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Die Hauptversammlungen der DAX 40 wurden 2022 zum dritten Mal virtuell abgehalten. Wie seit 2014 hat der Verband der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS (www.vrds.de) die Reden der CEOs analysiert. Deutlicher als in der Vergangenheit positionieren viele CEOs ihre Unternehmen mit einer Haltung zu den großen Fragen der Zeit. Immer besser nutzen die Konzerne die digitalen Möglichkeiten für die Inszenierung. Rhetorische Stilmittel setzen die meisten Redner zwar weiterhin sparsam ein, aber einige CEOs unterhalten mit Geschichten. Nicht nur Zahlen sollen Aktionäre überzeugen. Vielmehr skizzieren die besten Redner Storys über Mitarbeiter, Produkte sowie Partner – und sie berichten über Maßnahmen für die Energiewende und die Digitalisierung.

Der Angriffskrieg Putins auf die Ukraine spielte in allen CEO-Reden nach dem 24. Februar 2022 gleich zu Beginn eine wichtige Rolle. Dabei waren die Erschütterungen deutlich zu spüren, die dieser Zivilisationsbruch im 21. Jahrhundert bei den Rednern und ihren Unternehmen hinterlassen hatte. Viele berichteten über Hilfsmaßnahmen ihrer Konzerne sowie ihrer Mitarbeitenden für ukrainische Kolleginnen und Kollegen. Einige zogen Konsequenzen für ihr Russlandgeschäft, pausieren Produktion und Lieferung. Vorsichtig begründeten beispielsweise Unternehmen der Healthcare-Industrie, warum sie zunächst ihr Engagement in Russland für eine sichere Patientenversorgung fortsetzen. So viel Haltung und Bekenntnis zu Frieden, Freiheit und Demokratie hat es wohl selten in einer HV-Saison gegeben.

DAX40 gestalten Energiewende und Vielfalt

Auch beim Thema Klimawandel betonten viele Redner ihre gesellschaftliche Verantwortung. Der gewissenhafte Umgang mit Ressourcen und Rohstoffen sowie Projekte für erneuerbare Energie, Kreislaufwirtschaft und Recycling sind nun oft Kernbestandteil der Unternehmensstrategien. Vereinzelt berichteten CEOs auch ausführlicher als früher über Frauen in Führungsposition und welche Maßnahmen sie dafür ergreifen, dass es bald schon mehr werden. Ebenso spielten die kulturelle Vielfalt und Internationalität der Belegschaften in manchen Reden eine Rolle, um die Integration von Migranten als Erfolgsfaktor zu bewerten. Inhaltlich auffällig war zudem, dass die Digitalisierung einen größeren Raum ein[1]nahm. Nicht nur Telekommunikations-, IT- und Technikunternehmen forcieren Projekte zur Digitalisierung ihrer Produkte und Dienstleistungen. Eine solche Vielzahl von CSR-Positionierungen macht deutlich: CEOs und ihre Kommunikationsverantwortlichen nehmen wahr, dass gerade jüngere Zielgruppen von Unternehmen heute mehr erwarten als hohe Qualität oder besondere Innovationen.

Storytelling überzeugender als Zahlen

Zumal die Innovationen und vor allem die Zahlen auf einer DAX40-Hauptversammlung oft bereits bekannt sind. Auffällig und unterhaltsam war in der HV-Saison 2022, dass einige Redner spannende Geschichten zu erzählen hatten. Damit stellten sie ihr Unternehmen und ihre Vision in einen größeren Kontext. Bei Telekom-CEO Timotheus Höttges, seit 2017 führend in den VRdS-Rankings, beginnt der erste Teil stets mit einer Geschichte. Anschaulich wie immer demonstriert er den technisch anspruchsvollen Netzausbau am Modell und mit einer allgemeinverständlichen Story. Dabei erlaubt er sich sogar wertschätzende „Side Kicks“ in Richtung der Wettbewerber. Auch die Sanierung eines niederländischen Tochterunternehmens wird beim Erzähler Höttges zu einer span[1]nenden Story, die jeder versteht.

