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Das Vorurteil lautet: Europäische Software-Unternehmen sind gegenüber ihren US-amerikanischen Pendants strukturell unterbewertet – das widerlegt eine Studie von Bryan Garnier & Co.

Die Erhebung ergibt: Werden die üblichen Umsatzmultiples EV/Sales ins Verhältnis gesetzt zum durchschnittlichen erwarteten Wachstum über drei Jahre (CAGR), ergibt sich sogar ein Bewertungsaufschlag von 9%, mit dem die europäischen Software-Anbieter im Vergleich zu ihren US-Mitbewerbern gehandelt werden.

Für die Studie hat Software-Analyst Gregory Ramirez die Entwicklung der Bewertung aller 95 in Europa und 97 in den USA notierten Software-Anbieter zwischen 2006 und 2020 verglichen. Für sie gibt es historische Analysten-Konsensus-Daten von Refinitiv.

Betrachtet man die Umsatz-Multiples oberflächlich, liegen sie bei den US-Anbietern über die letzten 15 Jahre mit 9,9 deutlich über denen ihrer europäischen Mitbewerber mit 5,6. Wenn man jedoch den Börsenwert nicht nur auf Grundlage des einfachen Umsatz-Multiples berechnet, sondern zudem das CAGR berücksichtigt und beides ins Verhältnis zueinander setzt, ergibt sich ein anderes Bild, das die Bedeutung der Umsatzerwartung allein an das jeweils nächste Jahr relativiert.

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Bryan Garnier & Co. verweist auf eine Beispielrechnung: Wenn im April 2021 die Salesforce-Aktie mit einem Umsatzmultiple von 10 (10x erwarteter Umsatz 2022) gehandelt wurde und das erwartete durchschnittliche Umsatzwachstum für 2020 bis 2023 bei 20% liegt, ergibt sich ein Verhältnis von 10 / 0,2 / 100 und die neu ermittelte Kennzahl liegt bei 0,50.

Diese Rechnung hat Ramirez für die letzten 15 Jahre bis April 2021 gemacht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die in Europa notierten Unternehmen sogar höher bewertet werden als die an NASDAQ und NYSE gehandelten Software-Anbieter. Für die Europäer ergibt sich dann eine durchschnittlich um 9% höhere Bewertung als bei ihren US-Mitbewerbern.

Dazu erklärt der Analyst: „Dieses Bild kommt der Realität der Börsenbewertung deutlich näher. Denn durch diese Gewichtung mit der durchschnittlichen Wachstumsrate werden die Multiples normiert und somit die Bedeutung der kurzfristigen Wachstumserwartung für ein einzelnes Jahr relativiert.“

Was die Untersuchung auch zeigt: Die Unterschiede in der Einzelbewertung von in Europa notierten Software-Anbietern sind weitaus höher als die ihrer US-Wettbewerber. Diese große Streuung lässt sich weder durch eine signifikante Anzahl von Verlustunternehmen unter den europäischen Software-Anbietern noch durch die Liquidität ihrer Aktien erklären. Entgegen einem weiteren gängigen Vorurteil seien die am höchsten bewerteten europäischen Software-Aktien keineswegs immer die liquidesten und notierten auch nicht unbedingt an den liquidesten Märkten, betont Ramirez.

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Stattdessen erklären Bryan, Garnier & Co. die Heterogenität der Bewertung der untersuchten europäischen Software-Anbieter mit ihren sehr unterschiedlichen Geschäftsmodellen und Erfolgsbilanzen sowie der jeweils gelebten Corporate Governance. Vor allem der Reifegrad der europäischen Unternehmen sei sehr unterschiedlich, während US-Unternehmen vor einem Börsengang fast immer einen langen Reifeprozess mit zahlreichen Finanzierungsrunden hinter sich haben.

„Damit wird klar, dass der Börsenplatz nicht entscheidend ist für die Bewertung eines Software-Unternehmens. Es geht allein um die Qualität von Geschäftsmodell und Management, Reifegrad und bisherige Erfolgsbilanz“, erklärt Greg Revenu, Managing Partner von Bryan, Garnier & Co. Das sei eine wichtige Erkenntnis, denn für Europäer sei ein Börsengang in den USA in der Regel mit vielen Schwierigkeiten verbunden. „Wenn der Börsenerfolg europäischer Software-Unternehmen letztlich unabhängig ist vom gewählten Börsenplatz, spricht nicht das Geringste gegen ein IPO an einer europäischen Börse.“

Autor/Autorin

GoingPublic Redaktion / iab