Bildnachweis: Siemens AG, Siemens AG.

Kaum zu glauben, dass Präsenzhauptversammlungen noch vor drei Jahren Pflicht
und virtuelle Beteiligungsmöglichkeiten lediglich ein freiwilliges Zusatzangebot
waren. So sehr hat die Pandemie unser aller Leben und Arbeiten und nicht zuletzt die
Hauptversammlungswelt geprägt, dass man auf die Präsenzversammlung wehmütig
zurückblickt wie auf die gute alte Zeit. Ein Detailblick auf die Siemens-HV 2023.

Siemens in Präsenz war eine der größten Hauptversammlungen in Deutschland. Etwa 8.000 Personen, große und kleine Olympiahalle in München, zum Teil gesonderte Cateringzelte, zwei große Zugangsbereiche mit jeweils einem Dutzend Zugängen, Sicherheitsschleusen, unzählige Verpflegungsstationen, Vor-Ort-Präsentationen von Innovationen, Investor-Relations- Bereich, Präsenzterminals, gesonderter barrierefreier Bereich für körperlich beeinträchtigte Personen – hier wurde das gesamte Programm einer Groß-HV aufgefahren. Da sich bei Siemens aufgrund des vom Kalender abweichenden Geschäftsjahrs der sonst eher unübliche Termin Ende Januar/Anfang Februar ergab, konnten sich nicht nur sämtliche branchenbekannte Aktionärinnen und Aktionäre, sondern auch sämtliche HV-Dienstleister hier ein Stelldichein geben. Bei Würstel mit Senf wurden Klatsch und Tratsch, Neuigkeiten und Anekdoten ausgetauscht.

Diese Randaspekte vermag eine virtuelle HV natürlich nicht vermitteln – umso spannender, ob und wie das hier gewählte Format die Teilhaberechte der Aktionäre am 9. Februar dieses Jahres umzusetzen vermochte.

Die virtuelle Hauptversammlung nach § 118a Aktiengesetz (AktG) setzt gegenüber der virtuellen Hauptversammlung nach COVID-Gesetz erweiterte Beteiligungsmöglichkeiten voraus. So ist insbesondere das Rede- und Fragerecht wesentlich erweitert und der Präsenzversammlung angenähert. Gänzlich neu sind vor allem das Recht zur Vorabübersendung von Stellungnahmen und die Option, Fragen bereits im Vorfeld zuzulassen und auch zu beantworten. Während Stellungnahmen im Rahmen der virtuellen HV verpflichtend sind, kann die Gesellschaft frei entscheiden, ob sie Vorabfragen zulassen will und dann auch vorab beantworten muss oder ob sie die Fragerunde ausschließlich im Rahmen der Versammlung selbst gestaltet.

Keine Erweiterung des Fragerechts
Von einer Erweiterung des Fragerechts über den Tag der Versammlung hinaus hat die Siemens AG abgesehen. Vermutlich dürften die Erwartungen an eine Entlastung der Debatte durch Vorabbeantwortung eher zurückhaltend gewesen sein. Bislang ist auch nicht ersichtlich, dass andere Gesellschaften diese Option genutzt hätten. Es könnte sich durchaus herausbilden, dass diese Möglichkeit ebenso wenig Anwendung findet wie etwa das Aktionärsportal des Bundesanzeigers oder die Geschäftsordnung der Hauptversammlung.

Stellungnahmen konnten über eine E-Mail-Adresse eingereicht werden, ähnlich wie Gegenanträge; das Aktionärsportal wurde hierzu nicht eingesetzt. Nach der HV waren die Stellungnahmen auch gleich wieder verschwunden.

77.000 Aktionäre angemeldet – 4.500 zugeschaltet
Da Siemens bereits seit jeher über Namensaktien verfügt, war der Zugang zum Portal über die Aktionärsnummer und das persönliche Kennwort unkompliziert. Angemeldet zur Hauptversammlung waren insgesamt 77.188 Aktionäre bzw. Aktionärsvertreter, davon waren in der Spitze nach Angaben des Unternehmens bis zu 4.500 Teilnehmer tatsächlich zugeschaltet. Technische Schwierigkeiten, wie zuletzt zur virtuellen Hauptversammlung von Siemens Energy, waren nicht zu vermelden.

Siemens HV anno 1983: Aufgrund ständig steigender Besucherzahlen wurde die Hauptversammlung erstmals in die Münchner Olympiahalle verlegt.

