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Seine nächste Konzern-HV hätte sich VW-Vorstandschef Oliver Blume wohl im Herbst noch anders vorgestellt. Da lief alles glatt, der Börsengang der Porsche AG in Frankfurt wurde Ende September vor allem gefeiert, von Porsche-Fans, die sowohl für Verbrenner als auch für die E-Variante des wohl beliebtesten Sportwagens der Welt schwärmten. Nur wenige Monate später müssen sich Blume und sein Führungsteam auf der VW-Hauptversammlung rechtfertigen vor der Klima-Community, Anhängern der ,,letzten Generation“ und anderen Kritikern des global produzierenden VW-Konzerns: Warum man in China im Uiguren-Gebiet produzieren lasse, warum man überhaupt noch Verbrenner produziere in so großer Zahl.  Zufahrten zur Aktionärsversammlung in Berlin wurden blockiert. Eine Torte sollte den Aufsichtsrat Wolfgang Porsche treffen.

Klar, Volkswagen, ähnlich wie andere Branchenführer in der Wirtschaft sind Proteste gewohnt, aber die Vehemenz, mit denen diese in und um Hauptversammlungen vorgetragen werden, ist doch neu.

Und während mancher gerade noch dachte, der nach COVID mögliche Umstieg auf virtuelle Formate böte für die Planung und Durchführung von Hauptversammlungen (HVs) genügend neue Herausforderungen, steht ab sofort schon die nächste vor der Tür, die es in sich hat: Mit dem Thema Nachhaltigkeit – neudeutsch auch Environment, Social, Governance (ESG), Corporate Social Responsibility (CSR) oder Sustainability – muss künftig jedes berichtspflichtige Unternehmen einen komplett neuen Komplex verpflichtend auch in seine HV-Organisation und -Berichterstattung integrieren. Und es dabei schaffen, auf Nachfragen aller Art diesbezüglich, möglichst konstruktiv zu reagieren.

Die Devise für Unternehmen kann deshalb nur sein: durch klares ESG-Management Grundlagen schaffen, durch intensive Risikoanalyse Fallstricke vermeiden und durch umsichtige Kommunikation reaktionsbereit auch für Unvorhersehbares auftreten.

Nachhaltigkeit – vom Kann zum Muss

Immer konkreter nehmen der deutsche Gesetzgeber und die EU Unternehmen in die Pflicht: Seit Januar gilt das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, ab 2024 kommt die CSR-Richtlinie der EU hinzu, bereits seit 2021 müssen große Unternehmen gemäß EU-Taxonomie über die Nachhaltigkeit ihrer Geschäftsaktivitäten informieren. Das Zukunftsthema Nachhaltigkeit ist damit vom Nice-to-have zum Must-have, zum verbindlichen Unternehmensziel avanciert – und zum Berichtsthema für die Vorstandsrede jeder HV.

Die Erwartungen von Aktionären, Kunden, Öffentlichkeit und Investoren, die umfassend unterrichtet werden wollen, wachsen. Das Problem: Vorstand und Aufsichtsrat sind ihren Aktionären verpflichtet – und der Umwelt. Aber: Einheitliche Standards und vor allem Best Practices zur Dokumentation und Kommunikation von Nachhaltigkeit im Rahmen der sonstigen Verpflichtungen gibt es bisher nicht, sie sind erst im Entstehen. Das bedeutet für Unternehmen zunächst viel Unsicherheit und Planungsaufwand in Organisation und Finanzmarktkommunikation.

Komplexität nimmt zu

Fest steht, dass Nachhaltigkeit mit all ihren thematischen Facetten – Chancen wie Risiken – künftig auch die jährlich über 500 ordentlichen HVs in Deutschland prägen wird. Deshalb sollten Unternehmen in Planung und Durchführung beides ganzheitlich und beides zusammen angehen: die HV selbst wie auch das Thema Nachhaltigkeit darin – sowohl strategisch-rechtlich und inhaltlich als auch organisatorisch.

Die Vorbereitung beginnt weit im Vorfeld jeder HV. Mit einem systemgestützten Reporting-Workflow schaffen Unternehmen die Grundlage für eine transparente Dokumentation und flexible Berichterstattung zu allen ESG-Themen für die verschiedenen Anspruchsgruppen im Markt.

Konsequenzen für die HV-Planung

Nachhaltigkeit ist nicht nur ein zentrales Zukunfts- und Strategiethema, sondern zugleich komplex, zeitkritisch und – zumindest mittelfristig – unübersichtlich. Neben den Chancen gilt es daher, gerade für die HV-Organisation und -Kommunikation auch mögliche Risiken in den Blick zu nehmen. Versäumnisse oder Fehleinschätzungen in der Vorbereitung von ESG-Themen geben aktivistischen Aktionären taktische Druckmittel in die Hand und öffnen Flanken für öffentliche Kritik.

