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Um es vorwegzunehmen: Das überkommene Modell der Hauptversammlung, das vor allem bei großen börsennotierten Gesellschaften aufgrund der oft quälend langen und als unproduktiv empfundenen Rede- und Frageblöcke für große Unzufriedenheit sorgt, ist insgesamt reformbedürftig. Ernsthaftes politisches Interesse an einer größeren Reform war in den letzten Jahren aber nicht festzustellen. Daher war es umso wichtiger, dass die pandemiebedingte Notgesetzgebung zur virtuellen Hauptversammlung einen besonderen Anlass für dauerhafte Reformschritte gab. Nach dem berechtigten Wunsch vieler Beteiligter hätte eine Reform freilich nicht auf das Format der virtuellen Hauptversammlung beschränkt werden sollen. Von weiteregenden Reformschritten ist im aktuellen Gesetzgebungsverfahren jedoch keine Rede und insoweit muss man mit Bedauern feststellen: Chance verpasst! Und selbst der am 27.04.2022 vorgestellte Regierungsentwurf zum Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen ist vor allem in Emittenten-nahen Kreisen auf viel Kritik gestoßen. Die Rede ist von einem „Rückschritt“ und vom „Ende der virtuellen Hauptversammlung“. Wie konnte es dazu kommen und wie berechtigt ist die Kritik?

Der Referentenentwurf aus dem Bundesjustizministerium vom 09.02.2022 war stark geprägt von der pandemiebedingten Notgesetzgebung zur virtuellen Hauptversammlung und folgte unausgesprochen der These, dass Aktionärsrechte im Rahmen virtueller Hauptversammlungen nicht zwingend analog zu den Rechten in der Präsenzversammlung ausgestaltet sein müssen. Dazu gab es freilich schon immer viele Gegenstimmen, die sich im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zu Wort gemeldet und zumindest zum jetzigen Stand durchgesetzt haben. Möglicherweise wurde (auch in Pandemiezeiten) zu viel über konkrete Details und zu wenig über die grundsätzliche Frage diskutiert, wie im digitalen Zeitalter der Wunsch nach Effizienz und kostenersparender Organisation von Hauptversammlungen mit dem Grundsatz des Aktiengesetzes versöhnt werden kann, nach dem die Aktionäre ihre Rechte ausschließlich in der Hauptversammlung ausüben.

Ganz gleich wie das Gesetzgebungsverfahren endet: Über die Akzeptanz des Formats der künftigen virtuellen Hauptversammlung werden vor allem die großen institutionellen Investoren und Vermögensverwalter entscheiden. Und wenn das vom Gesetzgeber vorgezeichnete Modell bei diesen Aktionärsgruppen „durchfällt“? Dann bleibt immer noch die „Reform der Reform“, hoffentlich dann verbunden mit der erneuten Chance auf eine dringend benötigte umfassende Reform des Rechts der Hauptversammlung.

Autor/Autorin

Dr. Thomas Zwissler

Rechtsanwalt Dr. Zwissler berät bei gesellschafts-, bank- und kapitalmarktrechtlichen Fragen sowie in allen Fragen der Unternehmensfinanzierung.

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