Bewertung

Anders als nun das OLG hatte das LG den konkreten Fall richtig entschieden, wenn auch die Begründung, dass grundsätzlich eine HV, die auf ein Minderheitsverlangen hin einberufen wurde, nur bei Rücknahme des Einberufungsverlangens oder bei Vorliegen äußerer Einflusse, die eine sachgerechte Durchführung der HV verhindern würden, wieder abgesagt werden kann, jedenfalls diskussionswürdig ist.

Maßgeblich für die Wirksamkeit der Absage durch den Einberufenden sind deren Zeitpunkt und das Fehlen von Umständen, die die Absage rechtsmissbräuchlich machen. In der Literatur wird überwiegend formuliert – und darauf hat sich auch das OLG gestützt – dass die Einberufung bis zur „förmlichen Eröffnung“ der HV, die durch den Versammlungsleiter erfolgt, vom Einberufenden zurückgenommen werden kann; zum Teil wird auf den „Beginn der Hauptversammlung“ abgestellt. Eine Unterscheidung dieser Begrifflichkeiten wird jedoch nicht näher problematisiert. Des Weiteren wird in der Literatur – insoweit jedenfalls zutreffend – gefordert, dass die Absage so erfolgt, dass die Aktionäre bestmöglich bzw. rechtzeitig Kenntnis nehmen können.

Der HV-Begriff des Aktiengesetzes ist dualistisch: Zum einen bezeichnet er das verbandliche Mitgliederorgan, zum anderen das organisationsrechtliche Element der Versammlung der Aktionäre. Bei der Hauptversammlung als tatsächlichem Geschehen handelt es sich um die Zusammenkunft der Aktionäre als Verbandsmitglieder zwecks Ausübung ihrer Mitgliedschaftsrechte an dem in der Einladung bestimmten Ort zu der dort bestimmten Zeit. Die HV hatte daher im vorliegenden Fall der Zusammenkunft der Aktionäre auf eine formgerechte Einladung hin am dort angegebenen Ort zur dort angegebenen Zeit mit dem Eintritt der angegebenen Uhrzeit um 11.00 Uhr begonnen. Eine solche tatsächliche Zusammenkunft der Aktionäre wird nicht (erst) dadurch zur Hauptversammlung, dass ein Versammlungsleiter die Worte: „Ich eröffne die Hauptversammlung“ spricht. Eine im Gesetz nicht genannte und vorgesehene „förmliche Eröffnung“ durch einen (ggf. provisorischen) Versammlungsleiter mag Voraussetzung für den weiteren prozeduralen Verlauf und für Beschlussfassungen sein, kann aber keinesfalls konstitutiv für eine Hauptversammlung als tatsächlicher Aktionärsversammlung sein. Der in der Hauptversammlungseinladung mitgeteilte Termin stellt daher bei Erscheinen von Aktionären einen „point of no return“ für den Einberufenden dar, zu dem die Hauptversammlung bei Erscheinen von Aktionären beginnt bzw. in Existenz tritt und sich damit quasi selbst eröffnet. Zum Zeitpunkt der vom Geschäftsführer mitgeteilten Absage um 11.10 Uhr bestand daher bereits die HV mit der Kompetenz zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten, so dass eine Absage der HV durch Erklärung des Einberufenden keinesfalls mehr (wie von der Literatur zu Recht gefordert) rechtzeitig und wirksam möglich war, sondern jedenfalls eines Beschlusses der HV bedurft hätte. Die Entscheidung des OLG steht damit im Widerspruch zum Selbstorganisationsrecht der Hauptversammlung.

Vorliegend war die Absage zehn Minuten nach dem in der Einladung angegebenen Zeitpunkt überdies auch aufgrund der besonderen Umstände gemäß § 242 BGB rechtsmissbräuchlich und daher unbeachtlich. Die Absage der HV ist den Aktionären erst mitgeteilt worden, nachdem die Präsenzerfassung abgeschlossen und die Aktionäre mit Stimmkarten ausgestattet waren und somit erst zu einem Zeitpunkt als für die Komplementärin klar war, dass eine Stimmenmehrheit der die Einberufung verlangenden Aktionärin bestand.

Entgegen der Auffassung des OLG stellt eine pflichtwidrige Absage im Außenverhältnis keine wirksame Absage dar. Die Rechtswidrigkeit muss auf die Frage der Wirksamkeit durchschlagen, da ansonsten der Aushebelung der Rechte der Hauptversammlung und der Aktionäre Tor und Tür und geöffnet wäre. Eine rechtswidrige Absage ist unwirksam und unbeachtlich.

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