Aufsichtsratsvorsitzender Jim Hagemann Snabe eröffnete die Versammlung und stellte die Vorteile des aktuellen virtuellen Formats aus seiner Sicht dar. Mit der Hauptversammlung 2023 würden die wichtigsten Vorteile einer Präsenzversammlung in ein virtuelles Format überführt. Ordnungsgemäß angemeldete Aktionäre und ihre Vertreter hätten alle Rede-, Auskunfts- und Antragsrechte. Das digitale Format ermögliche mehr Personen, ohne großen Aufwand dabei zu sein und sich aktiv zu beteiligen. Zugleich werde die persönliche Gesundheit aller Beteiligten geschützt.

Noch zur ordentlichen Hauptversammlung 2022 hatte er persönlich sehr bedauert, die Hauptversammlung erneut virtuell durchführen zu müssen: „Nach zwei Jahren voller Einschränkungen infolge der Pandemie hätte ich mir ein persönliches Treffen mit unseren Aktionärinnen und Aktionären gewünscht – einschließlich der Lebhaftigkeit einer Debatte mit vor Ort anwesenden Teilnehmern.“

Verbot von Aufnahmen – ein Relikt aus alter Zeit
Die Eröffnung der Versammlung und der Bericht des Aufsichtsrats erfolgten klassisch durch ein fixes, gelegentlich wechselndes Kamerabild auf den Vorsitzenden, der seinen Text vom Teleprompter vortrug. Die Ausführungen zum Zugangsprocedere – die sich an bereits angemeldete Teilnehmer richteten – dürften wohl eher einer höchst vorsorglichen Beratung durch eine renommierte Anwaltskanzlei zuzurechnen sein. Auch das Wortmeldeprocedere inkl. virtuellem Warteraum wurde umfassend dargestellt.

Eher als ein Relikt aus der Zeit der Präsenzversammlung dürfte das ausgesprochene Verbot von Bild- und Tonaufzeichnungen der Versammlung anzusehen sein; nach Sinn und Zweck und auch im Hinblick auf die Durchsetzbarkeit im virtuellen Format erscheint dies zumindest fragwürdig.

Interaktion und Applaus fehlten naturgemäß
Nicht nur beim Bericht des Aufsichtsrats vermisste der aufmerksame Zuseher die Interaktion mit dem Saal: Nach Stellen, an denen im Präsenzformat Applaus zu erwarten gewesen wären, muss nunmehr nahtlos fortgesetzt werden, Stimmung kommt in der virtuellen HV nicht auf. Friedensappell oder Dank an die Mitarbeitenden verpuffen reaktionslos im Cyberspace.

Positiv zu verzeichnen war die Vorstellung der neuen Aufsichtsratskandidatinnen, die mit professionellem Einspielfilm und Synchronübersetzung einen gelungeneren Auftritt zu vermitteln vermochte, als dies zum Teil im Präsenzformat dargestellt wird.

CEO-Rede profitierte vom Format
Auch die Rede des Vorstandsvorsitzenden Dr. Roland Busch konnte vom Format profitieren: Aus einem virtuellen Studio konnte er mittels eingeblendeter Kennzahlen, Bilder und direkt geführter Interviews einen lebendigen Beitrag schaffen, der die Zusehenden an den PC fesselte.

Führten 4.500 zugeschaltete Aktionäre souverän durch diese erste virtuelle Hauptversammlung von Siemens nach neuem Recht: CEO Roland Busch und Jim Hagemann Snabe, Aufsichtsratsvorsitzender des Konzerns.

Aus einem virtuellen Studio konnte er mittels eingeblendeter Kennzahlen, Bilder und direkt geführter Interviews einen lebendigen Beitrag schaffen, der die Zusehenden an den PC fesselte. Nun interessierte, wie die Wortmeldungen und die Aussprache erfolgten. Mit der Wortmeldung wurde der Redner um eine Telefonnummer für die Kontaktaufnahme für etwaige technische Fragen gebeten, die Funktionsfähigkeit seiner Systeme in einem virtuellen Warteraum geprüft und sodann die Redner wie in der Präsenz-HV aufgerufen.

Fragwürdige Nutzungsbedingungen
Die Frage, warum ein Redner bei seiner Wortmeldung den „Nutzungsbedingungen“ zustimmen, sein Handy ausschalten und einen neutralen Hintergrund wählen solle, blieb eher unbeantwortet im Raum stehen. Nach nunmehr fast drei Jahren Pandemie hatten sich allerdings die professionellen HV-Redner wie etwa Daniela Bergdolt von der DSW oder Ingo Speich von Deka Investment auch bereits mit ihrem Set-up auf das digitale Format eingestellt – im Hintergrund waren statt Wohnzimmerschränken mit Gelsenkirchner Barock allenthalben Aufsteller z.B. mit entsprechenden Logos oder aufgeräumte Bürolandschaften zu sehen.

