Es ist das Jahr des Ausprobierens und ein entscheidendes Jahr für die Modernisierung der guten alten Hauptversammlung. Die virtuelle HV nach neuem Recht lässt Emittenten Gestaltungsspielräume, die es richtig zu nutzen gilt. Mehr Optionen bringen nicht nur frischen Wind, sondern „grundsätzlich auch mehr potenzielle Fehlerquellen mit sich“, weiß Klaus Schmidt, ADEUS-Geschäftsführer der ersten Stunde. Ein Gespräch über neue Techniken, Hürden in der Umsetzung und die große Chance für eine dauerhafte Akzeptanz zukunftsweisender HV-Formate bei den Aktionären.

GoingPublic: Herr Schmidt, die heiße Phase der Hauptversammlungen in Deutschland steht unmittelbar bevor. Mehrere Hundert Unternehmen werden bis Ende Juni ihre Aktionäre einladen – und nie war der Gestaltungsspielraum für Unternehmen in der Ausführung so groß. Ist das eine gute Entwicklung?

Klaus Schmidt: Das Hauptversammlungsjahr 2023 ist ein sehr spannendes. Wir erleben eine große Vielfalt, die den jeweiligen Gegebenheiten der Hauptversammlung und der Aktionärsstruktur Rechnung trägt. Das neue Gesetz zur virtuellen HV, das der Gesetzgeber im letzten Jahr im Eilverfahren verabschiedet hat, wird heuer umgesetzt. Gesellschaften und Aktionäre sammeln Erfahrungen. Die Präsenz-HV wird quasi in die virtuelle Welt gespiegelt, bei voller Gewährung aller Aktionärsrechte, anders als im Corona-Format. Nur wenige Gesellschaften nutzen weiterhin die Vorabphase zur Einreichung und Beantwortung von Fragen.

Insgesamt setzen zahlreiche, vor allem größere Häuser das neue Format ein, kleinere Gesellschaften kehren überwiegend zur Präsenz-HV zurück. Bereits heute lässt sich sagen: Die Möglichkeiten haben deutlich zugenommen. Ich sehe das als sehr positive Entwicklung des Formats der HV, das immer wieder als veraltet kritisiert wurde.

Aber schaffen zu viele Optionen womöglich auch mehr Fehlerquellen?

Klaus Schmidt ist seit der Gründung im Jahr 1999 Geschäftsführer der ADEUS Aktienregister-Service-GmbH

Mehr Optionen bringen grundsätzlich mehr potenzielle Fehlerquellen mit sich. Es gilt, sich den Herausforderungen der Modernisierung und Digitalisierung zu stellen. Dabei sind alle neuen Funktionalitäten und Prozesse gut zu durchdenken, sicher zu implementieren und eingehend zu testen. Es sind Marktstandards zu entwickeln, und dabei darf man die Aktionärsfreundlichkeit nicht aus dem Blick zu verlieren. Insofern wird es bei der Einführung wie bei jeder anderen neuen Technik zahlreiche Erfahrungen geben, aus denen Lehren zu ziehen sind.

Nach drei HV-Jahren unter den Umständen der Pandemie haben sich viele Unternehmen mit der vom Gesetzgeber 2020 kurzfristig erlaubten digitalen Übertragung der Versammlungen gut angefreundet – aber digital ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit dem, was nun die seit Sommer 2022 gültige Rechtsgrundlage für virtuelle Aktionärsversammlungen vorsieht. Was ist Ihrer Erfahrung nach die wichtigste Hürde, die Unternehmen hier nehmen müssen?

Die größte Hürde ist die Etablierung der elektronischen Kommunikation in beide Richtungen am HV-Tag. Kernstück ist die Zuschaltung von Aktionären im Wege der Videokommunikation, sodass diese Aktionäre wie bei einer klassischen Präsenz-HV vor der Verwaltung und den Aktionären sprechen sowie Fragen und Anträge stellen können. Das muss für den Aktionär leicht anwendbar sein, aber auch rechtssicher organisiert werden – und das bei Gewährung der Aktionärsrechte wie im Präsenzformat.

Welche weiteren Herausforderungen sehen Sie derzeit vor allem noch in Bezug auf die neue virtuelle HV?

In der Umsetzung dieser neuen virtuellen Gangart ist ein funktionierender virtueller Wortmeldetisch zu etablieren. Dieser administriert den Prozess der Zuschaltung per Videokommunikation in Bild und Ton – von der Ankündigung durch den Aktionär bis zu dessen eigentlichen Hereinschaltung in die HV. Dies geschieht so, dass die Belange aller Beteiligten, insbesondere der Aktionäre und des Versammlungsleiters, abgedeckt sind. Ein weiterer Aspekt ist die Aufstellung des Teilnehmerverzeichnisses der zugeschalteten Aktionäre, das auch hinsichtlich einer eventuellen Vollmachtserteilung, der Stimmrechtsausübung und Briefwahl sowie der Präsenz bzw. der vertretenen Aktien des stimmberechtigten Grundkapitals verständlich lesbar sein sollte.

