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Der Begriff der Nachhaltigkeit ist differenziert zu betrachten, mahnt Kay Bommer. Nicht alles könne „grün“ sein im klassischen Sinne. Ein Gespräch über ,,Best-in-class“-Ansätze, die Bedeutung der ESG-Funktion in Unternehmen und den Aufgaben von IR in Zeiten multipler Herausforderungen.

GoingPublic: Wir leben in bewegten Zeiten! Neben dem gewohnten Auf und Ab der Märkte musste und muss sich Investor Relations mit so heftigen Ereignissen wie Corona, Krieg oder auch der nachfolgenden Energiekrise auseinandersetzen. Sind diese Themen und die oft unerwarteten Folgen für die Unternehmen überhaupt noch kommunizierbar?
Bommer: Es sind bewegte Zeiten, das stimmt – aber gerade in diesen zeigt sich ja auch die Bedeutung von Investor Relations. Es geht nicht nur darum, Zahlen und Fakten korrekt darzustellen, sondern auch darum, sich rapide ändernde Geschäftsmodelle zu erklären. Klimafragen und Nachhaltigkeitsthemen geraten immer mehr in den Vordergrund.

Ihre Antwort klingt nüchtern. Gerade kleinere IR-Abteilungen oder auch Einzelkämpfer dürften angesichts der multiplen Krisenlage doch eher im Ausnahmezustand sein.
Ja, teilweise schon. Das ist gerade der Unterschied zum normalen konjunkturellen Auf und Ab der Märkte. Ereignisse wie die Pandemie oder der Krieg haben Auswirkungen, mit denen keiner auch nur im Entferntesten gerechnet hat. Die Luftfahrtbranche oder die Rüstungsindustrie sind da nur zwei prominente Beispiele.

Und dies, obwohl nach der EU-Taxonomie eher nachhaltige Industrien und Unternehmen bei Investoren gefragt sind oder noch sein werden, wenn die CSRD der EU dann sukzessive für rund 15.000 Unternehmen allein in Deutschland relevant wird.

Der Begriff „Nachhaltigkeit“ ist differenziert zu betrachten. Nicht alles kann „grün“ sein im klassischen Sinn. Es gab schon immer Nachhaltigkeitsinvestoren, die auch in Werte investierten, die „grüner“ sind als andere Unternehmen derselben Branche. Auch in den Bereichen Soziales oder Corporate Governance gibt es eben nicht nur Schwarz und Weiß, sondern vielzählige Schattierungen von Grau.

Ausschlussverfahren beim Investieren, bei denen ganze Branchen per se als nicht investierbar gelten, etwa Rüstung, Tabak, Pornografie oder Öl, sind jedenfalls nicht mehr die Regel.

Wie geht die Auswahl denn heute?
Investoren schauen vor allem auf die Kriterien für sogenannte Artikel-acht- und Artikel-neun-Fonds in der EU-Taxonomie-Definition. Bei ersteren geht es darum, welche Unternehmen in einer an sich „schmutzigen“ Branche die besten oder zweitbesten in Sachen Nachhaltigkeit sind. Es geht um „Best of Class“ im Vergleich mit den Wett­bewerbern. Es bleibt ja so: Am Ende zählt die Rendite. Aussortiert wird davor – ein Unternehmen wird dauerhaft keine Chance haben, wenn es nicht die Anforderungen der Investoren, Kunden, Mitarbeiter und sonstiger Stakeholder an die Nachhaltigkeit beim eigenen Wirtschaften erfüllt.

Welche Veränderungen haben Sie in der Investor-Relations-Arbeit der vergangenen zwei Jahre beobachtet? Haben sich IR und PR angenähert, wachsen sie zusammen?
Diese beiden Funktionen sind schon seit Langem eng verzahnt. Sie können nicht in PR eine andere Geschichte erzählen als in IR. Das ging früher bereits nicht, in Zeiten des Internets ist es unmöglich. Wir sehen neuerdings, dass noch ganz andere Bereiche zusammenwachsen, Treasury und IR z.B. oder auch die Nachhaltigkeitsfunktion. Die ESG-Beauftragten gehören oft zum erweiterten Investor-Relations-Team.