Durch das Vorschalten des virtuellen Warteraums ergaben sich immer wieder Pausen, in denen die Redner zugeschaltet wurden. Dies wurde seitens der Gesellschaft damit begründet, den Aktionären vor ihrer Zuschaltung das Verfolgen der Debatte ermöglichen zu wollen – auch im Präsenzformat ergäbe sich ja eine kleine Pause zwischen Aufruf und Wortbeitrag.

Einige Redner forderten hybride HV
Die meisten Redner äußerten deutliche Kritik am virtuellen Format: Nachdem die Vorstandsrede sehr eindrucksvoll die Strategie des Unternehmens als Verbindung der realen mit der digitalen Welt beschrieben hatte, wurde nicht nur vom Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre e.V., sondern auch seitens der DSW, der SdK und von Deka Investment eine hybride Gestaltung der Hauptversammlung eingefordert.

Vermisst wurden im virtuellen Format die Interaktion zwischen Verwaltung und Aktionären, der Applaus, die Stimmung, der Austausch der Aktionäre untereinander. Die Verwaltung müsse einmal im Jahr aus ihrem Elfenbeinturm kommen, die Bodenhaftung gehe sonst verloren. Auch die konkrete Ausgestaltung wurde hinterfragt, insbesondere der Verzicht auf eine Vorabfragemöglichkeit und -beantwortung wurde vielfach kritisiert.

Dies änderte jedoch nichts an den Stimmergebnissen: Auch der nötigen Satzungsänderung zur Ermächtigung zur rein virtuellen HV wurde mit mehr als 80% zugestimmt. Das gilt zunächst für zwei Jahre – dann muss neu abgestimmt werden.

Simultanübersetzung für englische Beiträge
Aus Sicht der Verwaltung bot das virtuelle Format auch die Möglichkeit der Zuschaltung und Simultanübersetzung von Aktionären aus dem Ausland. So wurden auch englischsprachige Beiträge zugelassen und simultan übersetzt. Neben dem Stimmrecht, dem Rede- und Fragerecht sowie dem Antragsrecht haben Aktionäre auch in der virtuellen Hauptversammlung das Recht auf Einsichtnahme ins Teilnehmerverzeichnis. Das Teilnehmerverzeichnis ist nach dem Aktiengesetz geordnet aufzustellen. Das Ordnungsprinzip des Teilnehmerverzeichnisses der aktuellen Siemens-HV erschloss sich durchaus nicht auf den ersten Blick – weder Alphabet noch Stimmenzahl schienen Ordnungskriterien darzustellen.

Die Frage-und-Antwort-Runden führten zu zahlreichen Wortmeldungen und Fragen sowie dem Schließen der Rednerliste gegen 16:45 Uhr, kurz darauf auch schon dem Ende der Debatte. Eventuelle Unzufriedenheiten mit Antworten dürften sich somit eher in entsprechenden Rügen gegenüber dem Notar als in konkreten Nachfragen wiederfinden. Bei den Erläuterungen des Aufsichtsratsvorsitzenden zu Tagesordnungspunkt acht – Satzungsänderung zur virtuellen HV – zeichneten sich bereits die Kriterien ab, nach denen der Vorstand zwischen Präsenz und virtueller HV entscheiden solle: neben Aktionärsrechten und Gesundheitsschutz vor allem Kosten und Nachhaltigkeit. Damit fällt die Prognose nicht schwer, dass die Ermächtigung ausgenutzt sein und die nächsten zwei Hauptversammlungen erneut rein virtuell erfolgen dürften.

Nach dem recht zügigen Abstimmungsprocedere erfolgte die Ergebnisverkündung. Hierbei beschränkte sich der Versammlungsleiter auf die prozentuale Zustimmungsquote, obgleich aktionärsseitig vollständige Ergebnisverkündung gefordert worden war. Um 17:37 Uhr und damit nach sieben Stunden und 37 Minuten endete die erste ordentliche virtuelle HV der Siemens AG nach § 118a AktG. Sie dauerte damit ähnlich lang wie die früheren Präsenz-HVs, aber länger als die virtuellen Aktionärstreffen während der Coronapandemie.

Gesamtbewertung
Das System der HV am 9. Februar war stabil, etliche Gestaltungen hochprofessionell; an anderen Stellen hätte man sich durchaus mehr Transparenz und Offenheit gegenüber den neuen Möglichkeiten gewünscht. Interaktion, Kontakt, Stimmung, auch Bodenhaftung – all das fehlt im virtuellen Format und wird sich auch nicht ersetzen lassen.

Autor/Autorin

Gastautor Matthias Höreth
Matthias Höreth

Matthias Höreth ist Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkt Hauptversammlung.