrategie abgestimmte Abstimmungsrichtlinien, die häufig deutlich strenger sind als die Richtlinien der Proxy Advisor und stärker in die eine oder andere Richtung variieren.

ETFs verändern den Dialog zwischen Emittent und Investor

Den Emittenten ist häufig nicht bewusst, dass vor allem die passiv investierten Gelder kritisch abstimmen. Das sind z.B. die ETFs (Exchange-Traded Funds) als reine Indextracker, die von BlackRock, Vanguard oder Dimensional verwaltet werden. Dort gibt es keine wirklichen Investor-Relations-  Kontakte, aber deren Governance-Abteilungen analysieren die Hauptversammlungseinladungen anhand oft ausgesprochen detaillierter und ESG- orientierter Richtlinien. Daraus resultiert ein entsprechend kritisches Abstimmverhalten.