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Interview mit Olivier Neidhart, Verwaltungsratspräsident, Neidhart + Schön Group. Warum die Berichterstattung nach ESG-Prinzipien nur ein Einstieg ist in die Nachhaltigkeitstransformation von Unternehmen und was das in der Praxis bedeutet.

GoingPublic: Herr Neidhart, vor drei Jahren kannten viele Unternehmen vermutlich noch nicht einmal die Abkürzung ESG; nun werden ESG-Reports, also eine regelmäßige Finanzberichterstattung nach Nachhaltigkeitskriterien ab 2024 für zahlreiche börsennotierte Unternehmen in Deutschland Pflicht. Was sind die häufigsten Fragen, mit denen Sie zurzeit diesbezüglich konfrontiert werden?

Oliver Neidhart: Viele Fragen sind ganz praktischer Natur, drehen sich um den Aufbau des Berichts. Neu sieht die Corporate Social Responsibility Directive (CSRD) eine Abkehr von der bisherigen Möglichkeit vor, Nachhaltigkeitsinformationen über einen gesonderten Nachhaltigkeitsbericht zu veröffentlichen. Künftig sollen sowohl Finanz- als auch Nachhaltigkeitsinformationen gemeinsam im Management Report, also nach deutschem Recht im Lagebericht (vgl. § 289 HGB), veröffentlicht werden. Das verursacht neue organisatorische Herausforderungen. Allein aus zeitlichen Gründen erfolgt das Nachhaltigkeitsreporting heute noch oft zu einem späteren Zeitpunkt im Jahr.

Das klingt erst einmal nach mehr Arbeit für die Unternehmen. Wird die Berichterstattung durch die neuen Regeln auch komplizierter?

Neidhart: Nun, die Folgen und Auswirkungen unternehmerischen Handelns rücken mehr in den Blickpunkt. Eine große Fragestellung etwa dreht sich um das Prinzip der doppelten Materialität, wonach einerseits über die Auswirkungen von Nachhaltigkeitsthemen auf den Geschäftsverlauf, die Lage und das Ergebnis des Unternehmens zu berichten ist („Outside-in-Perspektive“), andererseits über die Auswirkungen der Geschäftstätigkeit auf Gesellschaft und Umwelt („Inside-out-Perspektive“). Viele Unternehmen fragen sich, wie sich die Auswirkungen verbindlich beschreiben lassen. Ebenso ist anspruchsvoll zu definieren, wie die Dokumentation, Quantifizierung und Messbarkeit von tatsächlichen oder potenziell schädlichen Auswirkungen erfolgen und dargestellt werden sollen – und dies im Zusammenhang mit der ganzen Wertschöpfungskette des Unternehmens.

Manchmal hat man das Gefühl, der ESG-Bericht ist fast schon wichtiger als das übrige Zahlenwerk der Unternehmen. Erleben wir hier gerade eine Übertreibung?

Neidhart: Wir nehmen nicht wahr, dass ESG wichtiger genommen wird als das Zahlenwerk. Sicherlich ist ESG aktuell das „heiße“ Thema, über das alle sprechen, aber das hat wohl mehr mit der Intensität von neuen Anforderungen zu tun, während das Zahlenwerk eher zum Standard gehört. Wir machen die Erfahrung, dass Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit und ESG-Strategien nicht mehr nur an kompostierbare Strohhalme denken, sondern Nachhaltigkeit tiefgehend in ihren Geschäftstätigkeiten, Prozessen, Produktentwicklungen, Abläufen und Strategien verankern. Sie investieren also viel Zeit, Geld und Ressourcen, um den Aspekt der Nachhaltigkeit ernsthaft in ihre Kernstrategien einzubinden. Dies erklärt, weshalb das Thema omnipräsent ist. Viele Unternehmen verstehen das ESG-Reporting mittlerweile durchaus als Instrument, um Investoren und Finanzmittel für sich zu gewinnen.

Wo liegen die größten Hürden für Neulinge auf dem Weg zu einer guten ESG-Berichterstattung?

Neidhart: Die prozessualen Anpassungen sind erheblich – insbesondere wenn es darum geht, wiederholbare und vergleichbare sogenannte Key Performance Indicators (KPIs) zu definieren, zu etablieren, zu dokumentieren und zu konsolidieren. Die Prozesse rund um die Finanzkennzahlen haben sich über viele Jahre weiterentwickelt, Gleiches gilt es nun, für das ESG-Reporting zu erreichen. Auf das Reporting spezialisierte Publishingsysteme können da unterstützend wirken.

Welchen Vorlauf benötigen Unternehmen, um ESG-fit zu werden, und wie ist das Vorgehen normalerweise?

Neidhart: In wenigen Monaten ist das Fitnessprogramm nicht zu realisieren, es ist eher ein Marathon als ein Sprint. Ein erster Schritt kann darin bestehen, das bereits im Unternehmen vorhandene, meist reichhaltige Datenmaterial zu sammeln und zu strukturieren. Startpunkt könnten Informationen zu ökologischen Themen wie auch Informationen aus der Personalabteilung für soziale Themen darstellen. Ebenso überlegenswert ist die Schaffung einer Stelle für Nachhaltigkeitsmanagement. Der Aufbau des ESG-Reportings kann dann als Katalysator dienen, um die Themen aufzubereiten und sichtbar zu machen.

