Bildnachweis: belamy – stock.adobe.com.
Je nach Berechnung benötigen rund 25 % der Bevölkerung in der EU barrierefreie Angebote im digitalen Raum. Digitale Barrierefreiheit sollte daher im Internetzeitalter eine Selbstverständlichkeit sein. Bei der Organisation insbesondere virtueller Hauptversammlungen kommt dem Onlineservice für Aktionäre eine entscheidende Rolle zu, da das Medium die Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Aktionär bildet. Wir beleuchten, wie dieser Service in der HV-Praxis barrierefrei gestaltet werden kann. Von Adrian Schwarz
Ehrlich gesprochen: Die Auseinandersetzung mit dem Thema „digitale Barrierefreiheit“ fiel mir persönlich – und ich zähle mich zum organisatorischen Maschinenraum innerhalb der HV-Zunft – zu Anfang nicht ganz so leicht.
Das könnte folgende Gründe haben: Erstens fehlt bei dem Thema insgesamt ein gesellschaftliches Bewusstsein für die unterschiedlichen Zielgruppen und deren individuellen Bedürfnisse. Zweitens ist es in der Fachliteratur nicht unbedingt „leicht konsumierbar“ mit einer Management Summary beschrieben. Und Drittens: Es gibt unterschiedliche „Schulen“ im Markt, wie das Thema technisch aufgelöst werden kann.
Zuweilen wird digitale Barrierefreiheit daher noch als Nischenprodukt gesehen – findet aber sukzessive seinen Weg in die Mitte der Gesellschaft und damit auch in die Applikationen im Rahmen der Hauptversammlungsabwicklung.

Hier lesen Sie die neue Ausgabe als E-Magazin!
Betrachten wir einmal unterschiedliche Zielgruppen, am anschaulichsten in Form von exemplarischen Personae. Maria hatte eine Operation am linken Auge. Tom lernt die deutsche Sprache. Martin hat eine Rot-Grün-Schwäche. Michael ist gehörlos, Heike von Geburt an blind, und Bernd ist 68 Jahre alt.
Jeder Mensch ist anders. Damit sind auch die Nutzungsbedürfnisse individuell, und diese stehen bei Onlineservices für Hauptversammlungen im Mittelpunkt der Betrachtung. Die Anwendung sollte so gestaltet werden, dass möglichst viele individuelle Benutzerbedürfnisse durch die gewählten Methoden des Anwenders erfüllt werden können. Das erfordert die Einsicht, dass digitale Barrierefreiheit ein strategischer Bestandteil der Anwendung ist. Es erfordert auch die Bereitschaft, die Anwendung mit den vorhandenen Ressourcen barrierefrei zu gestalten. Außerdem sollten bisherige Sehgewohnheiten und Nutzungsmöglichkeiten innerhalb der bestehenden Servicelandschaft und Zielgruppe trotz technischer Weiterentwicklung nicht allesamt über den Haufen geworfen, sondern digitale Barrierefreiheit vielmehr als sinnvolle Ergänzung eingeführt werden.
Dabei basieren die vier Prinzipien der Barrierefreiheit auf Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit. Diese Säulen bilden die Web Content Accessibility Guidelines – kurz: WCAG-Standards.
Fokus auf Funktionalität
Viele Arbeitsschritte am Computer bzw. Tablet und Handy basieren auf der Auge-Hand-Koordination. Während die Hand eine Maus bedient, folgt das Auge einem Cursor auf dem Bildschirm bzw. Scrollrad zur Webseitennavigation. Mit digitaler Barrierefreiheit fällt der Tastatur eine deutlich größere Bedeutung als bisher zu. Mit den Tasten, insbesondere der Tabtaste, den Pfeiltasten und der Leerzeichen- bzw. Entertaste sollte komplett durch die Anwendung navigiert werden können. Wichtig ist dafür der sogenannte Tastaturfokus. Dieser signalisiert dem User, wo genau er sich in der Anwendung bzw. auf der Webseite befindet, wenn er die Tastatur nutzt. Auch der Fakt, dass User in der Regel ihre bevorzugten Screenreader zum systematischen Auslesen der Applikation nutzen, sollte berücksichtigt werden. Weitere Aspekte im Onlineservice betreffen z.B. Freiräume oder Kontraste um Klickkästchen und Buttons herum oder das Unterstreichen von Hyperlinks zur eindeutigen Kenntlichmachung.
