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Am Anfang stand die Klimaschutzvision der Vereinten Nationen von 2015. Daraus hat die Europäische Union Ende 2019 den Green Deal abgeleitet, eine Wachstumsstrategie für ein ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltiges Europa. Jetzt sind die Unternehmen dran: Zum 1. Januar 2024 ist die verpflichtende Einführung der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) geplant. Ein Gespräch über die Genese dieser großen Transformation und ihre operativen Folgen.

Zu den Interviewpartnern: Dr. Joëlle Loos-Neidhart ist Verwaltungs­rätin der Neidhart + Schön Group und beschäftigt sich als Initiatorin der Studie „Online-Reporting-Perspektiven“ und Co-Ini­tiantin des Geschäftsberichte-Sympo­siums sowie von „The Reporting Times“ mit den Trends und Entwicklungen im Corporate Reporting. Olivier Neidhart verantwortet als Ver­wal­tungsratspräsident die Internatio­nalisierung der Neidhart + Schön Group AG mit ihrer Tochtergesellschaft mms solutions (mms).

GoingPublic: Frau Dr. Loos-Neidhart, kürzlich bemerkte jemand im Gespräch mit GoingPublic, man solle doch nicht immer so explizit nach ESG fragen. Dies zu implementieren gehöre als integraler Bestandteil zur Berichterstattung. (Was) muss uns Journalisten das zu denken geben?

Dr. Loos-Neidhart: Tatsächlich weist ­diese Bemerkung auf große Entwicklungen hin, allein wenn man berücksichtigt, dass gemäß der neuen CSRD in der EU Tausende Unternehmen neu einen Nachhaltigkeitsbericht werden veröffentlichen müssen. Aktuelle Schätzungen nennen bis zu 50.000 Unternehmen. Das ist ein ziem­licher Berichtstsunami, der da auf uns ­zurollt.

GoingPublic: Dabei ist es gerade einmal sieben Jahre her, dass die Vereinten Nationen das nachhaltige Wirtschaften auf die Agenda genommen haben. Und die Erkenntnisse, u.a. des Club of Rome, zu den Notwendigkeiten stammen ja schon aus den 1970er-Jahren.

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Neidhart: Der Club of Rome hat uns die Grenzen des Wachstums in seinem ­Bericht von 1972 bereits vorgestellt. ­Daher stammt auch der Ausdruck des „ökolo­gischen Fußabdrucks“. Das große Problem bisher liegt darin, dass CO2 nichts kostet und ­damit kein schmerzhafter Druckpunkt vorliegt, etwas zu ändern. Nun zwingt uns die Klimakrise zu handeln; und so stehen die Unternehmen in Europa vor einer ­großen nachhaltigkeitsorientierten Transformation, die sie auch noch ungewohnt zügig umsetzen müssen. Stärker denn je stehen sie in der Verantwortung, ihr Tun in Bezug auf die Verträglichkeit mit der Gesundheit unseres Planeten, ­unserer Umwelt und der involvierten Menschen kritisch zu hinterfragen, weiter­zuent­wickeln und darüber verbindlich zu ­berichten.

Abb. 1: Strategie und Timing zur Umsetzung von Nachhaltigkeit. Zum Vergrößern bitte auf das Bild klicken. Quelle: mms solutions ag, 2022, Konzepte ESG-Reporting

GoingPublic: Viele Unternehmen berichten heute schon, insbesondere im Bereich Ökologie. Nun will die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) mit den European Sustainability Reporting ­Standards (ESRS) neue Anforderungen setzen. Was bedeutet dies?

Dr. Loos-Neidhart: Noch ist die Situation in der Tat unübersichtlich. Die Regulatoren entwickeln Gesetzesvorlagen und ­Taxonomien. Die Standardsetzer arbeiten noch an verbindlichen Standards. Die ­Unternehmen beziehen sich daher heute auf diverse Frameworks, z.B. den etablierten GRI-Standard. Eine Einschätzung und Vergleichbarkeit der Informationen über sämtliche Non-Financials ist aktuell trotz vorhandener Frameworks noch immer schwierig; insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Nachhaltigkeitsberichte noch kein allzu großes Vertrauen genießen. Die neuen Standards sollen hier dank guter Vergleichbarkeit Abhilfe schaffen.

