Seit 1. Juni 2022 verantwortet John Klein das Equity Research bei der Investmentbank Bryan, Garnier & Co. Er ist angetreten, um mit einem Team von 25 Fachanalysten ausgewählte Wachstumssektoren ganz und gar zu covern, auch im umfassenden Bereich der nicht börsennotierten Unternehmen – das gilt für die Branchen Healthcare, Technologie sowie für Consumer- und Business-Services.  Ein Gespräch über die Zeitenwende am Kapitalmarkt, die Aussichten für Newcomer an der Börse und die Investmenttrends 2023 ff.


 

GoingPublic: Herr Klein, die Börsen waren sehr volatil im vergangenen Jahr – besteht hier eine Chance auf ruhigere Zeiten?

John Klein: Ja, ganz klar. Die Inflationsraten sind zuletzt deutlich niedriger als erwartet ausgefallen. Wir hatten anfangs einen Basiseffekt, einen starken Anstieg der Gas- und anderen Energiepreise. Mittlerweile hat sich die Lage stabilisiert. Natürlich läuft es wirtschaftlich nicht rund, und die geopolitischen Verwerfungen tun ihr Übriges – aber wir sehen nach dem sehr volatilen Jahr 2022 ein etwas ruhigeres Fahrwasser vor uns. Die Frage ist natürlich nun, ob das über das gesamte Jahr so bleibt.

Wovon hängt es ab?

Es hängt vor allem an den Unwägbarkeiten der geopolitischen Lage, insbesondere natürlich des weiteren Kriegsverlaufs in der Ukraine. Falls der Krieg plötzlich vorbei wäre, bekämen wir an den Börsen sicher eine Kursrally, nur ist schwer zu sagen, wie nachhaltig diese dann wäre. Momentan preist der Markt weder Frieden ein noch eine Eskalation. Außerdem ist natürlich eine länger andauernde Rezession infolge steigender Leitzinsen nicht auszuschließen. Ob es wirklich so weit kommt, wird sich auch daran zeigen, wie schnell sich Inflationsraten wieder innerhalb des Zielkorridors befinden. Dann mindert sich der Druck für weitere fiskalpolitische Maßnahmen, also Zinserhöhungen. Hier spielt auch der Arbeitsmarkt eine Rolle, also Lohn- und Gehaltssteigerungen sowie das Verhältnis von offenen Stellen zu Arbeitssuchenden.

Welche Entwicklungen und Ereignisse sind relevant für das Börsengeschehen im ersten Quartal 2023?

Wie angedeutet, können Zinsentscheidungen eine große Rolle spielen. Einige Marktteilnehmer glauben, dass die Zentralbanken hilfreicher sein könnten als momentan, sprich, ihre Zinspolitik anders moderieren. Das würde reichen, um an den Kapitalmarkt ein positives Signal zu senden. Es wäre ein Signal, dass die Zentralbanken wieder umschwenken von einem Schadensbegrenzungs- in einen Wachstumskurs. Wie wir alle wissen: Schon Nuancen im Wording der Zentralbanker können hier einen immensen Effekt haben. Da die Kommunikation der EZB in den letzten Monaten aber nicht immer ganz konsistent war, ist es schwierig, hier eine exakte Prognose zu wagen.

Aber es geht doch um Inflationsbekämpfung – also müssten gemäß dem Auftrag der Zentralbanken doch weitere Zinssteigerungen folgen?

 Ich beziehe mich in meiner Argumentation in erster Linie auf die Federal Reserve, und die trägt für die US-Wirtschaft neben der Preisstabilität auch noch Verantwortung für das Wirtschaftsgeschehen im Land. Konkret muss sie auch die Stabilisierung der Beschäftigung im Auge behalten. Wenn also die Inflation einigermaßen im Griff ist, wird sich die Fed tendenziell den anderen Zielen widmen. Und die EZB und andere Zentralbanken folgen ja sehr häufig dann diesem Kurs der Leitbank Fed. Außerdem ist es ja so, dass das Mandat der EZB zwar auf Preisstabilität ausgelegt ist, aber ihre Entscheidungen natürlich wirtschaftliche Konsequenzen haben.

Das stimmt natürlich. Die Frage ist, was das dann für die Preisentwicklung, aber auch für die Aktienkursentwicklung in Europa bedeutet.

Die Stimmung am Markt ist gar nicht so schlecht, wie man an den ersten Wochen gesehen hat. 2022 ist vorbei und abgeschrieben. Wir hatten einen multiplen Schock zu verkraften: Krieg, Zinswende, am Ende Inflation aufgrund der Energiekrise. Jetzt suchen die Investoren nach neuen Ideen. Vergessen Sie nicht: Viele der heute aktiven Marktteilnehmer kennen noch gar keine nennenswerten Zinsniveaus. Sie sind mit der Nullzinspolitik groß geworden und müssen sich in ihren Aktionen erst wieder daran gewöhnen, dass Geld wieder Geld kostet; sie müssen lernen, mit der Zinsentwicklung an den Börsen zu leben, sprich sie angemessen zu berücksichtigen. 2023 startet sozusagen mit neuen Realitäten.