Hauptfunktionen des Onlineservices für Aktionäre sind das Login, die Bevollmächtigung, die Stimmrechtsausübung und die weiteren Funktionen zur Teilnahme an virtuellen HVs sowie die Aktienregistereinsicht, ohne die eine echte HV-Partizipation nicht denkbar sind.
Benutzerpräferenzen berücksichtigen
Durch die unterschiedlichen Bedürfnisse der User sind auch deren Präferenzen bei barrierefreien Onlineservices für Aktionäre von entscheidender Bedeutung. So sollte die Applikation z.B. die Inhalte und Funktionen auch im Hochkontrastmodus korrekt darstellen. Das ist nicht zu verwechseln mit sogenannten Overlay Tools, die über diverse Einstellungsmöglichkeiten die Applikation (z.B. die Website oder den Onlineservice für Aktionäre) eher verfremden als userfreundlich gestalten.
Barrierefreies Streaming
Ein weiterer zentraler Aspekt innerhalb des Onlineservices zur Hauptversammlung ist das Streaming. Angebote in Gebärdensprache halten vermehrt Einzug in die Vor-Ort-Produktion. Die Auswahlmöglichkeiten der Teilnehmer bzw. User, die Hauptversammlung in Ton und Bild zu verfolgen, werden damit ergänzt. Zudem ist es mittlerweile möglich, mittels künstlicher Intelligenz (KI) das live gesprochene Wort simultan als Untertitel im Stream einzublenden.
Diese Zusatzfunktion ist insbesondere dann sinnvoll, wenn Aktionäre die Hauptversammlung am hauseigenen Computer verfolgen. Eine künftige Anwendung könnte aber auch darin liegen, in einer großen Halle mit mehreren Tausend Aktionären Unzulänglichkeiten bei der Saalbeschallung durch Textunterstützung auszugleichen – abrufbar auf dem eigenen Handy. Aktionäre könnten auf diese Weise die Rede mitlesen.
Neben der reinen Textunterstützung in der Originalsprache eröffnet perspektivisch die Integration von Mehrsprachigkeit ein noch größeres Maß an Barrierefreiheit. Mittels KI-gestützter Liveübersetzung können gesprochene Inhalte in Echtzeit in mehrere Sprachen transkribiert und angezeigt werden – sowohl im Livestream als auch auf mobilen Endgeräten vor Ort.

Hier lesen Sie die neue Ausgabe als E-Magazin!
Eine denkbare Ausbaustufe ist die parallele Bereitstellung von Audioübersetzungen, sodass Teilnehmer zwischen Originalton, Untertiteln in verschiedenen Sprachen und mehrsprachigen Audiostreams wählen können. So wird aus einem rein national ausgerichteten Event ein global zugängliches Format – ohne zusätzlichen logistischen Aufwand für mehrsprachige Dolmetscher vor Ort.
Darüber hinaus ist bei Onlineservices für Aktionäre die Anbindung an die möglichst barrierefreie Website des Emittenten zu berücksichtigen. Die HV-Website mit allen relevanten Inhalten – unter anderem barrierefrei gestaltete PDFs – ist meist der Dreh- und Angelpunkt zur Informationsbeschaffung und Teilnahme an der Hauptversammlung – inklusive Login.
Fazit
Jeder Mensch ist unterschiedlich, Benutzerpräferenzen sind individuell. Daher sollte sich das barrierefreie, digitale Angebot an die Nutzungsbedürfnisse der User anpassen. Zudem sollten die HV-Inhalte möglichst End-to-End ohne Hürden konsumierbar sein. Zukünftige Anwendungen erfordern eine fachliche und technische Weiterentwicklung. Wenn es im eigenen HV-System im Detail noch Funktionen gibt, die gemessen an den WCAG-Standards nicht 100 %ig barrierefrei sind, sollte dies im Sinne einer transparenten Information in der „Erklärung zur Barrierefreiheit“ entsprechend vermerkt werden.
Autor/Autorin
Adrian Schwarz
Adrian Schwarz ist derzeit als Projektleiter bei ADEUS Aktienregister-Service-GmbH tätig, wo er für die Services rund um Hauptversammlungen verantwortlich ist. Vorher war er als Senior Manager bei PACT MARKETING GmbH im Bereich Account-Management und Performance-Marketing tätig, und davor als Creative Manager und Concept Designer bei METZLER : VATER, wo er für das Gewinnen von Pitches und das Binden von Kunden zuständig war.