Ob und für wie lange sich die virtuelle HV-Variante in Deutschland durchsetzt, hängt auch von den Satzungsregelungen ab, über die die Aktionäre ja gerade in der laufenden HV-Saison abstimmen bzw. eventuell auch den Vorständen ein entsprechendes Mandat zur Wahl der HV-Form erteilen. Können Sie hier bereits einen Trend erkennen?

Aktuell fahren die Emittenten auf Sicht. Die meisten Häuser bevorzugen eine entsprechende Satzungsermächtigung für zwei Jahre, um auch im Interesse ihrer Aktionäre weitere Erfahrungen mit dem neuen Format sammeln zu können. Der Gesetzgeber hat zwar eine Laufzeit von bis zu fünf Jahren vorgesehen, die aber aus meiner Sicht nur von wenigen ausgenutzt wird. Weiterhin ist zu prüfen, ob es Anpassungen der Satzung hinsichtlich des HV-Orts und der Zuschaltmöglichkeit von Aufsichtsratsmitgliedern bedarf.

Völlig unabhängig entwickeln sich auch die Beschlussformen weiter. Nach dem „Say on Pay“, also den Resolutionen von Aktionären für mehr Transparenz in der Darstellung der Vergütungspraxis der Führungskräfte in Unternehmen, geht es nun analog zur Nachhaltigkeitsdebatte z.B. um „Say-on-Climate-Beschlüsse“. In Deutschland konnten sich Investoren jedoch bislang mit solchen Ansinnen nicht durchsetzen. Wie sehen Sie hier die Entwicklung der Rechtslage für die Zukunft?

„Say on Pay“ gehört inzwischen zum Standardprogramm der Hauptversammlung. Mindestens alle vier Jahre muss nach ARUG II das Vergütungssystem den Aktionären zur Billigung vorgelegt werden. Über die Billigung des Vergütungsberichts wird jedes Jahr abgestimmt. Aus diesem Grund haben sich auch die Angaben in den HV-Einladungen deutlich verlängert, sodass es den Emittenten nach wie vor ein besonders wichtiges Anliegen ist, den elektronischen Versand von HV-Unterlagen zu fördern. Auch hier kann viel Papier eingespart werden.

Wir erleben eine stark zunehmende Diskussion von ESG-Themen in der Hauptversammlung wie auch in anderen Bereichen des politischen und öffentlichen Lebens. Vielen Aktionären, gerade Institutionellen und Aktionärsvereinigungen, wird dieser Themenkreis immer wichtiger. Die Erfüllung von Nachhaltigkeitszielen findet Eingang in die Vorstandsvergütung. Ob im weiteren Verlauf Umwelt- und Klimaaspekte herausgegriffen werden sollten und dazu auch eine separate Abstimmung unter der Überschrift „Say on Climate“ stattfinden sollte, ist auch unter Investoren umstritten. Zum einen handelt es sich um ein sehr komplexes Thema, zum anderen greift es unmittelbar in die Gesamtstrategie und Steuerung einer Unternehmung sowie deren wirtschaftliche Ausrichtung ein.

Verschiedene Investoren definieren aktuell ihren Standpunkt. Einige erwarten von Emittenten mit hohen Emissionen die Vorlage der Klimastrategie im Rahmen einer konsultativen Abstimmung. Insofern sollte zunächst die Lage beobachtet und Erfahrungswerte aus anderen Ländern bzw. von betroffenen Emittenten gesammelt werden.

Welche rechtlichen Spannungsfelder sehen Sie derzeit noch im Hinblick auf die Hauptversammlungen?

Ich sehe die Forderung nach Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitgliedern, die sich aktuell auf den Vorsitz des Prüfungsausschusses ausweitet. Das zeigt sich bei Wahlen in den Aufsichtsrat, aber auch bei Entlastungen, ähnlich wie beim „Overboarding“. Auch hier agieren einzelne Investoren und Stimmrechtsberater zunehmend strikter.

Das bestimmende Thema in diesem Jahr bleibt aber der Umgang mit der virtuellen HV. Schließlich geht es dabei auch um die weitere Perspektive und Modernisierung der Hauptversammlung.

Herr Schmidt, herzlichen Dank für die interessanten Einblicke und das Gespräch.

Das Interview führte Simone Boehringer.

Autor/Autorin

Simone Boehringer

Simone Boehringer ist die Redaktionsleiterin "Kapitalmarktmedien" der GoingPublic Media AG.