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Stück für Stück werden die Updates der Stimmrechtsberater zu ihren Abstimmungsrichtlinien veröffentlicht. Der Artikel beschäftigt sich mit deren Position zur virtuellen Hauptversammlung sowie wichtigen sonstigen Updates und ordnet diese ein.

Anfang November bezog der Bundesverband Investment und Asset Management e.V. (BVI) für die kommende Hauptversammlungssaison Position (Quelle: BVI Analyse-Leitlinien für Hauptversammlungen 2023). Durch die teilweise hohen Unternehmensbeteiligungen der Mitgliederfonds im deutschen Markt sind die BVI-Richtlinien von besonderer Bedeutung. IVOX Glass Lewis analysiert für die BVI-Mitglieder die HV-Einberufungen, gibt Abstimmungsempfehlungen auf dieser Basis und kümmert sich um die operative Stimmrechtsausübung nach Weisungserteilung der BVI-Mitglieder.

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Die Einführung von Satzungsregelungen zur virtuellen Hauptversammlung wird als unkritisch eingestuft, wenn

  • die Dauer der Ermächtigung in der Satzungsregelung entgegen dem gesetzlichen Ermächtigungszeitraum von fünf Jahren auf maximal zwei Jahre befristet wird,
  • in der Begründung zur vorgeschlagenen Satzungsänderung eine schriftliche Erklärung enthalten ist, ob und unter welchen Voraussetzungen künftig von einer Ermächtigung des Vorstands Gebrauch gemacht werden soll,
  • eine schriftliche Erklärung erfolgt, dass es keine unangemessene Beschränkung des Fragerechts pro Aktionär im Vorfeld gibt,
  • keine Festlegung einer Gesamthöchstzahl zulässiger Fragen von Aktionären im Vorfeld besteht und
  • das Frage- bzw. Auskunftsrecht nicht auf Nachfragen (§ 131 Abs. 1d AktG) und Fragen zu neuen Sachverhalten (§ 131 Abs. 1e AktG) beschränkt wird.

Das ist eine wichtige Festlegung. Die Vorabeinreichung von Fragen in der im Gesetz vorgesehenen Form wird voraussichtlich wenig Praxisrelevanz haben, ist also meistens unproblematisch. Die Befristung ist machbar und an einer Begründung sollte es auch nicht scheitern. Die Kriterien bewerten wir daher als erfüllbar, die Zustimmung ist bei entsprechender Beachtung also planbar.

Interessant ist, dass auch die Nichtteilnahme einzelner Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder während der gesamten Dauer der Hauptversammlung als kritisch eingeordnet wird. Dieser Punkt scheint auch für die Präsenz-HV zu gelten.

Welche neuen Punkte sind für den BVI noch relevant?

  • Nachhaltigkeitsexpertise im Aufsichtsrat gewinnt für den BVI an Bedeutung. Fehlende Expertise im Aufsichtsrat zu diesem Thema und/oder Nichtoffenlegung dieser Expertise in einer Qualifikationsmatrix wird bei der Entlastung als kritisch eingestuft.
  • ESG-Ziele sollen in der Vergütung des Vorstands enthalten sein.
  • Berichterstattung zur Nachhaltigkeit
  • Bei Wahlen zum Aufsichtsrat soll eine Qualifikationsmatrix wie im DCGK vorgesehen verwendet werden.

Werden diese Punkte nicht beachtet, wird das für die jeweils relevanten Beschlussfassungen als kritisch eingestuft.

Richtlinien von Glass Lewis

Mitte November wurden die neuen Richtlinien von Glass Lewis (GL) veröffentlicht. Für Deutschland gilt die Continental Europe Policy Guideline.

Grundsätzlich wird die virtuelle Teilnahmemöglichkeit von Aktionären an Hauptversammlungen begrüßt. Das gilt aber eher für Hybridversammlungen. Es wird deutlich gemacht, dass nach Glass Lewis’ Einschätzung die rein virtuelle Hauptversammlung zu Einschränkungen der Fähigkeit der Aktionäre führen könne, an der Versammlung teilzunehmen. Außerdem wird die sinnvolle Kommunikation mit Unternehmensleitung und Direktoren in Zweifel gezogen.