Umgekehrt kann sich bei umsichtiger Aufbereitung des Themas die Unternehmensführung mit einer Geschäftsstrategie präsentieren, die in ihrer gesamten Wertschöpfungskette krisenresilient ist und Nachhaltigkeitsziele berücksichtigt. Mithilfe von ESG-Aspekten lassen sich so über die HV alle wichtigen Zielgruppen – zu denen neben Aktionären und Investoren auch Kunden, Mitarbeiter, Politik und Medien gehören – direkt und wirksam ansprechen und einbinden.

Neben der strategisch-inhaltlichen Dimension ist auch die nachhaltige Organisation der HV ein zentraler Aspekt in der Planung.

Smart digital – oder bewährt in Präsenz

Post-COVID lautet eine neue zentrale Frage in der HV-Planung: in Präsenz oder virtuell? Mit Blick auf die Integration des Themas Nachhaltigkeit haben beide Formate Licht- und Schattenseiten.

Als umweltschonende und zugleich kostensparende Lösung scheint sich klar die neue virtuelle HV anzubieten. Schon die digitalen Möglichkeiten können bei konsequenter Nutzung den CO2-Fußabdruck einer HV deutlich reduzieren: So lässt sich das gesamte Einladungsmanagement über Web-Applikationen verschlanken. Anreisen und Hotelunterkünfte entfallen ebenso wie große Hallen und Plastikgeschirr für das Catering. Die Teilnehmer werden vom lokalen Bildschirm zugeschaltet, was zugleich barrierefreien Zugang gewährleistet und internationalen Aktionären die Teilnahme ohne Langstreckenflug erleichtert. Der Geschäftsbericht steht als Tablet-Version statt als Papierbibel bereit.

Digitalisierung hat auch einen Preis

Die konsequente Digitalisierung der HV hat aber ihren Preis. Die digitalen Lösungen für HV-Portal, Livestream mit Zugangs- und Rederechtskontrolle, Abstimmungstools und virtuellem Raummanagement sind anspruchsvoll und energieaufwendig. Das gilt insbesondere für die Organisation des Backoffice. Auch diese Expertenrunde kann sich natürlich dank digitaler Technik virtuell versammeln. Doch Achtung: Wo mehr und kritische Aktionärsfragen erwartet werden, sollte das Backoffice umso klarer und schneller reagieren können. Das geht am besten in physischer Präsenz mit ihren kurzen Wegen, eingeübten Routinen und direkten Zurufen.

Zudem begegnen viele Aktionäre dem digitalen Format, zumindest noch, mit Skepsis. Auch und gerade, weil sie ihren Protest nicht so wirksam ausdrücken können; daher ist es eine Gratwanderung, ob und für wie lange man sich in der Hauptversammlung die Durchführung der in dieser Hinsicht ja eher beschränkenden virtuellen HV von seinen Aktionären genehmigen lässt.

Persönlicher Austausch und Präsentation der ESG-Kriterien

Angesichts von Nachteilen der virtuellen Distanz hat die klassische Präsenz-HV weiterhin ihre Fürsprecher. Gerade nach der langen COVID-Zeit wünschen sich viele Aktionäre eine HV mit nahbarer Unternehmensführung und persönlichem Austausch. Den höheren Ressourcenaufwand der Präsenz-HV verstehen Aktionäre dabei durchaus als Akt der Wertschätzung für die Aktionärskultur und damit als nachhaltig. Unternehmen können vor einem Präsenzpublikum ihre Nachhaltigkeitskompetenz nicht nur inhaltlich, sondern auch organisatorisch besser an die Aktionäre vermitteln als aus der virtuellen Distanz – und mit entsprechender Vorbereitung auch auf emotional vorgetragene Aktionärsanfragen souverän und glaubwürdig reagieren.

Welches HV-Format das Thema Nachhaltigkeit am besten integriert – diese Entscheidung trifft jedes Unternehmen individuell nach Größe, konkreten Themen und Kommunikationsbedarf sowie der eigenen Aktionärsstruktur und -kultur. Kleinere HVs sind virtuell tendenziell kostenaufwendiger. Wo ein Unternehmen besonders aktiv auf seine Aktionäre zugehen und sein ESG-Engagement zeigen will, behält die Präsenz-HV ihren Reiz: Denn Nachhaltigkeit wird, wie wir jetzt gerade bei VW wieder sehen konnten, gerne sehr persönlich genommen. Wer hier mit kompetenter und direkter Stakeholder-Kommunikation punkten kann, ist im Vorteil.

Autor/Autorin

Elke Strothmann

Elke Strothmann ist Kommunikations- und Veranstaltungsexpertin und geschäftsführende Gesellschafterin der AAA HV Management GmbH