Seit einigen Jahren gehen die Besucherzahlen von Hauptversammlungen (HVs) zurück. Dieser Trend ist in Deutschland ausgeprägter als in Österreich, aber in beiden Ländern sichtbar. Seit Corona hat sich diese Entwicklung noch verstärkt. Von Bernhard Orlik
Die Präsenz, also das auf der Hauptversammlung vertretene Grundkapital, ist weitgehend konstant geblieben. Um diese Entwicklung der geringen Besucherzahl aufzuhalten oder umzudrehen, muss man sich mit ihren Gründen beschäftigen.
Analysiert man die Teilnehmerverzeichnisse von Hauptversammlungen, wird man feststellen, dass die meisten Besucher der Rubrik „Privataktionäre“ zuzurechnen sind und vielfach nur eine überschaubare Zahl von Aktien vertreten. Der HV-Besuch von institutionellen Aktionären, z.B. Fondsverwaltungen, bildet eher die Ausnahme. Diese Aktionäre bevollmächtigen den Stimmrechtsvertreter der Gesellschaft, um ihr Stimmrecht in der HV auszuüben.
Gründe für den Rückgang
Die folgenden Gründe, weshalb immer weniger Privataktionäre eine Hauptversammlung besuchen, sind zu analysieren:
- Emotionale Bindung zum Unternehmen:
Gesellschaften, die Belegschaftsaktien ausgeben, begrüßen deutlich mehr HV-Besucher als Gesellschaften ohne diese Form der Mitarbeiterbeteiligung. Vielfach treffen sich die Pensionisten jährlich anlässlich der Hauptversammlung zum Wiedersehen. Die Ausgabe von Belegschaftsaktien ist zwischenzeitlich aber eher die Ausnahme denn die Regel und könnte ein Grund für rückläufige HV-Besucherzahlen sein. Zudem hat sich das Anlegerverhalten über die Jahre verändert. Hat man früher in „sein“ Unternehmen investiert und eine gewisse Bindung zur Gesellschaft aufgebaut, hat heute insbesondere die jüngere Aktionärsgeneration ein eher nüchternes, von finanziellen Kennzahlen geprägtes Verhältnis zum Unternehmen. Kennzahlen können jedoch problemlos zu jeder Zeit im Internet recherchiert werden, der HV-Besuch ist entbehrlich – ein Grund, weshalb insbesondere jüngere Aktionäre der HV fernbleiben. - Gesellschaftliches Treffen mit Gleichgesinnten:
Für viele Aktionäre ist die HV eher ein gesellschaftliches denn ein gesellschaftsrechtliches Event. Das Treffen und die Kommunikation mit Gleichgesinnten ist gerade für etwas ältere Aktionäre ein Grund für den HV-Besuch. - Die Naturaldividende am Aktionärsbuffet:
Das Buffet zählt zu den gewichtigen Gründen vieler Aktionäre für den HV-Besuch. Man denke nur an den heftigen Streit unter einigen Aktionären um die 12.000 „Saitenwürschtle“ bei einer Daimler-HV in Berlin. In den letzten Jahren haben die Gesellschaften aus verschiedenen Gründen die Naturaldividende deutlich gekürzt. Gesetztes Dreigängemenü mit Weinbegleitung findet man bei heutigen Publikumshauptversammlungen nicht mehr. Auch der HV-Gourmetführer einer schwäbischen Bank wurde eingestellt. Als dann auch noch die Erstattung für Parkplätze und/oder ÖPNV-Ticket gestrichen wurde, haben viele eifrige HV-Gänger auf den HV-Besuch verzichtet und sich anderen Freizeitgestaltungen zugewandt. Die jüngeren Aktionäre tauschen sich mit Gleichgesinnten ohnehin nicht persönlich auf der HV aus, sondern haben andere Plattformen für die Kommunikation untereinander etabliert. - Erwartung einer spannenden HV:
Einige HVs finden bereits vorab ein breites Medienecho. Wird im Vorfeld der HV die Erwartung geweckt, dass es zu spannenden Wortbeiträgen und ggf. Kampfabstimmungen kommt, finden deutlich mehr Aktionäre aller Altersgruppen den Weg in die HV. Derartige Veranstaltungen sind jedoch eher selten. Bleibt dem HV-Besucher die Hoffnung auf das Unerwartete. Erinnert sei an die Frage eines Aktionärs an den Aufsichtsratsvorsitzenden der AUA, ob dieser von der AUA neben seiner Aufsichtsratsvergütung noch zusätzliche Vergünstigungen bekäme. Als dieser verneinte, wurde triumphierend die AUA-Senator-Karte für alle Aufsichtsräte präsentiert. Die HV hatte ihren Moment, und für die Privataktionäre hat sich das Kommen gelohnt. Auch weil die Vorbereitung der HV durch das Unternehmen und die interne Governance der Gesellschaften derartige Überraschungen kaum mehr zulassen, sind solche Momente eher selten geworden. Letztlich sind Privataktionäre auch realistisch genug, um zu wissen, dass sie mit ihren Stimmrechten die Stimmabgaben der Institutionellen nicht überstimmen werden. Diese Aktionärsgruppe ist eher auf die Macht des gesprochenen Worts angewiesen. Allerdings sind Aktionäre, die auf der HV das Wort ergreifen und ihren Beitrag pointiert, witzig und trotzdem fachkundig vortragen, rar geworden. Dadurch sinkt für Aktionäre der Unterhaltungswert und somit die Attraktivität der Veranstaltung. - Aktualität:
In Zeiten, da die aktuellen Börsenkurse mittags ins Schaufenster der Bankfiliale gehängt wurden, hat die Vorstandsrede für Privatanleger durchaus neue Informationen geliefert. Im Zeitalter des Internets werden Geschäftszahlen regelmäßig und vor allem vor der HV publiziert, werden wichtige Unternehmensentwicklungen per Ad-hoc gemeldet und in Investorencalls erklärt. Die HV kann somit nur noch die Zusammenfassung von bereits Bekanntem liefern – für viele Anleger schlicht nicht attraktiv genug, um Zeit in einen HV-Besuch zu investieren.
Grundkapital vs. Besucherzahl
Für die Zukunft ist bedauerlicherweise damit zu rechnen, dass die Besucherzahlen der Privataktionäre weiter schrumpfen werden. Für die Legitimation eines HV-Beschlusses kommt es jedoch nicht auf die Anzahl der Besucher vor Ort an. Wichtig ist hier der Prozentsatz der Aktien am Grundkapital, die an der Beschlussfassung teilgenommen haben.
Kann man also auf die Privataktionäre als HV-Besucher verzichten? Gerade für B2C-Unternehmen bietet die HV weiterhin eine attraktive Möglichkeit, Multiplikatoren für seine Produkte anzusprechen. Im Rahmen von Kapitalmaßnahmen oder bei drohenden Kampfabstimmungen, z.B. im Rahmen von Übernahmesituationen, können die Privataktionäre mit ihren Stimmrechten für die Gesellschaft das Zünglein an der Waage sein. Unternehmen sind also gut beraten, die Gruppe der Privataktionäre nicht zu vernachlässigen. Kümmert man sich als Gesellschaft erst dann um die Privatanleger, wenn man sie dringend braucht, kann es zu spät sein.
Fazit
Eine kontinuierliche Pflege auch der vielleicht auf den ersten Blick unwichtig erscheinenden Privatanleger kann sich als gute Investition erweisen. Ob die Ansprache dieser Zielgruppe dann jedoch im klassischen Format der eher formalistisch-rechtlichen HV oder zielgruppenspezifischer im Rahmen von Privataktionärstagen wie etwa beim Flughafen Wien oder speziellen Aktionärsevents, die z.B. der Zoologische Garten in Berlin anbietet, geschieht, muss jedes Unternehmen für sich entscheiden.
Autor/Autorin
Bernhard Orlik
Bernhard Orlik begleitet seit 1995 Hauptversammlungen. Zunächst nur in Deutschland, erwarb er sich auch anerkannte HV-Expertise in Österreich und Luxemburg. Er hat zahlreiche DAX- und ATX-Werte bei einfachen und problematischen Hauptversammlungen beraten. Neben der organisatorisch-technischen Begleitung der Hauptversammlung leitete Bernhard Orlik ein Vielzahl von Versammlungen auch als externer Versammlungsleiter.
Er publiziert regelmäßig zu aktuellen Hauptversammlungsthemen und ist Referent bei Fachseminaren. Vor seiner Vorstandstätigkeit bei der HCE Consult AG war Bernhard Orlik im verantwortlichen Management bei der HCE Haubrok AG, der Link Market Services GmbH und zuletzt als Head of Client Services bei Computershare Deutschland.