Als wissenschaftliches Feld längst den Kinderschuhen entwachsen, ist Behavioral Finance, die Frage nach den verhaltensbasierten Wirkmechanismen im Anlagegeschäft, aktueller denn je. Eine Vielzahl neuer, digitaler Anbieter verschärft den Wettbewerb um Retailkunden und zwingt etablierte Finanzdienstleister zur weiteren Differenzierung. Hier bietet Behavioral Finance Potenziale. 

Der Börsenhype von 2020 hat bei vielen Privatanlegern im Nachhinein für reichlich Katerstimmung gesorgt. Zahlreiche Hype-Aktien haben in den zuletzt sehr volatilen Monaten eine Bruchlandung hingelegt. Derweil erleben totgesagte Industrien eine Renaissance. Es zeigt sich einmal mehr: Viele Individuen am Kapitalmarkt verhalten sich nicht rational im Sinne der klassischen Kapitalmarkttheorie.

Behavioral Finance beleuchtet wissenschaftlich das Verhalten von Anlegern – wie Entscheidungen zustande kommen, welche psychologischen Mechanismen wirken und wie Fehleinschätzungen entstehen und sich wiederholen. Es werden Phänomene untersucht wie die Angst, eine Kursentwicklung zu verpassen, unter Finanzleuten „fear of missing out“ (FOMO) genannt, was sich etwa zeigt in Panikverkäufen sowie Blasenbildungen. Im Fokus der Anlegerentscheidungen stehen oft kognitive und emotionale Neigungen, die eine effiziente Kapitalanlagestrategie einschränken bzw. in ihrer Umsetzung erschweren können.

Beratung statt Preiskampf

Daraus ergeben sich für Banken und Kapitalanlagegesellschaften Herausforderungen wie Chancen. Während sich in einem fortlaufend von Regulierung geprägten Geschäftsumfeld eine Differenzierung zunehmend schwieriger gestaltet, helfen gerade Ansätze, die die Neigungs- und Verhaltensparameter von Anlegern mit einbeziehen, sich zu unterscheiden. Digitale Broker mit beratungsfreien Varianten bieten seit einigen Jahren sehr kostengünstige Alternativen zur klassischen beratungsbasierten Kapitalanlage von Banken; sie werden mit zunehmender Digitalaffinität der Anleger auf wachsende Kundschaft hoffen können.

Es stellt sich nun die Frage: Wie können sich etablierte Anbieter von den Herausforderern abgrenzen? Hier kann eine zunehmende Personalisierung des (Betreuungs-)Angebots eine Antwort sein. Insbesondere unter Einbezug von Aspekten der Behavioral Finance können Angebote erstellt werden, die merklich den Kundennutzen steigern. Hierzu gehören ein spezifisches Betreuungs-, Interaktions- und Informationskonzept, welches das individuelle Investorenverhalten adressiert. Dies umfasst beispielsweise eine kurzfristig engere Betreuung der sprunghaften Anleger in Phasen hoher Volatilität oder eine kaskadierende Depotstruktur zur Abbildung von „mental accounting“. Mehrwerte für die Anleger können hierbei in einer besseren, weil individuelleren Betreuung bestehen. Diese Mehrwerte lassen sich auch konkret in statistisch erwiesenen höheren Renditen darlegen.

Verhalten optimieren

Ziel der Beratung der Anleger – ob persönlich oder durch eine technische Lösung – ist die Optimierung ihres Verhaltens. Entscheidend ist dabei beispielsweise die Schließung des „Behavioral Gap“: ein messbarer Renditereduktionseffekt durch das Abweichen von der ursprünglichen Anlagestrategie. Vor allem bei risikoaverseren Kunden in Mitteleuropa, welche die Volatilität der Finanzmärkte eher fürchten, kann es großen Nutzen stiften, Privatanleger in turbulenten Börsenzeiten beratend an die Hand zu nehmen.

Autor/Autorin

Florian Forst

Florian Forst ist Partner und Leiter der Financial Services Practice von Arthur D. Little in Zentraleuropa und beschäftigt sich mit Innovation und Digitalisierung im Kundengeschäft von Banken.