Daher unterstützt GL die Durchführung von sowie die satzungsgemäße Ermächtigung zu rein virtuellen Hauptversammlungen dann, wenn

  • die Rahmenbedingungen für virtuelle Teilnahme und Frageneinreichung mit der Einberufung bekannt gemacht werden (dies ist nach deutschem Recht gewährleistet);
  • die Beantwortung der eingereichten Fragen in einer allen Aktionären zugänglichen Form erfolgt, also z.B. durch Veröffentlichung der Antworten auf der Webseite (dies ist nach deutschem Recht für Fragen während der HV nicht vorgesehen; sofern die Vorabeinreichung der Fragen im gesetzlichen Rahmen festgelegt wird, ist diese Bedingung für diese Fragen erfüllt). Es ist daher unklar, ob die deutsche gesetzliche Regelung zur grundsätzlichen Ablehnung führt oder nicht. Wir können uns aber nicht vorstellen, dass bei Einhaltung der deutschen gesetzlichen Regelungen eine automatische Ablehnung erfolgt;
  • die virtuelle Hauptversammlung ausschließlich im Fall außergewöhnlicher Umstände (z.B. erneute Kontaktbeschränkungen) vorgesehen ist, die dann in der HV-Einladung offengelegt werden müssen. Das wird in der Regel nicht so gewünscht sein und ist daher kein sinnvoller Ausweg, um die Zustimmung zu erlangen;
  • die virtuelle Teilnahme von Vorstands- bzw. Aufsichtsratsmitgliedern ausschließlich für die reine virtuelle Hauptversammlung vorgesehen ist. Bei Präsenz- oder Hybridversammlungen wird eine solche Möglichkeit abgelehnt.

In Summe bleibt festzuhalten, dass die Zustimmung von GL zur Ermächtigung zur rein virtuellen HV eher schwer zu erlangen sein wird.

ISS-Abstimmungsrichtlinien für Mitte Dezember erwartet

Die aktualisierten Abstimmungsrichtlinien von Institutional Shareholder Services Inc. (ISS) werden meist Mitte Dezember veröffentlicht. Seit Anfang November war bei ISS die offene Kommentierungsphase zu vorgeschlagenen Änderungen der Benchmark-Abstimmungsrichtlinien eröffnet.

Im Hinblick auf virtuelle Hauptversammlungen steht im Änderungsvorschlag von ISS:

„General Recommendation: Generally vote for proposals allowing for the convening of hybrid shareholder meetings if it is clear that it is not the intention to hold virtual-only AGMs. Generally vote against proposals allowing for the convening of virtual-only shareholder meetings.“

Im Hinblick auf deren Position zur virtuellen Hauptversammlung deutschen Zuschnitts schreibt die Börsen-Zeitung vom 17. November 2022 wie folgt: „Der Deutsche Investor-Relations-Verband DIRK, dem die meisten großen börsennotierten Firmen angehören, erklärte in einem Reuters vorliegenden Brief an seine Mitglieder, ISS wolle das Nein auch für 2023 beibehalten, und warnte, damit sei die nötige Zustimmung zur virtuellen HV in Gefahr.“

Das DAI – Deutsches Aktieninstitut e.V. hat in einer Stellungnahme vom 16. November 2022 den Stimmrechtsberater ISS dazu aufgefordert, bei seinen Abstimmungsempfehlungen die neue deutsche Gesetzgebung zur virtuellen Hauptversammlung angemessen zu berücksichtigen. Keinesfalls dürfe sich ISS in seinen Abstimmungsempfehlungen gegen eine Satzungsregelung zur virtuellen Hauptversammlung aussprechen oder diese auf Notlagen beschränken.

Der BUJ – Bundesverband der Unternehmensjuristen e. V. äußert sich in einer Stellungnahme vom 17. November 2022 ähnlich.

Beide heben die Gleichwertigkeit der Möglichkeiten der Rechteausübung für Aktionäre in der Präsenz- und der neuen virtuellen Hauptversammlung deutschen Rechts hervor. Außerdem werden die positiven Nachhaltigkeits- und Corporate-Governance-Aspekte betont.

Fazit

Die Stimmrechtsberater stellen sich aktuell (noch) von vorsichtig positiv (BVI) bis sehr ablehnend (ISS) zur neuen virtuellen Hauptversammlung. Wir können nur hoffen, dass sich die Position von ISS aufgrund der eingereichten Argumente noch ändert und die tatsächliche Policy anders aussieht als der Vorschlag. Es wäre tragisch, wenn die Sorge vor einem negativen Votum der Stimmrechtsberater die virtuelle Hauptversammlung in Deutschland ausbremsen würde.

www.better-orange.de

Autor/Autorin

Torsten Fues

Torsten Fues ist Vorstand bei der Better Orange IR & HV AG.

Thomas Wagner

Thomas Wagner ist Vorstandsmitglied bei der Better Orange IR & HV AG.