Ist ESG-Berichterstattung notwendigerweise Chefsache oder existieren Alternativen? Gerade in mittelständischen Unternehmen müssen schließlich vor allem die Geschäftsführer ihre Ressourcen stark priorisieren.

Neidhart: Nach dem politischen Willen des europäischen Gesetzgebers soll sich die Befassung mit Nachhaltigkeitsfragen bewusst nicht in der formalen Erfüllung der Berichtspflichten erschöpfen, sondern in der Reflexion auf höchster Leitungsebene. Dies soll Unternehmen veranlassen, darüber nachzudenken, wie Nachhaltigkeit über die formale Berichtspflicht hinaus materiell in die strategische und wirtschaftliche Ausrichtung des Unternehmens eingewoben werden kann. Wesentliche Instrumente für diesen politisch gewollten Transformationsprozess sind weiterhin der über die Publizitätspflicht erzeugte Druck der (Kapitalmarkt-)Öffentlichkeit und der hieraus folgende Rechtfertigungsdruck für nicht-erwartungskonformes Verhalten. Somit erhält die CSRD eine ganzheitliche Bedeutung für Unternehmen – denn es geht letztlich um eine Nachhaltigkeitstransformation, die alle Bereiche der Geschäftsführung umfasst: Produktangebot, Geschäftspartnerbeziehungen, Investitionskriterien, Konzern-, Führungs-, Risikomanagement- und Informationsstrukturen, Finanzierung und Führungskräftevergütung.

Also wird es ohne Chefetage nicht gehen.

Neidhart: Ja, ESG-Reporting ist Chefsache. Allerdings in dem Sinne, dass dort die Sinngebung und der Umsetzungswille ausgesprochen werden – die Umsetzung in der Organisation sowie die Realisation der Berichte können und sollen in den Teams stattfinden und damit eine breite Abstützung in der Organisation erfahren. ESG-Reporting ist damit ein bedeutsamer Treiber der Sustainability Transformation.

Welche Branchen sind in Sachen ESG besonders weit vorne? Wo besteht Nachholbedarf?

Neidhart: Historisch investieren Branchen wie die Chemieindustrie oder die Energiewirtschaft seit vielen Jahren im Bereich der Ökologie. Vielerlei Branchen und Unternehmen orientieren sich an den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen (UN SDG). Die Finanzindustrie wird schon länger in puncto ESG reguliert, doch eine breitflächige bewusste Orientierung an systematisch aufbereiteten Daten entlang der ESG-Logik ist – und das kann man unserer Meinung nach durchaus so sagen –eine Erscheinung der 2020er-Jahre.

Mittlerweile können sich Unternehmen an unzähligen ESG-Rankings und -Ratings orientieren – oder auch nicht. Was empfehlen Sie?

In der Tat dienen ESG-Ratings bei Anlegern oft als nützliche Informationsquelle und werden als eine Art „Gütesiegel“ wahrgenommen. Ähnlich wie bei der Kreditwürdigkeit oder einem Anleiherating zeigen die für die Ratings bzw. Rankings beigezogenen Scores die Fähigkeit eines Unternehmens, seinen ESG-Verpflichtungen nachzukommen, sowie seine Leistung und sein Risiko an. Die von Drittanbietern vergebenen ESG-Scores werden auf Basis einer Reihe von ESG-Metriken berechnet und jede dieser Agenturen verwendet eine andere Reihe von Bewertungskriterien. Zu nennen sind MSCI, Dow Jones, ISS ESG, Bloomberg, V.E: Moody’s, Sustainalytics, CDP usw. Was auch immer man von den einzelnen Ratings und Rankings hält, eines ist sicher: Unter dem Strich wird erhebliches Kapital durch ESG-Ratings beeinflusst.

Wagen Sie eine Prognose: Welche ESG-Kriterien werden sich als Standards durchsetzen, welche eher nicht und warum?

Ich denke, dass wir das ESG-Reporting nicht auf einzelne Kriterien reduzieren können. Es geht um das große Ganze. Wir Unternehmen sind gut beraten, die Verschärfung der rechtlichen Berichtsanforderungen durch die CSRD nicht als „weiches Trendthema“ oder weitere bürokratische Checklistenanforderung zu unterschätzen. Wer frühzeitig erkennt, wie weitreichend die CSRD eine Sustainability Transformation für die gesamte Wertschöpfungskette und für die Unternehmenskultur ganzheitlich fordert, ist in der Lage, sich als First Mover eines nachhaltigen Geschäftsmodells global am Markt zu positionieren.

Herr Neidhart, vielen Dank für das Interview.

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Autor/Autorin

Olivier Neidhart

Olivier Neidhart verantwortet als Verwaltungsratspräsident die Internationalisierung der Neidhart + Schön Group AG mit ihrer Tochtergesellschaft mms solutions (mms).