Bildnachweis: Robert Kneschke_AdobeStock.

Am 31. Juli 2023 wurde der finale delegierte Rechtsakt der EU-Kommission zu den künftig verpflichtend anzuwendenden European Sustainability Reporting Standards (ESRS) von der EU-Kommission angenommen und veröffentlicht. Große ­börsennotierte Gesellschaften beschäftigen sich seit geraumer Zeit mit der Implementierung der Standards, auch wenn ­diese bis vor Kurzem nur als Entwurf vorgelegen haben und daher zumindest in Teilen ein Moving Target darstellten. Für alle nicht börsennotierten großen Kapitalgesellschaften wird erstmals über das Geschäftsjahr 2025 zu berichten sein. ­Diesen Gesellschaften bleiben – sofern man ab dem 1. Januar 2025 ready to record sein möchte – weniger als eineinhalb Jahre Zeit zur ­Implementierung.

Herauszufinden, über welche Nachhaltigkeitsaspekte zu berichten ist, um daraus u.a. Datenpunkte zu identifizieren, Inputvariablen sowie Prozesse und Kontrollen zu definieren, ist im ersten Schritt die Aufgabe der Wesentlichkeitsanalyse. Ziel dieses Beitrags ist es, ­einen Überblick über die Vorgehensweise zur Bewertung der Wesentlichkeit zu ­vermitteln.

Wann ist ein Nachhaltigkeitsaspekt wesentlich?

Den ESRS liegt das Konzept der doppelten Wesentlichkeit zugrunde. Ein Nachhaltigkeitsaspekt ist zum einen dann wesentlich, wenn sich die Unternehmenstätigkeit positiv oder negativ, potenziell oder tatsächlich im Hinblick auf diesen Aspekt auf Menschen oder die Umwelt wesentlich auswirkt („Impact Materiality“). Welche Themen relevant sind, ist unternehmensspezifisch zu betrachten. Die Themen­felder reichen von Auswirkungen auf den Klimawandel über Aspekte der Biodiver­sität bis hin zur eigenen Belegschaft und darüber hinaus. Für die Wesentlichkeitsbeurteilung sind die verschiedenen Auswirkungen durch das Unternehmen untereinander zu spiegeln.

Zusätzlich ist ein Nachhaltigkeits­aspekt unter dem Gesichtspunkt der ­finanziellen Wesentlichkeit zu berichten, wenn dieser wesentliche finanzielle Auswirkungen auf das Unternehmen nach sich zieht und entsprechend davon auszu­gehen ist, dass sich diese Informationen auf Entscheidungen von Adressaten der Finanzberichterstattung auswirken können („Financial Materiality“).

Selbstverständlich stehen die Impact Materiality und die Financial Materiality nicht isoliert nebeneinander, sondern werden in den meisten Fällen verknüpft sein. So tragen beispielsweise Treibhausgasemissionen als Auswirkung zur Klimaerwärmung bei und führen als Risiko zu einer Kostensteigerung aufgrund der Ausweitung des Emissionshandelssystems.

Vorgehensweise zur Wesentlichkeitsbeurteilung im Überblick

1. Transparenz schaffen

Erster Schritt ist die Schaffung einer Transparenz und eines Verständnisses über die Zusammenhänge der Tätigkeiten des Unternehmens im Lichte der Auswirkungen auf Nachhaltigkeitsaspekte. Es bietet sich beispielsweise an, die Tätigkeiten und Geschäftsbeziehungen des Unternehmens anhand der Wertschöpfungskette und geografischen Ausbreitung zu analysieren. Startpunkt können die Inputfaktoren wie Rohstoffe, Energie, Zulieferer oder Arbeitnehmer bilden. Die Geschäftsaktivitäten und Produkte als Outputs führen ­ihrerseits zu Auswirkungen auf Mensch oder Umwelt. Zudem bedarf es, die Belange der Stakeholder zu berücksichtigen.

2. Auswirkungen identifizieren

Im zweiten Schritt sind die tatsächlichen und potenziellen Auswirkungen (sowohl negativer als auch positiver Art) des ­Unternehmens auf die einzelnen Nachhaltigkeitsaspekte dem Grunde nach zu ­ermitteln. Anhaltspunkte bieten die in den ESRS aufgeführten Themenlisten, aber vor allem Informationen aus dem Unternehmen oder an das Unternehmen heran­getragene Aspekte selbst. So steht der Vertrieb in ständigem Austausch mit den Kunden und die Geschäftsführung mit den Eigentümern des Unternehmens. Selbstverständlich sollen auch die Erkenntnisse aus zuvor erstellten Wesentlichkeitsanalysen Eingang finden.