GoingPublic: In der Tat, es ist eine komplexe Ausgangs­lage mit vielen Parteien. Wo stehen die Unternehmen Ihrer Einschätzung nach in dieser Gemengelage?

Neidhart: Der Blick auf die Rollen der ­Akteure im ESG-Ökosystem vergegenwärtigt das Spannungsfeld, in dem sich Unternehmen aktuell befinden: auf der einen Seite die komplexen gesetzlichen Vorgaben und neuen Berichtsstandards, die es zu verstehen und zu implementieren gilt; auf der anderen Seite die unterschiedlichen Erwartungen der Anspruchsgruppen an eine transparente und verständ­liche Offenlegung der ESG-Informationen. Diese herausfordernde Aufgabe akzentuiert sich, wenn man bedenkt, dass neue Kompetenzen, neue Prozesse und neue Systeme eingeführt werden müssen.

Abb. 2: Sandwichposition: Unternehmen zwischen Gesetzesvorgaben und Ansprüchen der Stakeholder Zum Vergrößern bitte auf das Bild klicken. Quelle: mms solutions ag, 2022, ESG-Ökosystem

GoingPublic: Es ist durchaus zu erwarten, dass nicht alle Unternehmen rechtzeitig bereit sein werden. Rechnen Sie mit Konsequenzen?

Dr. Loos-Neidhart: Noch ist Zeit. Mit ­Inkrafttreten der CSRD zum 1.Januar 2024 wird es nicht sofort Strafen hageln. Gegenwärtig, also unter der NFRD sind in Deutschland rund 500 Unternehmen von den Reportinganforderungen betroffen. Neu würden rund 15.000 Unternehmen ­gesetzlich verpflichtet. Auch in Österreich werden zahlreiche Unternehmen betroffen sein. Bei dieser großen Grundgesamtheit ist natürlich damit zu rechnen, dass manche Unternehmen eine rechtzeitige Umsetzung nicht schaffen werden.

GoingPublic: Das sagen Sie so einfach. Was können Firmenchefs denn jetzt mindestens tun, um noch auf den Zug aufzuspringen?

Neidhart: Es geht vor allem darum, die Prozesse im Unternehmen so umzustellen, dass eine effiziente Zusammenarbeit zwischen datenkundigen Finanzteams und ESG-Teams unterstützt wird. Damit die Mitarbeitenden ihren Weg finden und auf den Prozess vertrauen, ist eine nahtlose Integration von Menschen, Prozessen und Daten unerlässlich. Unterstützende Systeme spielen dabei eine zentrale Rolle. Wie immer in Umbruchsituationen sind Entscheidungen, Führung und begleitende Kommunikation gefragt. Bei der Ausführungsverantwortung wird die Rolle der Finanzabteilung in den kommenden Jahren zu beobachten sein. Aufgrund ihrer ­erprobten Kompetenzen in den Bereichen Analyse, Datenaufbereitung, ­Umsetzung der Finanzstandards und ­systemgestütztes Reporting ist ihre Involvierung auch in Sachen Nachhaltigkeit ­naheliegend. Zudem unterstützen moderne Publishingsysteme dabei, die neuen Anforderungen an das ESG-Reporting effizient zu realisieren und die Umsetzung mit dem herkömmlichen Finanzreporting zu integrieren.

GoingPublic: Die Visionen der Vereinten Nationen sozusagen in a Nutshell. Danke sehr für Ihre Zeit und die Tour d‘Horizon zu diesem sehr wichtigen Thema.

www.nsgroup.ch/de/
www.mmssolutions.io/de/

Das Interview führte Simone Boehringer.

Autor/Autorin

Simone Boehringer

Simone Boehringer ist die Redaktionsleiterin "Kapitalmarktmedien" der GoingPublic Media AG.