es kann nicht alles auf einmal grün sein, von heute auf morgen. Investoren finden entsprechend auf die Schnelle gar nicht genügend „echt grüne“ Anlagen

Apropos: ESG war und ist bei Unternehmen häufig auch wegen des dadurch entstandenen und entstehenden zusätzlichen Aufwands Thema … Wie kommen die Unternehmen mit den ESG-Reportings in der Praxis zurecht?
Manches kommt ein wenig vehement und übertrieben daher. Wie gesagt – es kann nicht alles auf einmal grün sein, von heute auf morgen. Investoren finden entsprechend auf die Schnelle gar nicht genügend „echt grüne“ Anlagen. Ich prognostiziere in diesem Zusammenhang vielmehr, dass die sogenannten Artikel-acht-Fonds Zulauf bekommen werden, da es viel zu wenige Artikel-neun-fähige Investments gibt.

Sie sprechen die Taxonomie-Verordnung der EU an. Diese verpflichtet die Finanzindustrie zur Klassifizierung ihrer Investmentprodukte; es gibt solche ohne Berücksichtigung von Nachhaltigkeitskriterien (Artikel-sechs-Investmentinstrumente), solche, die ökologische und soziale Kriterien bewerben (Artikel-acht-Fonds), und solche, die explizit nur nachhaltige Investitionen tätigen (Artikel-neun-Fonds). Diese sollten doch im Idealfall die begehrtesten Investitionsvehikel sein.
Theoretisch, ja – aber es bleibt dabei, dass nicht alle Investments von heute auf morgen plötzlich Artikel-neun-fähig sein können. Es wird zu einer Differenzierung kommen, gemäß dem Best-in-Class-Ansatz, in der man die relative ESG-Performance der Unternehmen innerhalb einer Branche bewertet. Davon profitieren dann Artikel-acht-Fonds eher.

Es wird zu einer Differenzierung kommen, gemäß dem Best-in-Class-Ansatz, in der man die relative ESG-Performance der Unternehmen innerhalb einer Branche bewertet

Gibt es angesichts der Sustainability-Debatte eigentlich Themen, die in IR durchs Raster fallen, weil alles sich um ESG, um Nachhaltigkeit kümmert?
Nein, durchs Raster fällt nichts, aber es ist manchmal eben auch eine Frage der Gewichtung. Natürlich bietet der Kapitalmarkt einen geeigneten Hebel, um das wichtige Thema des nachhaltigen Wirtschaftens umzusetzen. Ich warne jedoch davor, noch mehr aufs Tempo zu drücken, sonst bewirken der gute Wille und die guten Ansätze das Gegenteil. Daher bitte ich darum: Lassen Sie uns das Augenmaß behalten und nicht übertreiben, was die Berichterstattung und die Pflichten dazu angeht – dann kann der Wandel im Sinne aller Beteiligten ein Erfolg werden.

Wo wird denn übertrieben?
Das kann ich am besten mit Beispielen beantworten. Nehmen Sie mal die Befesa S.A., die u.a. giftige Industrieabfälle recycelt. Beim vermeintlichen Rohstoff „giftige Industrieabfälle“ kommen Sie mit herkömmlichen Anforderungen an nachhaltige Lieferketten nicht weiter, obwohl es kaum nachhaltigeres Tun gibt, als Gifte zu entsorgen.

E-Lieferwagen der Deutschen Post DHL fahren im Winter mit Allwetter- oder Winterreifen, die mehr Abrieb erzeugen als die E-Lieferwagen der spanischen Post, die das ganze Jahr über mit Sommerreifen fahren. Sind in Deutschland fahrende E-Autos deshalb nicht nachhaltig?

Oder ein anderes Beispiel: Einige ESG-Ratingagenturen sehen in dem in Deutschland geltenden Streikrecht ein Risiko für die wirtschaftliche Performance von Unternehmen – mit der Folge von Abzügen im Corporate-Governance-Rating für deutsche Unternehmen.

Weiteres Beispiel: E-Lieferwagen der Deutschen Post DHL fahren im Winter mit Allwetter- oder Winterreifen, die mehr Abrieb erzeugen als die E-Lieferwagen der spanischen Post, die das ganze Jahr über mit Sommerreifen fahren. Sind in Deutschland fahrende E-Autos deshalb nicht nachhaltig?