Diese Realität steigender Zinsen hat sich ja schon ausgewirkt, der beschriebene Gewöhnungseffekt bedeutete Kursverluste an den Aktienmärkten.

Das war eine erste Reaktion. Aber die Vorzeichen am Anfang dieses Jahres sind andere. Man will trotz steigender Zinsen Erfolg haben – d.h., auch bei Wachstumsinvestments brauche ich jetzt wieder eine angemessene Rendite auf das eingesetzte Kapital; es gilt ja erst einmal, die Kapitalkosten wettzumachen. Das ist für viele wie ein Reset im Denken und Bewerten.

Was heißt das konkret?

Es geht nicht mehr primär um Umsatzwachstum, sondern auch wieder um den Gewinn, um das Ebitda. Jeder Unternehmer und Investor weiß: Ich muss unbedingt schnell profitabel sein – auch für Börsenkandidaten gilt das. Investoren fordern einen Businessplan, aus dem klar hervorgeht, ab wann ein Unternehmen Cashflow positiv ist. Das war vor der Zinswende lange nicht so, da hieß es eher, wie sind die Umsatzaussichten, um Gewinn wird sich dann später gekümmert. Die veränderten Rahmenbedingungen gelten seit Anfang 2022, daher ist vor allem auch der Techbereich so stark abgesunken in der Bewertung generell und an den Börsen.

Könnte ein Kriegsende in der Ukraine ein Game Changer sein für die relevanten Rahmengrößen wie Inflation, Zinsniveau, Stimmung auch für IPOs?

 Was ich eben ausgeführt habe, gilt auch für den IPO-Markt. Ergänzend ist zu sagen: Der  Primärmarkt war gar nicht komplett geschlossen und ist auch nach wie vor offen – bis auf wenige Monate Anfang 2020 im ersten Pandemieschock, da ging wirklich nichts.

Also eine ähnliche Reaktion wie beim Schock nach der Lehman-Pleite 2008 …

… Es besteht ein großer Unterschied zur Krise 2008/09: Der Markt besinnt sich derzeit auf fundamentale Bewertungsgrundsätze, er re-adjustiert sich, Unternehmen müssen cashflowpositiv sein oder schnell werden, wie gesagt. Techunternehmen jedoch zeichnen sich anfangs vor allem durch unprofitables Wachstum aus. Sie müssen sich nun unter den momentanen Rahmenbedingungen auf eine längere Periode, einen längeren Reifeprozess einstellen. Es gilt jetzt am Kapitalmarkt, was bis vor der Asset Bubble galt – und diese Blase begann schon lange vor 2020, da kam bloß die Pandemie dazu.

Seit wann sehen oder sahen Sie abnormale Entwicklungen am Markt?

 Es war doch klar, dass Geld nach zehn Jahren Nullzins, also Leitzinsen von oder nahe null, teils fehlallokiert wurde: Geld ging in teils überhitzte Immobilienmärkte, in Bitcoin, Kryptoinvestments aller Art, NFTs. Dieser ganze Hype kam im Aktienmarkt 2020/21 an – da haben  dann auch Retailinvestoren fast alles gekauft. Jetzt kommt die Neubewertung. Es findet eine gewisse Bereinigung und eine Normalisierung der Bewertungen statt. Diese Anpassung findet natürlich auch bei nicht börsennotierten Unternehmen statt, die beispielsweise von Venture-Capital-Fonds gehalten werden. Hier sehen wir einen gewissen „Stau“ an Unternehmen im Tech- und Softwarebereich vor einem IPO, die vielleicht 2020 und 2021 noch zu weitaus höheren Bewertungen Geld eingesammelt haben.

Was raten Sie vor diesem Hintergrund Ihren kapitalmarktorientierten Unternehmen und Kunden? Sollen Sie unbeirrt geplante Kapitalmaßnahmen vorbereiten oder lieber abwarten?

Ich denke, der Markt ist offen für gute, reife Kandidaten. Der Bewertung halber lohnt es sich eventuell für den ein oder anderen abzuwarten – das ist dann aber im Einzelfall und je nach Branche und eigenem Reifeprozess zu entscheiden. Wir werden in diesem Jahr keine krassen Überbewertungen wie 2021 und 2022 mehr sehen, aber wer neu an die Börse will, sollte hervorragend vorbereitet sein.

Das klingt anspruchsvoll?