Roland Busch, CEO von Siemens, verwob Geschichten über Mitarbeitende in seinen Vortrag und stellte sie mit ihren Projekten in Filmen vor. Damit füllte er die oft nur als Behauptung aufgestellte These mit Leben, wonach das Top-Management nur so gut ist wie die Leute, die maßgeblich für den Erfolg eines Konzerns arbeiten. Ola Källenius erzählte die rührige Story über einen mittellosen Waisenjungen, den das Unternehmen gefördert hatte; wobei die Geschichte zugegebenermaßen schon etwas älter ist. Aber Wilhelm Maybach wäre ohne die Förderung von Gottlieb Daimler wohl nicht „König der Konstrukteure“ geworden. Damit erläuterte der Daimer-CEO, dass sein Unternehmen allen Menschen eine Chance gibt – 2015 syrischen und 2022 ukrainischen Geflüchteten. Ein weiterer CEO begann seinen Vortrag mit einem überraschenden Einspieler über ein Tiny House. Andere berichteten über spannende Kooperationen. Bei Siemens trat sogar der Daimer-CEO auf, um Siemens-Innovationen bei der erfolgreichen Digitalisierung eines der ältesten Mercedes-Werke zu bezeugen. Die meisten Storys waren außerdem von beeindruckenden Bildern und Filmen flankiert. So machen Hauptversammlungen Spaß!

Freie Rede, schlankere Präsentationen, Bewegtbild

Überhaupt zeigte die dritte HV-Saison unter Coronabedingungen, dass einige Redner und ihre Kommunikationsabteilungen die Möglichkeiten der digitalen Gestaltung immer besser nutzen. Einige stehen frei vor einem Greenscreen. Zwei bis drei Kameras filmen den Sprecher, der idealerweise selbstsicher durch den Raum geht. Ohne Teleprompter und Funkmikrofon geht dies natürlich nicht. Das ist auch für trainierte CEOs weiterhin eine Herausforderung, wenn sie kurz irritiert nach der richtigen Kamera suchen. Im Hintergrund blendet die Regie bei den besten Rednern übersichtliche Charts ein, die anders als in der Vergangenheit nur noch selten überladen sind. Insgesamt werden die Präsentationen stärker durch Bild- als durch Textbotschaften geprägt. Auch Bewegtbild setzt sich durch. Damit nähert sich die Gruppe der Spitzenredner in ihrer Bildschirmpräsenz professionellen Anchormen und Anchorwomen im TV.

DAX-Premiere: Merck schreibt mit Belén Garijo Geschichte

Allerdings waren Anchorwomen im DAX bisher unbekannt. Das änderte sich am 20. April 2022: Die neue CEO von Merck betrat die Bühne und wusste sie überzeugend für sich und ihr Unternehmen zu nutzen. Belén Garijo habe mit ihrem Auftritt eine bemerkenswerte Rollenauthentizität bewiesen, die der einer Angela Merkel nicht unähnlich ist, schilderte VRdS-Präsidentin Jacqueline Schäfer ihren ersten Eindruck. „Sie zeigte Haltung und Empathie, aber immer in ihrer Rolle als CEO. Die private Belén Garijo wurde nicht sichtbar“, kritisierte Analystin Schäfer. Allerdings thematisierte sie ihre Sonderrolle indirekt, als sie ihr Unternehmen für seine Diversity-Politik lobte. Dieser Trend scheint künftig auch in anderen DAX-Konzernen für mehr weibliche Führungskompetenz zu sorgen, denn der bisherige CEO von Fresenius Medical Care (FMC) macht den Weg frei für das erste weibliche Führungsduo im DAX: Die Berufungen von Dr. Carla Kriwet und Helen Giza bilden ebenso historische Wegmarken hin zu mehr Diversität

Fazit

Waren früher bisweilen bräsig vorgetragene Zahlenreihen, hilfloses Denglisch als Ausweis internationaler Ausrichtung sowie eng beschriftete Charts vorherrschend, hat sich das bei den meisten Rednern geändert. Interessanterweise hat gerade das virtuelle Format auch dafür gesorgt, dass einige Hauptversammlungen bunter und einige CEOs nun nahbarer wirken. Vorausgesetzt, den Anforderungen der Aktionärsdemokratie wird weiterhin Genüge getan, könnten virtuelle Gestaltung und Übertragung also auch nach Corona beibehalten werden. Denn: Selten zuvor waren Hauptversammlungen – diesmal zumindest teil[1]weise – so unterhaltsam wie 2022

Über den VRdS

Der Verband der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS) engagiert sich seit 1998 für die Interessen seiner Mitglieder und fördert die Redekultur im deutschsprachigen Raum. Er führt die Redenschreiberinnen und Redenschreiber zu einem selbstbewussten Berufsstand zusammen. Er vertritt ihre Interessen und macht die Öffentlichkeit auf ihre Leistungen aufmerksam. Er mischt sich in öffentliche Debatten ein, nimmt Stellung zu wichtigen Reden und unterstützt junge Menschen, die die Redekunst erlernen wollen.

Autor/Autorin

Christian Gasche

Christian Gasche ist Marketing-Betriebswirt (BA), freier Journalist und Redenschreiber. Er ist Mitglied im Verband der Redenschreiber deutscher Sprache (VRdS).