Die politische Frage, ob man Atomkraft als nachhaltig einstuft – wie es die EU-Taxonomie tut – oder nicht, möchte ich hier gar nicht stellen.

Sie sehen, es gibt noch Widersprüche und Absurditäten, die es aufzulösen gilt.

Das „S“ in den ESG-Kriterien ist dem Vernehmen nach für Unternehmen oft am schwersten umzusetzen.
Das „S“ in ESG hinkt nach meiner Wahrnehmung noch ein wenig hinterher. Zuerst war es das „G“ für Governance, welches die ganze Aufmerksamkeit bekam. Aktuell wird ein starker Fokus auf das „E“ für Environmental, also ökologisches, umweltgerechtes Vorgehen gelegt. Das Lieferkettensorgfaltsgesetz ist aber ein Beispiel dafür, dass das „S“ stetig an Bedeutung gewinnt.

Abschließend würde ich gerne noch einen Blick „inside“ IR werfen. Wer macht eigentlich schwerpunktmäßig IR? Woher kommen die Experten?
In unserem Studiengang zum CIRO – Certified Investor Relations Officer begegnen wir zu etwa 35% Wirtschaftswissenschaftlern, etwa ebenso viele Teilnehmer haben einen Kommunikationshintergrund. Dazu kommen einige Juristen und vereinzelt Naturwissenschaftler. Es gibt aber auch hervorragende IR-Beauftragte aus praktisch allen Bereichen, selbst Theologen und Historiker sind dabei.

IR-Beauftragte müssen – etwas flapsig ausgedrückt – eine eierlegende Wollmilchsau sein: faktisch fit, kommunikativ stark, offen nach außen und gleichzeitig nach innen in der Lage, zu beraten, auch mit Rückgrat und ohne Scheu vor den Führungsfunktionen im Unternehmen

Was müssen Kandidatinnen und Kandidaten fürs IR-Management idealerweise mitbringen?
IR-Beauftragte müssen – etwas flapsig ausgedrückt – eine eierlegende Wollmilchsau sein: faktisch fit, kommunikativ stark, offen nach außen und gleichzeitig nach innen in der Lage, zu beraten, auch mit Rückgrat und ohne Scheu vor den Führungsfunktionen im Unternehmen.

Warum betonen Sie das Rückgrat nach innen?
Weil man Nach-innen-Sagen können muss, wenn etwas nicht oder schiefläuft bzw. der Markt anderes sagt und fragt als vom eigenen Vorstand erwartet. Zudem wandelt sich das Berufsbild ständig. Analysten und Investoren fragen heute viel seltener nach ganz konkreten Einzelzahlen: Stattdessen löchern sie die Vorstände nach Trends der Branche, der Stimmung an bestimmten Märkten, ihren Prognosen für die wirtschaftliche Lage in bestimmten Regionen der Welt und auch allgemein. Auch darauf müssen IRler ihre Geschäftsführung vorbereiten, ihr Ohr immer am Markt haben und die gewonnenen Sentiments nach innen tragen.

Zum Job gehört definitiv nicht nur die Vielseitigkeit, sondern auch der stete Wandel!

Es hört sich jedenfalls nach einer sehr abwechslungsreichen Tätigkeit an. Herr Bommer, herzlichen Dank für Ihre Zeit und die Einblicke in die IR-Branche.

Das Interview führte Simone Boehringer.


Zum Interviewpartner

Kay Bommer (Rechtsanwalt, MBA) ist – mit einer Unterbrechung von 2011 bis 2012 – seit 2001 Geschäftsführer des DIRK – Deutscher Investor Relations Verband. Zudem ist er in Bei- und Aufsichtsräten innovativer Kapitalgesellschaften vertreten und nimmt Lehraufträge für Kapitalmarktrecht und Unternehmenskommunikation an renommierten Universitäten wahr.

Autor/Autorin

Simone Boehringer

Simone Boehringer ist die Redaktionsleiterin "Kapitalmarktmedien" der GoingPublic Media AG.