3. Komplette Wertschöpfungskette und Stakeholder berücksichtigen

Die Erwartung ist, alle relevanten Informationen aus den Due-Diligence-Prozessen des Unternehmens zu Nachhaltigkeits­aspekten zu berücksichtigen wie beispielsweise auch die Auswirkung der Produkte bis zum Ende deren Nutzungsdauer – auch unter Berücksichtigung der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette. Branchenanalysen und wissenschaftliche Studien können helfen, weitere Auswirkungen zu identifizieren. Empfehlenswert ist an dieser Stelle ein sehr strukturiertes Vorgehen, um nicht in der Vielzahl potenzieller Themen den Überblick zu verlieren und rechtzeitig zu fokussieren bzw. zu ­aggregieren. Wichtige Impulse können auch Stakeholder im Rahmen von Befragungen geben. Hier zählt in der Regel eher Klasse statt Masse und die Durchführung persönlicher Gespräche anstatt bloßer Fragebögen.

4. Auswirkungen bewerten

Abschließend ist der „Schweregrad“ der jeweiligen Auswirkung zu bewerten und es sind Schwellenwerte zu definieren, ab wann über einen Nachhaltigkeitsaspekt zu berichten ist. Die aktuelle Praxiserfahrung zeigt, dass die ESRS bei der Bewertung der Wesentlichkeit großen Spielraum lassen. Die Komplexität sollte dabei aufgrund der Mehrdimensionalität nicht ­unterschätzt werden. Einerseits fordern die ESRS eine Unterscheidung zwischen positiven und negativen sowie potenziellen und tatsächlichen Auswirkungen, anderer­seits müssen diese diversen Auswirkungen wiederum nach Ausmaß, Umfang und im Falle von negativen Auswirkungen ­anhand der „Unabänderlichkeit“ bewertet werden. Dies führt in der Praxis zwangsläufig zu einem komplexen Bewertungsverfahren, dessen Ergebnisse abschließend gegeneinander abgewogen und noch­mals kalibriert werden sollten.

Quelle: WTS Advisory

5. Outside-in-Betrachtung

Hinsichtlich der Bewertung der finanziellen Auswirkungen kann sicherlich Anleihe beim bisherigen Risikomanagement genommen werden. Einen guten Rahmen bildet das COSO Framework mit der Risiko­priorisierungsmatrix. Erfahrungsgemäß deckt das Risikomanagement bei Unternehmen oftmals nicht mittel- und langfristige Zeithorizonte in Bezug auf Nachhaltigkeits­aspekte ab. Zu berücksichtigen sind beispielsweise langfristige Abhängigkeiten von natürlichen oder sozialen Ressourcen. Auch physische Klimarisiken spielen eine zunehmende Rolle mit Auswirkungen auf Vermögenswerte des Unternehmens oder die Lieferkette. Die Wesentlichkeitsanalyse bietet hier die Gelegenheit, ins­besondere über eine Anpassung des ­Risikomanagements im Hinblick auf Nachhaltigkeitsaspekte nachzudenken. Ein strukturiertes und vor allem dokumentiertes Chancenmanagement ist ohnehin meist nicht vorzufinden.

6. Widersprüche vermeiden und ­Synergien schaffen

In jedem Fall sollten sich keine Widersprüche zwischen den hier identifizierten und den im Lagebericht kommunizierten Risiken sowie deren finanzieller Berücksichtigung in der kurz-, mittel- und langfristigen Unternehmensplanung ergeben. In Zusam­men­hang mit der EU-Taxonomie sind ebenfalls Klimarisiken und Menschenrechtsthemen zu analysieren und damit auch Synergien für die Berichterstattung zu heben.

Grundsätzlich unterliegt die Beurteilung jeden in den ESRS aufgeführten Themas nur dann einer Berichtspflicht, wenn ­dieses als wesentlich erachtet wird. Allerdings scheint kaum ein Szenario denkbar, in dem das Thema Klimawandel als nicht wesentlich zu betrachten wäre; schon aufgrund des politischen Interesses, aber auch jenes der Stakeholder. Ähnliches gilt für die eigene Belegschaft.

Wesentlichkeitsanalyse als Chance

Auch wenn die Anforderungen an die Nachhaltigkeitsberichterstattung und Wesentlichkeitsanalyse mancherorts als notwendiges Pflichtprogramm verstanden werden, so sind damit auch erhebliche Chancen verbunden, Risiken frühzeitiger zu identifizieren, das Unternehmen resilienter aufzustellen und Strategien rechtzeitig ­abzuleiten, die besser an die veränderten ökonomischen, gesellschaftlichen und klimabedingten Änderungen angepasst sind.

Autor/Autorin

Dr. Christian Herold

Dr. Christian Herold ist Partner bei der WTS Advisory am Standort Frankfurt und berät Unternehmen bei der Implementierung der ESRS und EU-Taxonomie.