Man kann ein IPO nunmal nicht übers Knie brechen – es muss eine gute Equity Story vorliegen, die man präsentiert und die auch klar zeigt, wie positiver Cashflow und Ebitda erreicht werden kann – Wachstum allein genügt nicht. Hier kommt die Beratung durch eine spezialisierte Investmentbank ins Spiel. Das gilt auch und insbesondere im Techbereich, wobei hier der Fokus der Investoren rund um die Aspekte Sustainability, Energy Transaction, Elektrifizierung liegt. Es werden allein für den Auf- und Ausbau von Ladestationen für E-Autos in Europa Unsummen benötigt, um nur einen Trend zu nennen. Wenn wir die gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit, wie den Klimawandel, effizientere Ressourcennutzung, teils negatives Bevölkerungswachstum, stemmen wollen, dann bedarf dies einer enormen Kapitalallokation. Der Markt ist bereit, zukunftsweisende Geschäftsmodelle zu finanzieren.

Welche weiteren Branchen und Technologien sehen Sie im Fokus?

Wie angeführt, sind wir sehr optimistisch, was den Ausbau der Elektrifizierungsinfrastruktur angeht. Alle Recyclingtechnologien werden profitieren, Maschinenhersteller für Müllsortierung, der ganze Carbonmarkt, Carbon Capture und Lagerung ist gefragt, ebenso wie Wasserstofftechnologien, alle Prozesse und Technologien, die unsere Industrieprozesse grüner machen, sind begehrt bei Investoren. Aber auch im Bereich Digital Assets und im Weltraum passiert viel. Es gibt einen riesigen Markt für kommerzielles Weltraumgeschäft. Die Investitionszeiträume liegen hier allerdings bei zehn Jahren und mehr.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung?

Derzeit erleben wir auf diesem Gebiet die Hochphase für Digitalisierungsprozesse, die häufig bereits vor zehn Jahren initialisiert wurden. Vor allem im IT-Bereich haben die Dienstleister randvolle Auftragsbücher. Die Unternehmen gehen das jetzt endlich an, sie haben Kostendruck, müssen rationalisieren; das geht teils gut über eine Digitalisierung von Prozessen. Und dieser Trend wird auch nicht aufhören, wenn es wirtschaftlich schlechter laufen sollte – im Gegenteil: Eine solche Entwicklung würde die Digitalisierung nur noch beschleunigen.

Welche Rolle spielt für Sie das Nachhaltigkeits-/ESG-Thema vor dem Hintergrund der diversen Krisenszenarien (Energieknappheit, Lieferengpässe, Stagflation)?

Stagflation? Hatte ich zunächst für Deutschland befürchtet, aber wir haben mehr als eine Million junge Leute durch Migration dazubekommen – die Voraussetzungen für die Wirtschaft haben sich damit verändert. Wir hatten im letzten Jahr eine Krise im ESG-Investing – jetzt ist dieser Bereich knallhart reguliert worden, Stichwort ist hier die EU-Taxonomie, und alles muss mit Daten hinterlegt werden, die Artikel-neun-Fonds haben starke Zuflüsse verzeichnet. Hier gilt dasselbe wie bei der Digitalisierung: Das ESG-Thema wird nicht einfach weggehen, wenn es ökonomisch mal schlechter läuft, es werden eher die Unternehmen irgendwann verschwinden, die nicht nachhaltig wirtschaften. Auch wenn die EU-Taxonomie ein wenig über das Ziel hinausgeschossen ist, was das Reporting angeht, welches viel zu aufwendig und für viele Unternehmen mit großen Kosten verbunden ist: Die Sache an sich, also der Zwang und auch der Wille zur Umgestaltung der Produkte und Prozesse zu einem durchweg nachhaltigen Wirtschaftssystem, bleibt und wird die Richtung an den Kapitalmärkten bestimmen.

Herr Klein, herzlichen Dank für diese Einblicke und Ihre klaren Statements zu den Entwicklungen in diesem Jahr.

Das Interview führte Simone Boehringer.

 

ZUM INTERVIEWPARTNER

John Klein leitet das Equity Research bei Bryan, Garnier & Co. in Paris. Zuvor war er u.a. bei Zalando in Berlin und bei der Hamburger DTCP im Bereich Investor Relations tätig. Als Partner in der unabhängigen Kapitalmarktberatung Feros Advisers beriet er mehrere Jahre lang europäische Small- und Mid Caps. Bis 2016 leitete er das Chemieaktienresearch bei Berenberg in London. Er ist Diplom-Volkswirt und hat einen Master in Finance.

 

Autor/Autorin

Simone Boehringer

Simone Boehringer ist die Redaktionsleiterin "Kapitalmarktmedien" der GoingPublic Media AG.